Freitag, 08.01.2021 / 15:09 Uhr

Randale im Capitol und ein Koffer im Weißen Haus

Von
Detlef zum Winkel

Am 6. Januar unternahmen die Unterstützer des amtierenden US-Präsidenten Donald Trump ihren programmatischen Versuch, Amerika wieder groß zu machen. In Erwartung des Ereignisses – "be there, will be wild", hatte ihr Idol getwittert – versammelten sie sich in Washington, um sich zunächst bei den Worten der Trump-Söhne Eric und Donald jr. sowie seiner Schwiegertochter Lara Trump aufzuwärmen. Auch Anwalt Rudy Giuliani durfte ein paar Sätze sagen, um ein "trial by combat" anzukündigen, was man wohl mit Kriegsgericht übersetzen muss. Dann trat das väterliche Schwergewicht ans Mikrofon. Er trug ein Konglomerat von Gerüchten und Zahlen vor, um die Wahl vom 3. November als kriminelles Unternehmen erscheinen zu lassen. Es liege nun bei Vizepräsident Mike Pence, den vermeintlichen Wahlbetrug zu vereiteln. In seiner unnachahmlichen Rhetorik schloss Donald Trump seine Rede mit den Worten:

"Nach allem was passiert ist, kommt jetzt das Beste (Beifall). Also, jetzt gehen wir (Beifall). Wir gehen jetzt die Pennsylvania Avenue herunter, ich liebe die Pennsylvania Avenue, und wir gehen zum Capitol und werden versuchen, unseren Republikanern – bei den Demokraten ist es hoffnungslos, von denen werden wir nicht eine einzige Stimme bekommen –, wir werden versuchen, unseren Republikanern ... die Art von Mut und Stolz zu verleihen, die sie brauchen, um unser Land zurückzubekommen. Lasst uns die Pennsylvania Avenue herunterlaufen, vielen Dank euch allen, Gott segne euch, Gott segne Amerika."

Es war ein Aufruf an seine Anhänger ihm zu helfen, die Legislative der Exekutive gefügig zu machen. Während Trump keineswegs mitmarschierte, sondern sich ins Weiße Haus und vor das TV-Gerät bequemte, zog die mit dem Segen des Präsidenten ausgestattete Meute vor das Kongressgebäude und durchbrach die Absperrungen mühelos. Einige hundert Trumpisten, viele davon in Kampfmontur und inzwischen als Nazis identifiziert, enterten Türen und Fenster, schoben die Capitol-Garde beiseite und drangen in das Gebäude ein, um law and order nach ihrem Geschmack herzustellen. Zahlreiche Fotos dokumentieren ihren Einsatz zur Rettung des geliebten Vaterlandes und für eine zweite Amtszeit des abgewählten Präsidenten. Schläger, teils in Wildwestkostümen, liefen durch die Flure, brachen die Türen von Abgeordnetenbüros auf, durchwühlten Unterlagen, ließen Souvenirs mitgehen und nahmen angeberisch in den Sitzungssälen Platz. Massenhaft wurden Selfies aufgenommen. Danach wussten die Akteure häufig nicht mehr, was sie als nächstes machen sollten oder wollten. Mut und Stolz kühlten sich allmählich wieder ab.

Nach den Aufnahmen zu urteilen befanden sich auf dem Vorplatz des Capitols ungefähr 5000 MAGA-Leute ("Make America great again"), die den Eindringlingen den Rücken freihielten und ihr Glück kaum fassen konnten, an diesem Erlebnis teilhaben zu dürfen. Währenddessen wurden die Abgeordneten und Senatoren von der Polizei in Sicherheit gebracht. Ein Foto zeigt, wie sie mit erhobenen Händen den Anordnungen der Beamten - nicht der Aufrührer - Folge leisteten. Für diese Situation gibt es bislang keine Erklärung, aber sie erinnert fatal an die Vorgänge bei einem richtigen Putsch.

