Dienstag, 07.08.2018 / 14:30 Uhr

Angst essen Seele auf

Von
Merve Namlı

Eine Geschichte über das Ankommen und die Begegnung mit einer stillen Traurigkeit.

Sonnenalleee

Mein erster Besuch in Deutschland war im Sommer 2006. Meine "Gastarbeitertante" hatte mich für drei Monate zu sich nach München eingeladen, sie war sehr stolz auf die einzige Person in ihrer Familie, die an einer der besten Universitäten der Türkei studieren wollte. Mein Vater weinte viel am Flughafen, als wir uns verabschiedeten. Es war unsere Familienangewohnheit, am Flughafen zu weinen, wenn wir uns von unserer in Deutschland lebenden Arbeiterfamilie verabschiedeten. Andere Passagiere waren sehr beeindruckt, diesen zwei Meter großen, starken Kerl zu sehen, der wie ein Baby weinte.

In der Schlange für die Visakontrolle fragte mich die Frau im klischeeartigen türkischen säkularen Look, die vor mir war: "Gehst du nach Deutschland, weil du jemanden heiraten sollst, mein Mädchen? Du bist zu jung um zu heiraten, mach es nicht! Wenn deine Familie dich dazu bringt, solltest du sie der Polizei melden. "

Ich war irritiert, versuchte aber die Wut zu unterdrücken und antwortete mit der Arroganz einer 18jährigen: "Nein, ich gehe nach München, um das Haus von Rainer Werner Fassbinder zu besuchen. Meine Tante hat mich eingeladen, drei Monate bei ihr zu verbringen. Ich werde alle Museen und Theater besuchen.“

Als feministische ex Muslima musste ich mir die Frage stellen, warum ich mich in Moschee wohler gefühlt habe als auf den lebendigen Straßen von München.

Die Frau sah mich mit leeren Augen an: "Fass? Ist das eine Biermarke?"

Diesmal sah ich sie mit leeren Augen an und sagte kurz: "Nein, ein Avantgarde-Regisseur." Und tat so, als würde ich nach etwas in meiner Tasche suchen.

Im Flugzeug war ich so aufgeregt: Mein erstes Mal in Europa, Heimat von Kunst und Kultur, nach der ich mich seit meiner Teenagerzeit sehnte!

Meine Tante und all meine Cousins holten mich am Flughafen München ab. Ich war so glücklich, sie zu sehen, aber auch unglaublich neugierig, mich umzusehen, ich versuchte, alle Bilder in meinem hungrigen Gedächtnis zu speichern. Die Nachbarschaft, in der meine Tante wohnte, war unglaublich. Sie lebte in der Müllerstraße (ich würde Jahre später erfahren, dass es dieselbe Müllerstraße war, in der Fassbinders Avantgarde-Theaterstücke stattfanden). Die Straße war voll mit schwulen Bars, die wirklich voll waren.

Wir gingen nach Hause, tauschten die letzten Neuigkeiten über unsere Familien aus und mein damals 24 Jahre alter Cousin fragte mich mit einer neckischen Stimme: "Also, was würdest du gerne hier machen, Merve?"

"Ich möchte alle Museen sehen, ich möchte Fassbinders Haus besuchen und ich möchte zum Olympia Park und zu den Konzentrationslagern bei München." sagte ich, ohne Luft zu holen. Meine Tante, die mein Lieblings Essen, Börek, kochte, antwortete: "Wow, du hast viel vor, aber wir haben nicht so viel Geld und wir haben deinen Eltern auch versprochen, dass du nicht alleine ausgehen kannst."

"Was? Aber ich bin 18 Jahre alt!", schrie ich.

"Es tut mir leid Merve, du bist ein hübsches junges Mädchen, du sprichst kein Deutsch, in dieser Gegend ist es sehr wild. Nein, ich kann diese Verantwortung nicht übernehmen, dass dir etwas passieret. Wir werden versuchen, einige der Orte, die du genannt hast, zu besuchen, aber wir können nicht alles schaffen. Hier gibt es schöne Parks, wir können in die Parks gehen."

Ich war zu traurig, um eine Antwort zu geben. Ich entschuldigte mich und ging auf die Toilette, um zu weinen. Es fühlte sich so an, als ob ein Staubsauger meine ganze Freude aufgesaugt hätte.

Wie im Haus meiner Eltern in Istanbul, suchte ich mir ein Lieblingsfenster aus, um das Leben draußen zu beobachten. Das Leben in der Müllerstraße lief genau wie ein Fassbinder-Film vor meinen Augen ab. Meine Tante hatte Recht, am Abend wurde es dort so verrückt lebendig. Junge, gut aussehende Jungs küssten sich, Männer und Frauen gingen halb nackt und tranken bunte alkoholische Getränke.

Am nächsten Tag gingen wir zum Marienplatz. Wow, was für eine Kirche, diese Frauenkirche! Mein Hals begann nach einer Stunde zu schmerzen, weil ich nur nach links und rechts schaute, um nichts zu verpassten. Irgendwann sah ich einen kleinen Kirschenstand. Sie waren so anders als die Kirchen, ich in der Türkei gesehen habe.

"Tante, was ist das?"

"Blaubeeren. Willst du probieren?"

Ich nickte glücklich mit dem Kopf. Der Mann hinter dem Stand sagte lächelnd etwas auf Deutsch, aber meine Tante und Cousins ​​lächelten gar nicht. Ich fragte auf Türkisch meinen Cousin:

"Was hat er gesagt?"

"Er sagte: kannst du immer noch kein Deutsch, um selbst Blaubeeren zu kaufen?"

