Donnerstag, 25.02.2021 / 16:09 Uhr

Wie eine regionale Nachwahl Trumps Absichten vereitelte

Von
Detlef zum Winkel

 

"Georgia on my mind"

(Ray Charles, 1960)

Donald Trumps Versuch, das Ergebnis der US-Präsidentenwahl vom 3. November zu revidieren, ist krachend gescheitert. Doch wie hatte er es eigentlich anstellen wollen, und war das wirklich so bizarr, wie es mitunter scheinen mochte? Schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt hieß es in einem Kommentar der New York Times, Trump hinterlasse eine Blaupause zur Abschaffung der Demokratie. Zu glauben, so etwas könne nur in den USA passieren, wäre eine enorme Selbsttäuschung. Die Beschäftigung mit der Blaupause erfolgt auch im eigenen Interesse. Im Folgenden ein Review der wichtigsten Etappen des Geschehens.

Das Projekt Trump scheiterte im ersten Halbjahr 2020. Der Grund ist das vollständige Versagen des Ex-Präsidenten in der Corona-Pandemie: seine Ignoranz, Inkompetenz, Verantwortungslosigkeit. Ein Präsident, der im Kreis peinlich berührter Experten den Vorschlag unterbreitete, Desinfektionsmittel zu injizieren und es nachher als small talk darzustellen versuchte, hatte sich selbst erledigt. Während andere Autokraten Krisen für ihre Zwecke zu nutzen verstehen, entwickelte Trump keinerlei Gespür für den Ernst der Situation. Damit disqualifizierte er seine Führungsqualitäten.

Wechselwähler wandten sich von Trump ab, allerdings nur in überraschend geringer Zahl. Für einen Sieg Joe Bidens hätte das möglicherweise nicht gereicht, wenn nicht ein weiterer Faktor hinzugekommen wäre: Durch beharrliche Basisarbeit überzeugten namenlose Aktivisten der Demokratischen Partei frühere Nichtwähler, insbesondere Farbige, sich in die Wählerlisten einzutragen und an der Wahl teilzunehmen.

Der für Trump negative Trend wurde im Weißen Haus frühzeitig registriert. Das spiegelt sich in dessen Äußerungen wider, wonach die Medien nur über die Pandemie berichten würden, um ihm zu schaden. Er rechnete also selbst damit, dass er verlieren könnte, und bereitete seine Anhänger darauf vor, indem er behauptete, nur durch Wahlbetrug könne ihm ein Sieg streitig gemacht werden. Er stellte die Integrität der Briefwahl in Frage und versuchte (vergeblich), einigen Minderheiten ihr Wahlrecht zu entziehen. Damit hat er bei seinen Anhängern das Vertrauen in die Wahl erschüttert, noch bevor sie stattfand.

So kam es auch. Die Anzweifelung der Ergebnisse durch Trump, wenige Stunden nach Schließung der Wahllokale, war eine vorbereitete Antwort auf diese Situation. Seine Kampagne „Make America great again“ erhielt ein neues Ziel: Anfechtung des Wahlergebnisses, "Stop the Steal". Die MAGA-Aktivisten zogen vor die Wahlämter, in denen Stimmzettel ausgezählt wurden, beschimpften und bedrohten die Wahlhelfer und nahmen die Leiter der Wahlbehörden in den swing states (Bundesstaaten mit wechselnden Mehrheiten) aufs Korn. Von ihrer Kampagnenleitung wurden sie aufgefordert, besondere Vorkommnisse zu melden. Das taten sie: "Leute haben gewählt, die hier gar nicht wohnen", "Ladenbesitzerin schob schwarzen Karton mit tausenden von Stimmzetteln unter einen Tisch", "Tote haben gewählt", "ein Hund hat gewählt", wobei im übrigen gar nicht klar war, für wen der Hund seine Stimme abgegeben hatte.

