Freitag, 27.07.2018 / 11:58 Uhr

Überleben in der Großstadt

Von
Ivo Bozic

10 Tipps, die urbane Hölle zu meistern ohne aufs Land ziehen zu müssen.


Sie spielen mit dem Gedanken, aufs Land zu ziehen? Das ist verständlich, gerade in Zeiten wie diesen sehnen wir alle uns nach einer weniger komplexen Welt, nach Idylle und Sternenhimmel. Gesellschaft stinkt und macht krank. Normale Menschen: bäh. Natur, Tiere, „Indianer“ (Charlotte Roche) sind viel toller. Doch wenn Sie kurz nachdenken, fällt Ihnen ein: In der Großstadt gibt es Gayparade und Cocktailbar, auf dem Land: Prozession und Vatertag. Und bedenken Sie auch: Was so manche stadtflüchtige Popautorin für einen Wald hält, ist ein Forst, eine Holzfarm. Was sie für Natur hält, ist Kultur, meistens Landwirtschaft. Und Landwirtschaft, das ist selten: summendes Bienchen auf Kornblümchen, sondern: Mähdrescher, Matsch und Melkmaschine. Klar, wenn Sie keinen Bock mehr auf Ausländer haben, kommen Sie ums Land nicht herum. In den strukturschwachen ländlichen Kommunen leben weniger als drei Prozent Migranten, hier können Sie ungestört WM gucken, ohne dass jemand nebenan dauernd für Spanien jubelt. Hier scheibt man Heimat noch deutsch, im Wirtshaus gibt’s Forelle Müllerin und Schnitzel mit Petersilie drauf.

Natürlich: Im Frühling will man raus. Die Natur lockt mit bunten Blumen, grünen Bäumen und singenden Vögeln. In der Großstadt ist es heiß, überall Reklame, die Hundescheiße gärt auf den Bürgersteigen, die Menschen sind Arschlöcher. Aber halt! Bevor Sie ein falsche Lebensentscheidung treffen, die Sie hinterher bereuen: Hier kommen 10 Tipps, wie Sie es auch in der Großstadt aushalten können.


Balcony Living. Wer das Glück hatte, eine Wohnung mit einem Balkon zu erhaschen, auf den ein wenig Sonne fällt, hat eigentlich keine Sorgen. Hier können Sie verschwitzte T-Shirts und nach Rauch stinkende Jeans auslüften, Blumen pflanzen, Vögel füttern und haben nicht das Gefühl, den Sommer zu verpassen, während Sie Zuhause sind. Im Winter steht hier das Bier kalt. Allerdings gibt es viele Balkon-Besitzer, die Ihr Sprungbrett ins Draußen gar nicht richtig nutzen. Frühstücken Sie auf Ihrem Balkon, Essen Sie dort auch zu Abend, chillen Sie dort durch die Nacht! Wer seinen Balkon nicht nutzt, was will der auf dem Land? Er wird auch dort nicht rausgehen. Wer keinen Balkon hat, suche sich Freunde oder Nachbarn mit Balkon und lade sich dort ein, zum Abendessen und warum nicht auch gleich zum Frühstück.

Öfter rausfahren. Es ist leichter als Sie denken. Die Stadtgrenze ist ganz einfach zu überwinden, da steht keine Mauer (mehr), auch wenn Sie das bis jetzt immer geglaubt haben. Der Bus, die S-Bahn oder der Regionalzug fahren Sie für wenig Geld direkt ins Grüne. Berliner, die nicht mindestens einmal im Sommer zum Paddeln in den Spreewald, oder Münchner, die nie in die Berge, oder Hamburger, die nie an die Nordsee fahren, sind an ihrer Großstadtneurose komplett selber schuld. Es stimmt: Es ist eine Wohltat für Geist und Körper, sich regelmäßig „im Grünen“, „in der Natur“ oder auch „auf dem Land“ aufzuhalten, aber es gibt überhaupt keinen Grund, deshalb dorthin zu ziehen. Sie ziehen ja auch nicht in Ihre Kneipe, nur weil es dort schön ist.

Stadtnatur entdecken. In Großstädten leben mehr Tier- und Pflanzenarten als in Nationalparks und erst Recht als auf dem Acker. Es ist immer wieder überraschend zu sehen, dass die meisten Großstadtmenschen keine Ahnung von der vielfältigen Flora und Fauna ihres eigenen Lebensraums haben. Wer die bunt blühende, summende und zwitschernde Kleingartensiedlung in der Stadt nicht zu schätzen weiß und statt dessen aufs Land zieht, um über einem monotonen Maisfeld bei einer Tasse Tee gelassen auf den Mond zu blicken, sollte sich zumindest bewusst sein, dass er gerade mehr Natur verpasst, als er erfährt. Städte haben Hausgärten, Schrebergärten, Botanische Gärten, Parks, Wälder, Flüsse, Tümpel, Teiche, Seen. (Fast) alles umsonst! Und wetten, irgendwas davon ist auch gar nicht weit von Ihrer Bleibe entfernt.