Nach etwa sechs Stunden war der Spuk vorbei. Die Polizeikräfte, verstärkt durch Einheiten der Nationalgarde und des FBI, räumten das Capitol und anschließend den Vorplatz, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen. Der Kongress setzte seine unterbrochene Sitzung fort und bestätigte die Abstimmung des Electoral College vom 14. Dezember: 306 Stimmen für Joe Biden als Präsident und Kamala Harris als Vizepräsidentin. Am 20. Januar werden sie ihre Ämter antreten.

Der Aufruhr verfehlte sein Ziel, aber er kostete nach Angaben der Polizei fünf Menschenleben und einige Dutzend Verletzte. Eine Trump-Anhängerin wurde in einem Handgemenge von einem Polizisten angeschossen und erlag ihren Verletzungen. Ein Polizist starb einen Tag, nachdem er vom Mob zusammengeschlagen worden war. Drei Personen sollen an nicht näher beschriebenen „medizinischen Notfällen“ gestorben sein. 68 Randalierer wurden festgenommen, zwei Rohrbomben und sechs Schusswaffen sichergestellt.

Angesichts dieser Bilanz distanzierte sich Trump von Gewalt und Chaos und versprach eine ordentliche Übergabe der Regierungsgeschäfte an seinen Nachfolger. Auf eine solche Aussage hat die Öffentlichkeit lange gewartet, aber nach allen Erfahrungen mit diesem Mann ist davon auszugehen, dass er lügt. "Trump und die Seinen leben seit Jahren davon, dass der Rest es einfach nicht für möglich hält oder nicht darüber nachdenkt, was sie kurz darauf tun", merkt Jürgen Kaube in der FAZ an.

Der schwarze Mittwoch hinterlässt einen bleibenden Eindruck davon, was eine nach Millionen zählende Minderheit der Bevölkerung der USA unter amerikanischer Größe und amerikanischer Freiheit versteht. Chinesischen, russischen, weißrussischen oder iranischen Politikern, die das Geschehen für sich ausbeuten möchten, steht nun die Schadenfreude ins Gesicht geschrieben. Irans Hassan Rouhani, der mit seinem Außenminister Javad Zarif zu den großen Heuchlern auf der Bühne der Weltpolitik gehört, gab sich keine Mühe, ein Dauergrinsen zu unterdrücken, während er die Vorzüge seiner Klerikaldiktatur pries.

Zahlreiche US-Politiker, nun auch aus den Reihen der Republikanischen Partei, Journalisten, Schauspieler und Sportler haben ihren Abscheu über den Vorfall ausgedrückt und Donald Trump persönlich dafür verantwortlich gemacht. Viele fordern seine sofortige Entfernung aus dem Weißen Haus. Dabei wird ein bedeutendes Detail übersehen oder unterschätzt, wie an einem Beispiel zu zeigen ist. Ex-Präsident George W. Bush, der übrigens schon im Herbst freimütig erklärt hatte, dass er dieses Mal keinen Kandidaten der Republikaner wählen werde, verglich die bösartige Anfechtung des Wahlergebnisses durch Trump mit Methoden, wie man sie aus einer Bananenrepublik kenne.

Bei dieser Metapher ist zunächst anzumerken, dass sie eine abwertende Bezeichnung für die Länder Lateinamerikas darstellt. Wir verstehen jedoch, was George Bush hier meint, und dass er sicher keine rassistische Botschaft übermitteln wollte. Trotzdem hinkt der Vergleich. Das Risiko, das von hemmungslosen Machtkämpfen in den USA ausgehen und zur weltweiten Bedrohung werden kann, ist ungleich höher als die Gefährdung durch eine sogenannte Bananenrepublik.

In den USA gilt das Capitol als Herzkammer der Demokratie, als ihr heiliger Ort. Das Problem ist, dass sie auch ein Allerheiligstes der Exekutive besitzen. Es befindet sich seit einem Dreivierteljahrhundert im Zugriff des jeweiligen Präsidenten und wird in einem Lederkoffer aufbewahrt. Soll man das in den letzten Tagen, die Trump im Weißen Haus verbringt, thematisieren oder lieber schweigend die Stunden zählen? Und wenn man jetzt nicht darüber sprechen möchte, wann dann?