Ich wusste nicht warum, aber es fühlte sich komisch an, ich wollte ihm selbst antworten. Ich antwortete ihm in fließendem Englisch: "Sehr geehrte Herr Beerenverkäufer, leider spreche ich immer noch kein Deutsch, ich bin erst gestern  angekommen, um meine Familie zu besuchen, aber ich möchte wirklich Deutsch lernen, die meisten meiner Lieblingsschriftsteller sind Deutsche, ich möchte ihre Bücher in ihrer Originalsprache lesen."

Der Typ schien geschockt. Er schien diese Sätze nicht von einer jungen Frau im Hijab zu erwarten.
Tage vergingen, wir gingen meistens in die Parks, wie meine Tante gesagt hatte. Einmal waren wir an einem schönen See, nicht um zu schwimmen, nur um uns ein bisschen umzusehen. Aber ich fühlte, dass wir zum Objekt vieler Zuschauer wurden, die offen über uns lachten. Wir hatten gerade ein kleines Picknick. Was war daran falsch?

Manchmal waren wir im Kino, um uns Hollywood-Filme anzusehen. Ich war erstaunt: Warum zeigten sie nicht die Filme von Fassbinder? Ich habe im Internet gesucht, konnte aber kein Kino finden, das in diesem Sommer die Filme meines deutschen Lieblingsregisseurs zeigte.

Abends gingen wir oft in Moscheen. Ich war so frustriert. Bin ich nach Deutschland gekommen, um meinen Sommer genau so zu verbringen, wie ich alle anderen Sommer in Istanbul verbringe? Als ob das nicht genug wäre, erzählte meine Tante überall, was für eine große Koranleserin ich war und drängte mich, den Koran vor 50 Frauen zu lesen. Ich war sauer, aber ich konnte nicht Nein sagen. Ich sah große Erwartung in den Augen der jüngeren und älteren Frauen, die in dem kleinen Raum saßen.

Ich fragte mich, warum alle in diesen Moscheehäusern so traurig aussehen. Mit der Hoffnung, ihnen eine kleine Freude zu machen, fing ich also an, den Koran mit meiner berühmten poetischen Stimme zu lesen. Als ich mit den Suren fertig war, waren die traurigen Augen der schönen Frauen voll jener Zufriedenheit, die ich heute in den Augen der Teilnehmer am Yoga-Kurs sehe. Es war so verwirrend für mich, da ich gerade dabei war, mich mit meiner Religion auseinander zu setzen.

Nach einem Monat wurden diese Abendein der Moschee die einzigen, in denen ich mich in München gut fühlte – abgesehen von der Zeit, in der ich die unglaublichen Bücher las, die mein Cousin mir aus der Stadtbibliothek brachte. Als feministische ex Muslima musste ich mir die Frage stellen, warum ich mich in Moschee wohler gefühlt habe als auf den lebendigen Straßen von Fassbinders München.

Die Frauen, dort in der Moschee, schlugen mich nicht, um mich zur Seite zu schubsen, wie es diese deutsche Frau in der Straßenbahn getan hatte. Wenn sie mich freundlich gefragt hätte, wäre ich schon auf den anderen Platz gegangen, damit sie drei Plätze frei haben konnte, aber sie tat es nicht, sie zog es vor, mir in den Bauch zu schlagen. Es tat weh. Nicht der physische Schmerz, sondern so geschlagen zu werden, während ich sie tatsächlich anlächelte.

Drei Monate waren vorbei. Diesmal weinte meine Tante am Münchner Flughafen, ich weinte auch. Nicht, weil ich es nicht geschafft hatte, Fassbinders Haus zu sehen, sondern weil ich die Traurigkeit so vieler erstaunlicher Frauen in meinem Herzen trug.

Zwölf Jahre sind seit meinem ersten Besuch in Deutschland vergangen. In der Zwischenzeit habe ich alle Filme von Fassbinder in verschiedenen Arthouse-Kinos in Istanbul, Wien und Berlin gesehen. Ich habe alle Bücher über ihn, in deutscher Sprache gelesen. Ich verließ mein mir zugeteiltes Heimatland, die Türkei, weil ich dort als antirassistische Feministin nicht mehr leben wollte – und konnte und wurde eine qualifizierte Gastarbeiterin für Deutschland.

Ich lebe seit vier Jahren in Berlin Neukölln, der Nachbarschaft von vielen Pseudo- und echten neuen Fassbindern. Ich sehe immer noch den gleichen traurigen Ausdruck in den Augen muslimischer Frauen, wenn ich auf der berühmten Sonnenallee spazieren gehe. Ich fühle, wie sich diese gemeinsame Traurigkeit noch in diesen wunderschönen Augen vertieft hat. Wenn ich sehe, wie eine von ihnen alleine nervös beim Gehen auf den Boden schaut, wie es meine Tante in München getan hat, versuche ich mein Bestes, ihnen mein aufrichtigstes Lächeln zu geben, in der Hoffnung, dass es die Botschaft trägt, zu der ich zu feige bin, sie in Worte zu fassen:

"Schwester, halte deinen Kopf hoch! Diese Welt ist die Welt der Liebenden, nicht der Hasser. "

 

Merve Namli wurde 1988 in der Türkei geboren. Sie ist Autorin, Konferenzdolmetscherin und Aktivistin. Als Autorin beschäftigt sie sich mit der Funktion von Sprache in der Politik, den Medien und der Kunstwelt. Seit acht Jahren arbeitet sie als Simultandolmetscherin für verschiedene öffentliche Institutionen. Sie engagiert sich in antifaschistischen und feministischen Organisationen in der Türkei und Europa.