Genießen Sie die City. Wenn Ihnen der Moloch auf den Magen schlägt, schreiben Sie nicht verbitterte Leserbriefe oder Facebookposts, fluchen sie nicht dauern über Merkel, Steuern, Baustellen, sondern setzen Sie verdammt noch mal Ihren Allerwertesten in Bewegung und gehen Sie raus. Und zwar nicht einfach zum nächsten Späti, sondern entdecken Sie Ihre Stadt! Und machen Sie sich bewusst, dass es all das auf dem Land gar nicht gibt: Kino, Club, Biergarten, Zoo, Theater, Loveparade, Döner, Demo, Dildoshop, internationale Restaurants, Flohmarkt, Minigolf, Museum, Bungee Jumping, Bibliothek, Freibad, Shoppingmall, Rockkonzert, Oper, Messe, Multikulti. Wer von seiner Stadt nur den Edeka auf dem Weg zur Arbeitsstelle kennt, ist ein verdammt unglaubwürdiger Kritiker des Stadtlebens.

Barfuß laufen. Wenn der „Indianer in Ihnen echte Erde unter den Füssen vermisst“ (Charlotte Roche), dann denken Sie an den folgenden Indianertipp: Auf dem Land ist die „echte Erde“ meist güllegetränkter Matsch. Und hier ein ganz exklusiver Megaindianertipp: Man kann auch auf seinem Dielenfußboden barfuß laufen oder im Stadtpark auf der Wiese. Nein, die Hundehaufen sind keine Ausrede, das nicht zu tun. Auf dem Land ist schließlich alles ein riesiger Kuhfladen. Schmutzig sind Ihre Füße nachher so oder so, egal, wo Sie gehen. Und ob Sie in der Stadt auf eine Glasscherbe oder auf dem Land auf eine Forke treten, macht wenig Unterschied, nur dass auf dem Land noch die Zecken dazukommen.

Kopfhörer auf. Das Stadtgetöse und –gewimmel nervt? Mit Kopfhörern auf den Ohren sind Sie schwupps in Ihrer eigenen Welt. Wenn Sie dann noch den Blick konsequent auf Ihr Smartphone richten, wird es Ihnen selbst in der überfüllten U-Bahn gar nicht so vorkommen, als seien Sie unter Menschen. Auch Sonnenbrille, Kapuze, Oversize-Klamotten eignen sich, um mitten in der City das Landleben ziemlich originalgetreu nachzuempfinden.

Menschenansammlungen meiden. Gestalten Sie Ihren Tagesablauf antizyklisch zu den anderen Kiezbewohnern. Montagabends kann man auch ausgehen. Wenn Sie bei Türöffnung um 18 Uhr in der Bar aufschlagen, sind sie allein, morgens um Sieben auch. Gehen Sie nicht in die angesagten Klubs, es gibt auch in Ihrem Kiez eine verwaiste Eckkneipe, wo jeden Tag dieselben drei Alkoholiker sitzen, Schlager hören und über Fremde herziehen – also wie auf dem Dorf. Und: Fahren Sie nicht mit dem ÖPNV! Überhaupt Verkehr: Am besten ist Autofahren. Sie drehen die Musik voll auf und sind in Ihrem eigenen Universum. Autofahren sollten Sie selbstverständlich auch nur antizyklisch, zum Beispiel nachts. Im Stau stehen macht keinen Spaß. Es sei denn, Sie sind gut gerüstet und können während dessen wichtige Telefonate erledigen, die Jungle World lesen oder Ihr Butterbrot essen. Ansonsten: Bleiben Sie Zuhause. Hier können Sie sich alles liefern lassen.

An die Kinder denken. Geben Sie es zu: Im Grunde wollen Sie nur deshalb aufs Land ziehen, damit Ihr geplantes Kind nicht in einer arabischen Straßengang aufwächst, gleichzeitig wollen Sie sich das nicht eingestehen und Ihren Nachwuchs daher auch nicht in eine arisch-biologische Loha-Kita stecken. Nun glauben Sie, mit Ihrem Umzug aufs Land sei das Problem gelöst. Doch bedenken Sie, was Sie dem Kind antun! So schön es als Kind ist, in der Natur zu spielen, als pubertierender Jugendlicher wird das öde Land zur Hölle. Eine Kindheit in und mit der Natur, das geht auch in der Stadt! Es gibt wunderbare Natur- und Waldkindergärten, in denen Kinder nicht nur ein vernünftiges Naturbewusstsein, sondern auch eine starke Persönlichkeit entwickeln können.

Hinauf mit Ihnen! Verbringen Sie mehr Zeit auf Dachterrassen, Sky Bars, Hochhäusern, Aussichtspunkten. Von oben sieht die Stadt ganz anders aus. Das ist wie in den Bergen: Steht man im dunklen dauerschattigen Tal, umgeben von hohen Felsmassiven, fühlt man sich einsam, klein und verloren. Besteigt man aber die Gipfel, kommt dem Himmel nah und blickt leichten Herzens auf das Elend hinab, so fühlt man sich großartig. Das ist in der Stadt genauso. Ab in den nächsten Fahrstuhl und lassen Sie den Blick schweifen.

Wenn alles nicht hilft: Spielen Sie Farmville, abonnieren Sie die <I>Landlust<I>, kaufen Sie Biotomaten, töpfern Sie ein Tässchen, kurz: simulieren Sie das Landleben, beziehungsweise das, was Sie dafür halten! Das ist zwar alles ganz schrecklich, aber besser als wirklich aufs Land zu ziehen ist es allemal.