»Wir brauchen eine politische Lösung für Gaza«
Sie haben den Dienst in der israelischen Armee eigentlich 2017 quittiert und die Leitung der internationalen Beziehungen der Histadrut übernommen. Wie kam es, dass Sie zu den Streitkräften zurückgekehrt sind? Hat man Sie als Reservist dazu verpflichtet?
Am 7. Oktober 2023 war es für mich gar keine Frage, dass ich zu den IDF zurückgehe. Ich stand mit meiner Frau vor dem Fernseher, wir sahen die Paraglider, die aus Gaza über den Zaun nach Israel kamen. Sie schaute mich an und sagte: »Die kommen, um uns zu jagen.« Da habe ich sofort meine Einheit angerufen und gesagt: »Ich habe zwar ein paar Haare verloren und bin etwas dicker geworden, aber wenn ihr mich braucht, bin ich da.« Sie haben kurz überlegt, weil ich in den letzten Jahren politisch in Erscheinung getreten bin. Aber drei Tage später war ich wieder im Amt des Pressesprechers. Ich habe insgesamt 360 Tage als Reservist gedient und war fast zwei Jahre lang in meiner Funktion. Heute würden sie mich wahrscheinlich nicht so gerne vor die Kamera stellen.
Inzwischen sind Sie ein scharfer Kritiker des militärischen Vorgehens. Warum?
Ich bezeichne die jetzt geplante Wiederbesetzung des Gaza-Streifens durch Israel als eine moralische und strategische Sackgasse. Der Fünfpunkteplan sieht unter anderem die Entwaffnung der Hamas und die Rückführung der Geiseln vor, aber eben auch diese erneute Besetzung. Eine Demilitarisierung von Gaza kann man nicht nur durch Zwang erreichen. Es braucht regionale Diplomatie und internationale Koordination. Außerdem soll dem Plan zufolge eine legitimierte palästinensische Regierung ohne die Hamas und ohne die palästinensische Autonomiebehörde gebildet werden, die dann auch noch von den Leuten dort akzeptiert und nicht als Kollaborateur mit Israel verstanden wird. Das entbehrt doch jeglicher Logik.
Was bedeutet das für die Geiseln?
Durch eine militärische Eskalation werden Verhandlungen über die Geiseln unmöglich gemacht. Wir brauchen eine politische Lösung – nicht diesen Plan für »israelische Sicherheitskontrolle des Gaza-Streifens«, der eigentlich einen Euphemismus für die Wiederbesetzung oder gar Wiederbesiedlung darstellt. Die israelischen Soldaten hätten dann eine unmögliche Aufgabe: Sie wären täglich in Lebensgefahr und mittendrin in einer unlösbaren humanitären Krise. Das haben wir doch schon einmal erlebt. Wir haben Gaza 2005 verlassen, eben weil es untragbar für uns war. Was hat sich geändert, dass es jetzt tragbar sein soll?
Viele Israelis haben Angst, dass dieses Vorgehen Israel noch stärker in eine internationale Isolation treiben wird.
»Zurzeit wird viel über die Anerkennung eines palästinensischen Staats gesprochen. Aber der Fokus sollte erst einmal darauf liegen, wie dieser Staat überhaupt aussehen könnte.«
Deutschlands Entscheidung, die Waffenlieferungen nach Israel einzustellen, ist nur die Spitze des Eisbergs. Wenn Israel wirklich bei diesem Plan bleibt, werden wir mit einer beispiellosen Eskalation diplomatischer Gegenreaktionen, wirtschaftlichen Drucks und wachsender Enttäuschung der Öffentlichkeit in genau den Ländern konfrontiert sein, deren Unterstützung wir am dringendsten benötigen. Bundeskanzler Friedrich Merz hat deutlich gemacht, dass Deutschlands Priorität die Freilassung der Geiseln und die Erreichung eines Waffenstillstands ist. Das ist kein Akt der Feindseligkeit, es ist ein Warnhinweis, den uns ein Freund gegeben hat.
Was wäre denn Ihre Vorstellung, wie es mit Gaza weiter gehen könnte?
Die größte Herausforderung ist, dass so viele junge Menschen in Gaza leben, die gar nichts anderes kennen als die Hamas. Sie brauchen eine Reeducation, aber auch erst einmal die Perspektive, dass eine bessere Zukunft für sie möglich ist. Zurzeit wird viel über die Anerkennung eines palästinensischen Staats gesprochen. Aber der Fokus sollte erst einmal darauf liegen, wie dieser Staat überhaupt aussehen könnte. Welches Rüstzeug kann die internationale Gemeinschaft dafür geben?
Es sollte eine Transitionsphase geben, in der man prüft, wie ein friedliches Zusammenleben in zwei Staaten möglich gemacht wird. Leider leben wir in populistischen Zeiten, es geht mehr um Verlautbarungen als um tatsächliche diplomatische Aktivitäten. Die vielen verstörenden Bilder, die wir täglich sehen, führen nicht wirklich zu Maßnahmen, die Israelis und Palästinensern ein gutes Leben ermöglichen. Wir brauchen aber dringend die Vorstellung von Demilitarisierung, Demokratisierung und einem Wiederaufbau der Infrastruktur in Gaza.
Israel sollte nicht die alleinige Kontrolle des Gaza-Streifens übernehmen, aber sich an der Verwirklichung der genannten Vorstellung beteiligen, denn wir haben das handfeste Sicherheitsinteresse. Genau wie bei den Gewerkschaften sollten immer die wirkliche Lage der Menschen im Zentrum jeder Entscheidungsfindung stehen. Davon könnten beide Seiten profitieren, Israelis und Palästinenser.