Trump wird in Stellungnahmen ernstzunehmender Zeitgenossen als manischer Egoist, selbst- und rachsüchtiger Tyrann, als skrupelloser Machtmensch und mafiöser Geschäftsmann beschrieben, der an pathologischer Selbstüberschätzung leide und in einer Wahnwelt lebe. Manche nennen ihn agitatorisch den "Irren im Weißen Haus" und meinen damit, dass es im Falle des Falles keine echte Gewähr gebe, ihn kontrollieren zu können. Dieser "Irre" verfügt über die Codes zur Freischaltung der nuklearen Streitmacht der USA.

In den nächsten Tagen mit diesem durchaus nicht abstrakten Problem umzugehen, ist Aufgabe von Joe Biden, Kamala Harris und anderen US-Spitzenpolitikern. Die Forderung der demokratischen Vorsitzenden des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, Trump schnellstmöglich für amtsunfähig zu erklären, oder die Bemühungen des republikanischen Senatssprechers Mitch McConnell, die letzten halbwegs vernunftbegabten Mitarbeiter des Weißen Hauses davon abzuhalten, ihren Job sofort zu kündigen, gehen möglicherweise auf dieses heikle Problem zurück.

Das wildwütige Agieren eines Loosers, der nicht verlieren kann, offenbart eine Situation, die in der nuklearen Abschreckungsdoktrin nicht vorgesehen ist und aus der Sicht ihrer Begründer niemals hätte eintreten dürfen. Der Atomkoffer in der Hand eines unberechenbaren Machtmenschen widerlegt alles, ich wiederhole: alles, was in hunderten von Studien und tausenden von Artikeln, verfasst von wissenschaftlichen Premiumberatern, die in angesehenen Think Tanks tätig sind, gelehrt wurde und von hochdotierten Dummköpfen stets aufs Neue wiederholt wird. Denn ihr Mantra beruht immer auf der Voraussetzung einer rationalen Einsicht der nuklearen Oberbefehlshaber: Wer als erster schießt, stirbt als zweiter. Was aber, wenn diese Einsicht nicht vorhanden ist, wenn ein Präsident sich der Logik verweigert und ausschließlich seinem wahnhaften Ego folgt?

Für Europa stellt sich die Frage, ob wir, um den Gipfel militärischer Stärke zu erklimmen, eine solche Situation in Kauf zu nehmen bereit sind. Und ob wir erst darüber nachdenken wollen, wenn jemand wie Marine Le Pen, was hoffentlich nie eintreten wird, eine Präsidentschaftswahl gewonnen hat. Oder hätten wir lieber einen deutschen Irren an der Spitze einer europäischen Atomstreitmacht? Oder einen ungarischen Husaren?

Jeder, der zur Zeit zu Recht darauf hinweist, dass der Trumpismus nicht mit der Amtszeit seines Namensgebers endet und auch keine auf die USA beschränkte Erscheinung ist, sagt uns gleichzeitig, ohne es zu wissen, dass die Zahl der Irren am roten Knopf zunehmen wird. Diese elegante Formulierung vermeidet es, die gegenwärtige Anzahl zu beziffern.

Gerade in einer Krisensituation wird das Versagen der nuklearen Abschreckung offensichtlich. Ohnmächtig müssen wir dem Washingtoner Treiben zusehen und darauf hoffen, dass die zweite Sicherung hält, falls die erste einmal durchbrennen sollte. Möge der Chef des United States Strategic Command, der vermutlich den zweiten erforderlichen Nuklearcode besitzt und dessen Namen Wikipedia mit Admiral Charles A. Richard angibt, nicht zu denen gehören, die Amerika noch größer machen wollen! Doch welche Gründe sprechen für die Erfüllung dieses frommen Wunsches, wenn schon jeder Verteidigungsminister, der einen Widerspruch wagte, postwendend seine Kündigung erhielt? Die sogenannte friedensstiftende Wirkung des Gleichgewichts des Schreckens reduziert sich auf einen Strohhalm, von dem sich die Nichtschwimmer Rettung versprechen.