Putins polyzentrische Gebrauchsanweisung
Fast vier Stunden lang trug Wladimir Putin vergangene Woche in Sotschi vor großem Publikum seine persönliche Sichtweise der geopolitischen Lage vor. Das Auftreten des russischen Präsidenten bei der Plenarsitzung des Diskussionsclubs Waldaj ließ viel Interpretationsspielraum hinsichtlich der Frage, was von Putin in naher Zukunft zu erwarten ist und was nicht. Und weil Russland eine im Ausland zu Recht gefürchtete Bedrohung darstellt, ist internationale Aufmerksamkeit garantiert. Es warte »ohne Übertreibung die ganze Welt« auf diesen Moment, betonte der Pressesprecher des Kreml, Dmitrij Peskow.
Um unter dem Motto »Polyzentrische Weltordnung: Eine Gebrauchsanweisung« zu debattieren, fanden sich 140 Gäste aus 42 Ländern an der russischen Schwarzmeerküste ein. Viel Neues hatte Putin auf dem Podium allerdings nicht zu erzählen. Nicht zum ersten Mal gab er mit Bedauern zu verstehen, dass die Kampfhandlungen in der Ukraine nach wie vor andauerten, machte allerdings unmissverständlich klar, dass er die Verantwortung dafür bei Europa sehe, »das den Konflikt ständig eskaliert«. Damit festigt sich eine Tendenz, die sich seit Monaten abzeichnet: Die USA unter Präsident Donald Trump haben jedenfalls bis auf Weiteres als Hauptfeind des Kreml ausgedient.
Nicht zum ersten Mal gab Putin zu verstehen, dass die Kampfhandlungen in der Ukraine nach wie vor andauerten, machte allerdings unmissverständlich klar, dass er die Verantwortung dafür bei Europa sehe, »das den Konflikt ständig eskaliert«.
Stattdessen nehmen den ersten Rang inzwischen Deutschland und andere europäische Staaten ein, die Russland für seine Kriegführung scharf kritisieren und die Ukraine finanziell und militärisch unterstützen. Das tun zwar auch die USA, dennoch hält sich die russische Führung mit verbalen Angriffe gegen Trump auffallend zurück, nicht hingegen gegen europäische Staaten. Europäische Politiker würden in einem fort »Unsinn« wiederholen, so Putin, wonach Russland Nato-Länder angreifen werde.
Doch über dem Staatsgebiet gleich mehrerer Nato-Länder wurden in den vergangenen Wochen Drohnen gesichtet: in Polen, Rumänien, Dänemark und Norwegen, Litauen, ja sogar in Frankreich und Belgien. Wegen Drohnenalarms war außerdem der zweitgrößte deutsche Flughafen in München Ende voriger Woche zeitweise lahmgelegt, zahlreiche Flüge mussten annulliert werden.
Die Drohnen konnten nicht immer eindeutig Russland zugeordnet werden, aber mit der Häufung von Sichtungen nimmt unweigerlich die Unsicherheit zu, was es mit diesen Vorfällen auf sich hat und wie mit ihnen umzugehen ist. Von dem Moderator in Sotschi nach Russlands Beteiligung an den Vorfällen befragt, versprach Putin im Scherz, keine Drohnen mehr zu schicken. Die Drohnenüberflüge hörten indes nicht auf.
Die russische Schattenflotte
Ein weiterer aufsehenerregender Zwischenfall ereignete sich Anfang Oktober, als die französische Marine vor der bretonischen Insel Ouessant den Öltanker »Boracay« festsetzte, der verdächtigt wird, der sogenannten russischen Schattenflotte anzugehören, also eines jener Schiffe zu sein, mit denen Russland trotz internationaler Sanktionen wegen des Kriegs gegen die Ukraine weiterhin Öl exportiert. Die Behörden wollten sich Klarheit verschaffen, zu wessen Handelsflotte das Schiff gehört, das von Russland nach Indien unterwegs war und nach einer Überprüfung seine Fahrt fortsetzen konnte.
Soweit bekannt, hatte der besagte Tanker in den vergangenen drei Jahren mehrmals sowohl den Namen als auch die Flagge des Staats, unter der er fährt, gewechselt. Außerdem gibt es Hinweise, wonach der Tanker sich zu dem Zeitpunkt in dänischen Gewässern aufgehalten haben soll, als Drohnen in Dänemark den Flugverkehr störten. Denkbar wäre, dass die Drohnen von dem Schiff aus gesteuert wurden, handfeste Beweise liegen indes nicht vor – zumal Hunderte von Schiffen russisches Öl über die Ostsee an der dänischen Küste vorbei zu ihren Zielhäfen transportieren.
Als »Piraterie« bezeichnete Putin das Vorgehen der französischen Marine. Und Piraten müsse man beseitigen – eine unverhohlene Drohung. Er könne keinerlei Verbindung zwischen dem Schiff und Russland erkennen. Noch deutlicher reagierte Putin auf die Bitte des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj an die USA, Tomahawk-Marschflugkörper mit einer Reichweite von rund 2.500 Kilometern an die Ukraine zu liefern. Sollten sich die USA dafür entscheiden, so Putin, wäre dies eine »qualitativ neue Eskalationsstufe«.