Das klingt ja beeindruckend positiv angesichts der Lage.
Es ist das, was getan werden sollte. Auf einem anderen Blatt steht, ob es passiert – mit dieser Regierung wahrscheinlich nicht. Auch wenn Menschen im Ausland meinen, alles Israelische bekämpfen und verdammen zu müssen, verhindert das eine Lösung. Bin ich also optimistisch? Nein. Aber ich sehe immerhin einen Weg. Ich bin jedoch auch Realist und sage, dass es Generationen brauchen wird, all diese Probleme zu lösen. Und wir brauchen die Unterstützung der ganzen Welt dafür.
Linke und sozialistische Organisationen Israels werden international boykottiert. Auch einige Gewerkschafter in Deutschland fordern das Ende jeglicher Zusammenarbeit mit israelischen Gewerkschaften. Bereitet Ihnen das Sorgen?
Wir haben das 50jährige Bestehen unserer solidarischen Beziehungen mit vielen Veranstaltungen auf beiden Seiten gefeiert. Im Februar hat uns die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi mit einer Delegation in Israel besucht. Unser Hauptthema sind die Belange der Arbeitnehmer in Israel, egal ob sie Israelis, Palästinenser oder ausländische Arbeitskräfte sind. Unsere Aufgabe ist, für ihre Rechte zu kämpfen. Das Gleiche tun die DGB-Gewerkschaften für ihre Mitglieder. Die wirtschaftliche Lage in Israel ist der in vielen europäischen Ländern ähnlich. Wir können viel voneinander lernen, darum ist diese gegenseitige Solidarität zwischen allen Gewerkschaften so wichtig.
Es gibt dieses klare, tiefe Selbstverständnis, dass Gewerkschaftsarbeit über aktuelle politische Themen hinausgeht. Deutschland hatte bis vor kurzem eine andere Regierung, Israel wird hoffentlich im nächsten Jahr eine neue bekommen. Die gewerkschaftlichen Beziehungen bleiben bestehen, auch wenn es gerade bei einigen Gewerkschaftern oder Linken einen Trend gibt, sich ausschließlich mit der palästinensischen Seite zu solidarisieren. Die gute Partnerschaft und Zusammenarbeit unserer Gewerkschaften wird das nicht tangieren.
»Deutschland hatte bis vor kurzem eine andere Regierung, Israel wird hoffentlich im nächsten Jahr eine neue bekommen. Die gewerkschaftlichen Beziehungen bleiben bestehen, auch wenn es gerade bei einigen Gewerkschaftern oder Linken einen Trend gibt, sich ausschließlich mit der palästinensischen Seite zu solidarisieren.«
Die israelische Gesellschaft wirkt gespalten. Die Proteste gegen die Regierung Netanyahu nehmen wieder Fahrt auf und Hunderttausende demonstrieren für die Freilassung der Geiseln. Welche Rolle spielt die Histadrut dabei?
Die meisten Israelis wollen, dass der Krieg endet und auch das damit einhergehende Leid der Palästinenser. Unglücklicherweise sind aber immer noch 48 Geiseln in den Händen der Hamas, die sie aus unerklärlichen Gründen nicht freilassen will. Auch die toten Geiseln werden nicht herausgegeben. Auf eine gewisse Art sind wir alle in der Geiselhaft der Hamas.
Die Histadrut hilft den Familien der Geiseln seit zwei Jahren, so gut sie kann. Vor einem Jahr haben wir zu einem Generalstreik aufgerufen, den der höchste Gerichtshof aber am Mittag untersagt hat. Die Macht der Gewerkschaften hat also eine legale Grenze. Dem Gesetz nach dürfen wir einfach nicht zum Streik für allgemeine politische Themen aufrufen. Diese Regierung könnte den Gewerkschaften tatsächlich den Kampf ansagen, wenn wir diese Grenze verletzen.
Aber wir rufen zur individuellen Teilnahme an den Protesten auf, stehen an der Seite der Geiselfamilien und unterstützen die Protestbewegung auch finanziell. Dieser Krieg hat Einfluss auf uns alle, emotional und wirtschaftlich. So viele Menschen werden derzeit als Reservisten eingezogen, um Gaza-Stadt einzunehmen. Auf der israelischen Gesellschaft liegt also eine richtig schwere Last.
Wie viel Hoffnung haben Sie in dieser Lage noch?
Wir müssen nun mal anerkennen, dass diese Regierung gewählt wurde und eine Mehrheit hat. Sie scheint stabil zu sein. Wir müssen also ihrem Handeln laut widersprechen, auch wenn das diese Regierung vermutlich nicht beeinflussen wird. Nächstes Jahr gibt es Neuwahlen, ich hoffe, dass Israel dann wieder in die richtige Spur kommt. Ich glaube an eine bedeutsame Veränderung im nächsten Jahr, die der israelischen Gesellschaft hilft. Ich wage aber keine Prognose, wer die Wahl gewinnen wird. Die Opposition gegen Netanyahu muss jetzt richtig hart arbeiten.
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Peter Lerner wurde 1973 in London geboren und zog im Alter von zwölf Jahren mit seiner Familie nach Israel. Er ist seit 2019 Leiter der Abteilung für internationale Beziehungen beim israelischen Gewerkschaftsdachverband Histadrut. Davor war er langjähriger Pressesprecher der israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF). Nach dem 7. Oktober 2023 kehrte er als Reservist zurück in die IDF und fungierte bis vor kurzem erneut als Sprecher für englischsprachige Medien.