Mit haltlosen Behauptungen zogen die Anwälte Trumps vor die Gerichte der Bundesstaaten, wo sie mit ca. 60 Klagen zur Anfechtung der Wahl scheiterten. Gleichzeitig wandte sich der Noch-Präsident persönlich an Regierende und Abgeordnete in den swing states, die den Republikanern angehören. Sie sollten die Wahlergebnisse nicht bestätigen oder zu seinen Gunsten korrigieren. Die Angesprochenen wiesen das Ansinnen ab und wurden von MAGA als Feiglinge oder Verräter markiert.

So ließ sich das Wahlergebnis nicht umschreiben. Trotzdem hat Trump mit diesem Vorgehen Erfolge erzielt, nicht nur beim Einsammeln von Spendengeldern. Der erstaunlichste Erfolg besteht darin, dass sein eigenes politisches Lager vom Verdacht einer Wahlfälschung gänzlich verschont blieb. Der Vorwurf galt ausschließlich seinen Gegnern, den Demokraten. Dabei wäre es angesichts der Zusammensetzung und der Vorstellungen der MAGA-Leute naheliegender, ihnen derartige Praktiken zu unterstellen. Der obsessive Eifer, mit dem das Lager des Ex-Präsidenten Behauptungen über eine vermeintliche Manipulation digitaler Zählvorgänge in die Welt setzte, deutet darauf hin, dass man selber mit dem Gedanken gespielt hat, wie ein Wahlergebnis zu fälschen wäre.

Diese Lage der Dinge könnte das rechtsradikale Lager zum Betrug ermuntern. Beim nächsten Streit um ein Wahlergebnis wäre die Bereitschaft, Zweifeln auf den Grund zu gehen, wahrscheinlich gering, selbst wenn sie dann gut belegt und beweisbar sein sollten. Viele würden denken, es gehöre einfach zum Wahltheater dazu, dass der Verlierer bzw. die Verliererin protestiert.

Wahlkämpfe in den USA werden traditionell als Show ausgetragen, bei der es weniger auf Argumente als auf die Art der Präsentation ankommt. Trump ist nicht nur auf diesem Terrain zu Hause, er hat die Show so weit getrieben, dass es am Ende nur noch darauf ankommt, wer der Größte ist und die beste Siegesfeier abliefert. Dazu war und ist ihm jedes Mittel recht. Er möchte eine Präsidentenwahl so gestalten, wie man früher auf Dorfversammlungen einen Sheriff bestellt hat, und es passt in diesen Kontext, dass seine Anhänger das Recht, Waffen zu tragen, häufig als ihre wichtigste demokratische Freiheit betrachten. Damit sind einige Voraussetzungen erfüllt, die eine aktivistische Minderheit in die Lage versetzen, die Mehrheit einer Gesellschaft einzuschüchtern und schließlich gefügig zu machen.

Die unverhohlene Entschlossenheit, mit dem Wahlprozess nach eigenem Gutdünken zu verfahren, kommt besonders deutlich in dem Telefongespräch zum Ausdruck, das Trump mit dem Innenminister von Georgia, Brad Raffensberger, führte. "Finden Sie 11 800 Stimmen", egal wie, wenn sie nur für ihn zu Buche schlagen, forderte der noch amtierende Präsident ultimativ. Nachdem er vor den Gerichten gescheitert war, setzte er Alles darauf, eine vermeintliche Fälschung der Präsidentenwahl in Georgia amtlich feststellen zu lassen. Das Telefongespräch wurde unmittelbar vor der Nachwahl zweier Senatoren am 5. Januar geführt und hätte ihren Ausgang zugunsten der republikanischen Kandidaten entscheiden können. Dann hätte Trump erklärt, in Georgia seien die wahren Mehrheitsverhältnisse deutlich geworden, wie er auch in allen anderen swing states gewonnen habe. Bei einem Wahlsieg der Republikaner in Georgia hätte der nächste Tag im Kapitol einen anderen Verlauf genommen. Deshalb haben sich Raffensberger und seine Mitarbeiter in der Wahlbehörde, die dem präsidialen Druck widerstanden und einen Mitschnitt des Telefonats veröffentlichten, in die Geschichtsbücher eingeschrieben.