Eine halbe Milliarde Euro Kriegskosten – pro Tag
Das Absurde an Putins Anschuldigungen ist, dass die russische Armee die Ukraine angegriffen hat, nicht umgekehrt, und es jederzeit in seiner persönlichen Macht steht, diesen Krieg zu beenden. Doch er lässt sich vom langsamen Vormarsch seiner Truppen, der mit immensen Verlusten einhergeht und erhebliche Ressourcen bindet, nicht beirren. Steigende Kollateralschäden nimmt er in Kauf; für die hohen Kriegsausgaben von umgerechnet mehr als 485 Millionen Euro pro Tag müssen Gelder beschafft werden. Dafür hat das Führungspersonal Sorge zu tragen, das die Kosten auf die breite Bevölkerung abwälzt.
Aus dem russischen Finanzministerium kam der Vorschlag, die Mehrwertsteuer zum Jahreswechsel von 20 auf 22 Prozent anzuheben. Nach Ansicht von Finanzminister Anton Siluanow stellt eine weitere Staatsverschuldung für die Wirtschaft ein erhebliches Risiko dar, während sein Plan dem Staatshaushalt über 23 Milliarden Euro einbrächte, die jährliche Inflationsrate hingegen gerade mal um rund einen Prozentpunkt erhöhe. Durch eine Anhebung von Löhnen und Sozialleistungen ließe sich das zudem leicht ausgleichen. Seine Botschaft soll vermutlich beruhigend klingen, aber den Sinn und Zweck dieser Umverteilung kann er damit nicht vertuschen: Der Staat benötigt Geld, das in die Kriegswirtschaft fließen soll.
Tiefer in die Tasche greifen müssen die Menschen unter den derzeitigen Umständen so oder so. Die Benzinpreise erreichen ständig neue Rekorde. Derzeit müssen für einen Liter Benzin bis zu 90 Cent an der Tankstelle bezahlt werden, der Preisanstieg liegt über der offiziell bekanntgegebenen Inflationsrate von derzeit rund acht Prozent.
Systematische Angriffe der Ukraine auf ölverarbeitende Betriebe in Russland
In einigen Regionen, beispielsweise Tscheljabinsk oder Archangelsk, soll der Benzinverkauf teilweise rationiert worden beziehungsweise scheint es an einzelnen Tankstellen zu Engpässen gekommen zu sein. Einer der Gründe für die sich abzeichnende Benzin- und Dieselkrise sind systematische Angriffe aus der Ukraine auf ölverarbeitende Betriebe in Russland. Am Montag musste einer der größten Anlagen bei Sankt Petersburg ihre Arbeit nach einer Drohnenattacke einstellen. Die Reparaturarbeiten könnten bis zu einem Monat andauern.
Diesem Angriff gingen weitere voraus. Bereits im Sommer ließ die russische Regierung die Ausfuhr von Benzin und Diesel vorübergehen einstellen; Russland gehört zu den größten Dieselexporteuren weltweit. Für die Preisentwicklung sind jedoch auch andere Faktoren relevant. Mit reichlich Subventionen hatte der Staat bislang dafür gesorgt, dass die Endverbraucher relativ wenig für Treibstoff ausgeben mussten. Inzwischen liegen die fiskalischen Prioritäten jedoch anderswo, denn es muss mehr Geld in die Staatskasse fließen, um sich die hohen Kriegsausgaben leisten zu können.
Als ein Instrument, dem Staat Mittel zu verschaffen, dient die Nationalisierung und faktische Enteignung von Geschäftsanteilen, was sowohl ausländische als auch russischen Eigentümer trifft.
Als weiteres Instrument, dem Staat Mittel zu verschaffen, dient die Nationalisierung und faktische Enteignung von Geschäftsanteilen, was sowohl ausländische als auch russischen Eigentümer trifft. Der kürzlich ins Amt des Vorsitzenden des Obersten Gerichts weggelobte ehemalige Generalstaatsanwalt Igor Krasnow rapportierte im Frühjahr, dass 2024 unter seiner Aufsicht Vermögenswerte von insgesamt rund 24 Milliarden Euro in Staatseigentum übergegangen seien.
Einerseits hat er sich damit im Machtapparat verdient gemacht, andererseits durch die eigenmächtige Ausweitung seiner Vollmachten dafür gesorgt, dass die Staatsanwaltschaft an Bedeutung gewann. Putin habe sich bei seiner Entscheidung, Krasnow auf den machtpolitisch unbedeutenden Posten am Obersten Gericht zu verschieben, davon leiten lassen, das System vor Krasnows Übereifer zu schützen, vermutet der Politologe Michail Komin. Die Möglichkeiten von Enteignungen will Putin jedoch grundsätzlich beibehalten, sie sollen sogar vereinfacht werden.