Donnerstag, 26.11.2020 / 20:49 Uhr

Ihr Kinderlein kommet

Von
Jörn Schulz
Corona-Maßnahmen

Düsseldorf, 26. November 2020

Bild:
picture alliance/Federico Gambarini/dpa

"Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten", soll Albert Einstein gesagt haben. Das hat er zwar nicht, doch skizziert der Satz recht gut die Politik der Bundesregierung und der Landesregierungen, die sich in der Pandemiebekämpfung mittlerweile von wissenschaftlichen Erkenntnissen verabschiedet haben.

Nicht, dass man jemals wirklich hätte zufrieden sein können. Wie fast überall hat man in Deutschland zu lange getrödelt, bis man Mitte März dann endlich etwas unternahm. Sich eine Infektionszahl von Null als Ziel zu setzen, so dass jeder dann erneut auftretende Ausbruch schnell eingedämmt werden kann, ist nie ernsthaft erwogen worden, obwohl dies in Asien nicht nur Diktaturen, sondern auch Demokratien wie Taiwan und Südkorea erfolgreich praktiziert haben. Auch sollte man erwarten, dass ein führender Industriestaat schnell eine ausreichende Zahl von FFP-Masken und Tests (inklusive Ergebnissen vor Ablauf der Quarantänezeit) zur Verfügung stellen kann. Aber im Vergleich mit der erratischen Planlosigkeit Boris Johnsons oder der ignoranten Rücksichtslosigkeit Donald Trumps wirkte Angela Merkel wie ein Fels der Vernunft.

Der erste Bruch mit der vergleichsweise vernünftigen Politik war die Rückkehr der Schulen in den Normalbetrieb nach den Sommerferien, der zweite der Pseudo-Lockdown am 28. Oktober, dessen mangelnde Wirksamkeit absehbar war. Merkel hat dafür nun die schöne Formulierung „Seitwärtsbewegung der Infektionszahlen“ gefunden – sie stagnieren auf viel zu hohem Niveau. Was tun? Einfach nochmal das Gleiche mit einigen unwesentlichen Änderungen – und einer Ausnahmeregelung für die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr. Etwas Respekt vor deutschem Kulturgut wie Gänsekeule und Böller wird man von so einem Virus ja wohl verlangen dürfen.

Einzig die Zugangsbeschränkungen beim Einkaufen könnten Wirkung zeigen. Hier fehlen zwar wissenschaftliche Evidenz und empirischer Befund – es ist unklar, wie häufig es zu infektionsförderndem Gedrängel kommt –, aber falls sich keine Schlangen vor den Geschäften bilden, muss sich niemand ärgern, und falls doch, ist die Maßnahme sinnvoll. Aber nicht, dass Sie jetzt denken: „Na, dann kaufe ich halt nur das Notwendigste ein.“ Wirtschaftsminister Peter Altmaier weiß es besser: „Einkaufen ist eine patriotische Aufgabe.“ Sie sollten sich allerdings etwas wärmer und wetterfester anziehen, als es Altmaier beim Posieren für die Bild-Zeitung tat.

Womit wir beim zentralen Problem wären: Spätestens seit Ende Oktober hat die patriotische Aufgabe, den kapitalistischen Normalbetrieb aufrechtzuerhalten, Vorrang vor dem Infektionsschutz. Und wenn die Kinder sich nicht über Unterricht bei Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt beklagen, sollten Sie das Warten in der Kälte nicht scheuen, um zum Wohle der deutschen Wirtschaft irgendetwas Nutzloses zu erwerben. Das Vaterland zählt auf Sie! Und reden Sie sich nicht damit heraus, dass Sie kein Geld haben.

Es ist schwer zu glauben, dass die für die Pandemiebekämpfung Verantwortlichen den Elefanten im Raum nicht sehen, der den Weg zur Abwärtsbewegung der Infektionszahlen versperrt. Genau genommen sind es zwei Elefanten, der eine heißt „Arbeit“, der andere „Schule“. An den heiligen Orten der Wertschöpfung und der Vorbereitung auf diese gelten die üblichen Regeln nicht, und es kann mittlerweile kein Zweifel mehr daran bestehen, dass die dortigen Kontakte sowie die auf dem Weg dorthin in öffentlichen Verkehrsmitteln für die hohen Infektionszahlen sorgen.

