Dienstag, 19.06.2018 / 17:31 Uhr

Die WM-Metropolen im Ausnahmezustand

Von
Ute Weinmann
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Ute Weinmann

In Russlands WM-Metropolen herrscht Ausnahmezustand. Es gelten plötzlich ganz neue Spielregeln. Zu einer Gruppe junger Leute mit bunten Frisuren und lässigem Auftreten in einem Moskauer Park gesellt sich ein uniformierter Polizist. Er sagt fast beiläufig, dass das Wetter heute wirklich schön sei. Die jungen Leute stehen und sitzen mittlerweile in Habachtstellung, alle erwarten mit ihren Zigaretten und den Bierflaschen in der Hand eine weniger poetische Fortsetzung des Gesprächs. Auf der Straße darf grundsätzlich kein Alkohol konsumiert werden und im Park ist auch das Rauchen verboten. Doch der Polizist zieht unvermittelt einfach seines Weges. Kurz darauf zettelt ein weniger alternativ gekleideter Parkbesucher ein lautes Geschrei an. Ins Visier seiner Verbalattacke gerieten zwei Sicherheitskräfte, die am Rand des Parks gelangweilt ins Nichts starrten. Der aufgebrachte Mann beschuldigte sie lauthals, untätig herumzustehen, während er bereits seit einer halben Stunde vergeblich versuche, angesichts der trinkenden und rauchenden Massen rundherum die Ordnungsmacht an ihre Pflichten zu appellieren. Die Angesprochen gingen in die Defensive und warteten auf Verstärkung. Als diese eintraf musste der zivile Einzelkämpfer für Recht und Gesetz erst mal seinen Pass vorzeigen.

Ein Mann löst sich aus einem Pulk iranischer Fans und packt einen blonden Russen mit Nationalfahne um die Schulter. "Rossija!" ruft er ihm zu. Mehr zu sagen hat er ihm nicht. Ist das jetzt schon Völkerverständigung oder sogar Völkerfreundschaft? Die meisten Fans haben keine gemeinsame Sprache, dafür ist das Wort "spasibo" in aller Munde.

Am Strand gegenüber der Zenit-Arena in St. Petersburg ist im Sommer immer viel Betrieb. Fans aus aller Welt sucht man hier jedoch vergeblich. Die Plattenbausiedlungen in der Gegend gehören nicht zu den klassischen Sehenswürdigkeiten der Stadt und der 462 Meter hohe Turm des hier kürzlich fertiggestellten Lahta-Zentrums ist ohnehin von überall zu sehen. Dafür tummeln sich umso mehr Fußballbegeisterte im historischen Teil der Zarenstadt. An einer roten Fußgängerampel ertönt laute arabische Musik aus der Tasche eines hochgewachsenen gutgelaunten Mannes mit rotem Fez auf dem Kopf. Neben ihm stehen zwei wesentlich kleinere mit Einkaufstaschen bepackte russische Frauen. Er begrüsst sie mit einem entwaffnenden "Privet". Die Frauen grüßen schüchtern zurück, ein etwa achtjähriger Junge blickt sie irritiert an und schaut dann dem roten Fez nach, der bei grünem Licht eilig in Richtung Fan-Zone entschwindet.

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Der Strand an der Zenit-Arena in St. Petersburg

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An der Fontanka, einem der vielen Kanäle, spielen sich derweil weitaus romantischere Szenen ab. Zwei alles andere als schick herausgeputzte Russinnen mittleren Alters flirten mit zwei etwa gleichaltrigen Männern. Fans, möchte man denken, aber ohne Landesflagge um den Hals oder andere Fussballdevotionalien erschließt sich auf den ersten Blick nicht, ob sie aus Ägypten, dem Iran oder Peru stammen. Tamara Pletnewas warnende Worte, die in ihrer Eigenschaft als Vorsitzende der Parlamentskommission für Familie, Frauen und Kinder und langjähriges Mitglied der kommunistischen Partei KPRF russischen Frauen riet während der Fussball-WM keine intimen Beziehungen mit ausländischen Fans einzugehen, scheinen keine Wirkung zu zeigen.

Auf dem Newskij Prospekt herrscht derweil ausgelassene Stimmung. Wer kann zeigt Flagge. Keine Regenbogenfahnen natürlich, sondern einzig nationalstaatliche Attribute. Die Fan-Zone hat geschlossen, alle Spiele für den Tag sind beendet. Fast könnte man meinen einer Reclaim-the-Streets-Aktion beizuwohnen, aber so ganz ohne inhaltliche Statements wird die gute Laune rundherum schnell langweilig. Ein Mann löst sich aus einem Pulk iranischer Fans und packt einen blonden Russen mit Nationalfahne um die Schulter. "Rossija!" ruft er ihm zu. Mehr zu sagen hat er ihm nicht. Ist das jetzt schon Völkerverständigung oder sogar Völkerfreundschaft? Die meisten Fans haben keine gemeinsame Sprache, dafür ist das Wort "spasibo" in aller Munde. Ein junger Mann hat sich in roter Farbe die Buchstaben CCCP aufs schwarze Haar gemalt. Warum? "Meine Mutter ist Russin", antwortet er freudestrahlend. Als ob das alleine selbsterklärend wäre. Er studiert Regie in St. Petersburg und kann sich gar nicht sattsehen an den unaufhörlich vorbeiziehenden Menschenmassen.

Iranische Fans haben sich mittlerweile an einer Unterführung in Stellung gebracht. Als sie anfangen "Rossija!" zu rufen gerät die Menge rundherum beinahe in Ekstase. Schwarz Uniformierte lassen den Emotionen etwa zehn Minuten freien Lauf, bevor sie die Anstifter in so gar nicht üblichen Manier Petersburger Polizeikräfte sanft beiseite schieben.