Trump war nicht so töricht, mit seiner MAGA-Bewegung eine Art Revolution zu versuchen, also beispielsweise den Kongress nach Hause zu schicken und ihn für aufgelöst zu erklären, die Wahl zu annullieren, eine Notverwaltung für Washington DC einzusetzen, eine Schutztruppe für das Weiße Haus zu rekrutieren, die Büros liberaler Medien besetzen zu lassen und seine Anhänger in allen Bundesstaaten zur Nachahmung aufzurufen. Das war nicht der Sinn des Unterfangens. Der Angriff auf das Kapitol sollte die Drohung manifest werden lassen, dass das Land nach einer Bestätigung des angeblichen Wahlbetrugs nicht mehr zu regieren wäre, sondern im bürgerkriegsartigen Chaos versänke.

Wie sich allmählich herauskristallisiert, setzte Trump mit den ihm ergebenen Senatoren und Abgeordneten auf die Option, die endgültige Bestätigung des Wahlergebnisses durch den Kongress zu verschieben, eine neuerliche Prüfung durch eine von ihm selbst zu berufende Kommission anzuordnen und seine eigene Präsidentschaft zur vermeintlichen Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung auf zunächst unbestimmte Zeit zu verlängern. Dazu hätte er sich auf Notstandsbefugnisse berufen und möglicherweise vom Kriegsrecht Gebrauch gemacht. Vor und während der kritischen Stunden kommunizierten Emissäre des Weißen Hauses, darunter die Söhne Trumps und sein Anwalt Rudy Giuliani, mit den Organisatoren der MAGA-Märsche einerseits und mit Offizieren der Kapitolpolizei sowie der Nationalgarde andererseits, mit Senatoren, Abgeordneten und möglicherweise auch Militärs. In diesem Szenario war Trump darauf angewiesen, dass Vizepräsident Mike Pence die Inszenierung in irgendeiner Weise mitspielte. Das war letztlich nicht der Fall, ohne dass die entscheidenden Details schon bekannt wären. Das Schweigen des ehemaligen Vizepräsidenten während des Impeachment-Verfahrens ist vielsagend und bedenklich zugleich.

In den letzten Tagen seiner Präsidentschaft begnadigte Trump eine Reihe ehemaliger Mitstreiter, die ihm 2016 zu seinem Wahlsieg verholfen hatten und bald darauf krimineller Machenschaften überführt wurden. Insbesondere rehabilitierte er die Politiker Steve Bannon, Michael Flynn, Roger Stone, Paul Manafort, aber auch frühere Geschäftspartner, Steuerbetrüger, Mafiosi gehörten zu den Glücklichen. Bannon, Flynn und Stone besetzten maßgebliche Positionen bei MAGA, vor allem an der Schnittstelle zu rechtsextremistischen Organisationen. Sie waren es, die das Demonstrationsgeschehen am 6. Januar im Sinne ihres Chefs zu steuern versuchten und die nun auch bei der Reorganisation und Fortsetzung der Bewegung eine wichtige Rolle spielen.

Trump hat in den letzten Wochen und Monaten einige seiner potenten Sponsoren und Unterstützer verloren. Darunter ist vor allem der Medientycoon Rupert Murdoch zu nennen, dessen Propagandasender Fox News als erster den Wahlsieg Bidens in Arizona verkündete, was die Pläne des Weißen Hauses empfindlich durchkreuzte. Schmerzlich traf Trump schließlich auch die Sperrung seines Twitter-Accounts. Das ändert allerdings nichts daran, dass Fox News weiterhin als aggressives Sprachrohr des rechten Flügels der Republikaner agiert. Die Suche nach den großen Geldgebern Trumps lässt die Augen freilich nicht gerade in die weite Ferne schweifen. Einige sitzen vor unserer Nase, nämlich bei der Deutschen Bank. Mit Krediten von angeblich 300 oder sogar 500 Millionen Dollar, deren Rückzahlung mehrfach gestundet wurde, hält das Finanzinstitut das Unternehmen Trump seit Jahren am Leben.