Was den Arbeitselefanten betrifft, so hat man sich entschlossen, einfach nicht darüber zu sprechen. Es wäre sinnvoll, die nicht notwendige Produktion für zwei bis vier Wochen schlicht einzustellen, wenigstens aber müssten die Unternehmen verpflichtet werden, Homeoffice zu ermöglichen, sofern sie nicht nachweisen können, dass die Anwesenheit im Betrieb notwendig ist. Doch sie werden wie bereits Ende Oktober nur „gebeten, unbürokratisch Home-Office für ihre Beschäftigten zu ermöglichen“. Und die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände behauptet unverdrossen: "Der Arbeitsplatz ist - wenn wir uns das Infektionsgeschehen anschauen - einer der sichersten Orte in dieser Zeit."

Das behaupteten die Bildungsminister der Länder monatelang über die Schulen. Im engeren Sinne des Wortes gelogen haben sie nicht, man behalf sich mit Aussagen wie „Die Infektionszahlen in den Schulen bewegen sich derzeit bundesweit im Promillebereich“ – was ebenso für die Gesamtbevölkerung gilt, die demnach sorglos sein könnte – oder „Die Infektionen werden in die Schule hineingetragen“ – was auch für jeden anderen Ort der Ansteckung gilt, denn das Virus entsteht nicht durch Urzeugung. Man muss Merkel zugute halten, dass sie eine schärfere Regelung befürwortete, sich wohl sogar an die Empfehlung des Robert-Koch-Instituts halten und Wechselunterricht bei einem Inzidenzwert von mehr als 50 einführen wollte. Beschlossen wurde nun, bei einem Inzidenzwert von mehr als 200 Wechselunterricht ab der 8. Klasse einzuführen – möglicherweise, verpflichtend ist nicht einmal diese unzureichende Regelung. Der Infektionsschutz an der Schule wird mehr und mehr zu einem Kobayashi-Maru-Test, hier können Sie das selbst mal probieren.

Während man am Arbeitsplatz und im Klassenzimmer weiterhin vermeidbare Infektionen zulässt, ist es nun verpflichtend, „private Zusammenkünfte (…) auf den eigenen und einen weiteren Haushalt, jedoch in jedem Falle auf maximal 5 Personen zu beschränken“. Das ist in geschlossenen Räumen sinnvoll, es gibt jedoch keinen nachvollziehbaren Grund, warum Zusammenkünfte an der frischen Luft, etwa Spaziergänge mit Maske und ausreichendem Abstand, derart strengen Beschränkungen unterliegen. Drei Jugendliche, die stundenlang unter Strafandrohung im Klassenraum zusammengepfercht wurden, dürfen nicht gemeinsam nach Hause gehen oder sich abends im Park auf ein Bier treffen. Der wissenschaftliche Befund ist hier eindeutig: „The review found very few examples of outdoor transmission of COVID-19 in everyday life among c. 25,000 cases considered, suggesting a very low risk. However risk of outdoor transmission increases when the natural social distancing of everyday life is breached, and gathering density, circulation and size increases, particularly for an extended duration. There was also evidence that weather had a behavioural effect on transmission, with temperatures that encourage outdoor activity associated with lower COVID-19 transmission.“

Nachvollziehbar nur aufgrund des Bedürfnisses, den Einschränkungen ein populistisches Geschenk hinzuzufügen, ist die Ausnahmeregelung für die Weihnachtszeit – irrelevant natürlich für alle, die anderen oder keinen Glaubens sind und Weihnachten oder des Deutschen Kriegsersatz, zum Jahreswechsel seine Mitmenschen mit Feuerwerkskörpern zu bombardieren, nicht für unentbehrlich halten. Man muss kein Prophet sein, um vorherzusehen, dass zu diesen Anlässen die Regeln gebrochen werden und auch Markus Söder Schlagzeilen wie „Erst Gänsebraten, dann Handschellen - Weihnachtsfeier mit elf Personen von der Polizei aufgelöst“ vermeiden wird.

Man sollte daher die Mahnungen der Bundesregierung und der Landesregierungen auch dort ernst nehmen, wo man es aus deren Sicht nicht tun darf: „Alle Bürgerinnen und Bürger bleiben aufgerufen, jeden nicht notwendigen Kontakt zu vermeiden.“ Schwänzen und Krankfeiern muss man sich leisten können, doch jede Person, die ihrer patriotischen Pflicht entsagt und im Klassenzimmer und Büro, am Fließband und im U-Bahn-Waggon nicht erscheint, trägt zur Pandemiebekämpfung bei.