Ernstzunehmende Stimmen sehen dieses Geschäftsgebaren der Bank in einem Zusammenhang mit der Russland-Affäre Trumps. Die Kredite seien abgesichert durch finanzielle Transfers schwerreicher Russen in amerikanische Vermögenswerte, bei denen Trump mitverdient habe und bei deren Abwickelung die Bank eine zentrale Rolle gespielt habe. Eine kürzlich ausgestrahlte ARD-Dokumentation gipfelte in den Vorwürfen, die Deutsche Bank betreibe Geldwäsche und Trump könne als russischer Geheimagent angesehen werden. Tatsache ist zumindest, dass in Russland und anderen östlichen Diktaturen eine kleine Oberschicht über riesige Geldmengen verfügt, die nach werthaltigen Anlagen drängen. Ähnlich verhält es sich mit den Milliarden, die im Glücksspiel, bei Sportwetten, Bitcoins, in der Sexindustrie oder im Immobiliengeschäft anfallen. In diesen Branchen wuchern Geschäftsmodelle, die nicht nur in den USA, auch in Österreich oder Deutschland, in Italien oder Großbritannien nach autoritären Regimen trachten.

Während ein deutsches Finanzinstitut eine nicht zu unterschätzende Rolle für Trumps Machterhalt spielte, haben deutsche Ideologien einen ebenfalls nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die amerikanische Rechte. Der Wiener Autor Ilija Trojanow wies in einem FAZ-Artikel auf die sogenannten Turner-Tagebücher (The Turner Diaries) hin, die ein Bestseller unter US-Rechtsextremisten sind. Das Machwerk bezieht sich ungeschminkt auf Hitler und die Machtergreifung der deutschen Nazis zwischen 1923 und 1933. Im Zentrum des phantasierten "Rassenkriegs" steht das sogenannte Märtyrerdatum 9. November, an dem Hitler 1923 seinen Putsch in München versucht hatte und an dem die Nazimilizen 15 Jahre später Synagogen und jüdische Geschäfte zerstörten. Insofern lag Arnold Schwarzenegger nicht komplett daneben, als er sich in seiner Stellungnahme zum Angriff auf das Kapitol an die "Nacht des zerbrochenen Glases" erinnert fühlte.

Die von den Demokraten im Impeachment-Verfahren des Kongresses vorgelegten Dokumentationen haben die Öffentlichkeit noch einmal aufgeschreckt. So mancher mokierte sich in den Tagen nach dem 6. Januar über die scheinbar sinnlose Randale der Demonstranten, über ihr zielloses Wüten in dem ehrwürdigen Gebäude, ihre teils karnevalistisch anmutende Kostümierung und ihre albernen Selbstdarstellungen. Die viel und vor allem hierzulande gerühmte deutsche Erinnerungskultur reicht leider nicht aus, um zu erkennen, dass der Hitlerputsch - um bei diesem Beispiel zu bleiben - ebenfalls eine schwer bizarre Inszenierung von Alkoholikern, geistesgestörten Veteranen und anderen unzurechnungsfähigen Gestalten war. Redlichen Demokraten fällt es schwer, sich mit solchen Phänomenen auseinanderzusetzen und das Unglaubliche zu glauben. Das gescheiterte Impeachment hat immerhin dazu beigetragen, den Ernst der Situation zu vermitteln.

Nach den dramatischen Ereignissen im Kapitol sandte die deutsche Botschaft in Washington einen Lagebericht an das Außenministerium in Berlin. Darin heißt es, Trump habe versucht, seinen Machtverlust durch einen "in mehreren Etappen inszenierten Staatsstreich" zu verhindern. Die checks and balances im politischen System der USA hätten noch einmal funktioniert, aber beruhigen könne das nur auf kurze Sicht. Nachdem die Zitate bekannt geworden waren, wunderten sich die Kommentatoren vor allem über den undiplomatischen Ton im diplomatischen Korps, anstatt die naheliegende Frage zu stellen: wie hätte die Bundesregierung reagiert, wenn Trump erfolgreich gewesen wäre? Gab es einen Plan B? Was hätte die Zivilgesellschaft unternehmen können, wie hätte sich die Linke dazu verhalten? Die Antwort lautet, nein, alle wären unvorbereitet gewesen.