Donnerstag, 03.03.2022 / 18:29 Uhr

„Ich war derjenige, der diese Soldaten wieder zu Bewusstsein bringen musste“

Von
Jörn Schulz
Russischer Soldat

Ein Gefangener russischer Soldat weint, als er mit seiner Mutter sprechen darf. In Videos, die der ukrainische Sicherheitsdienst ins Internet gestellt hat, werfen russische Soldaten Putin vor, sie als "Schutzschilde" missbraucht und über ihre Mission belogen zu haben.

Bild:
Youtube/The Telegraph

Wer kämpft in der russischen Armee und warum? Ein erheblicher Teil der Invasionstruppen besteht offenbar aus sehr jungen Männern ohne militärische Erfahrung und Ausbildung. Viele von ihnen wurden möglicherweise durch Druck und das Versprechen eines höheren Solds verpflichtet, ohne dass sie gewusst hätten, was ihnen bevorsteht. Hier die Dokumentation des Erfahrungsberichts eines russischen Militärmediziners.

Die Angaben – aus Sicherheitsgründen wurden konkrete Informationen über Einheiten und Kommandeure aus dem Text entfernt – beziehen sich auf die Zeit vor Kriegsbeginn. Anwerbungen für den Ukraine-Krieg scheinen jedoch mit ähnlichen Methoden erfolgt zu sein. In diesem Video erzählen russische Soldaten, Überlebende einer Niederlage, die ohne Versorgung auf ihre Evakuierung warten, man habe angegeben, sie für „Übungen“ einzusetzen; ihre Verträge sollen nun fristlos gekündigt werden.

„Ich erzähle Ihnen etwas über mich: Mein Name ist (...). Ich bin ein Offizier der russischen Armee, habe die Militärmedizinische Akademie abgeschlossen und im (...) Luftlanderegiment gedient – das ist die Division (...). Zwei Jahre habe ich gedient. Zwei Jahre. Ich habe im vergangenen Sommer gekündigt und unter anderem habe ich diese Ereignisse mitbekommen, als unsere Soldaten im vergangenen April zu angeblichen Übungen geschickt wurden. Was ist der Sinn? Der Divisionskommandeur, das war General (...), er wurde durch einen Oberst (...) ersetzt, der später auch zum General befördert wurde. Sie alle wurden von oben beauftragt, die gesamte (...)-Division zu 100 Prozent aufzufüllen. Sie wurde, lass mich nicht lügen, zu 50 Prozent aufgefüllt. In einiger Hinsicht kann man sagen, dass es eher 45 Prozent waren.

Die Leute wollen nicht dienen, sie laufen einfach weg. Wenn ihr Vertrag endet, verlassen alle die Armee, weil die Bedingungen schrecklich sind. Offiziere, sogar Offiziere, hauen ab, weil es viele Überstunden und ständige Dienstreisen gibt, und in Wirklichkeit werden die Menschen gezwungen, das zu tun, was sie nicht tun sollten. Eigentlich ist das einer der Gründe, warum ich aufgehört habe. Aus diesem Grund ziehen sie bei jedem Anlass einfach Leute mit einem Vertrag ein, unter jedem Vorwand, durch Zwang oder Einschüchterung. Das passiert sehr häufig. Es gibt Soldaten, mit denen ich immer noch im Kontakt bin, und ich denke, ich kann zu ihnen bei Bedarf auch den Kontakt herstellen.

"Die Jungs wurden „überzeugt“, einige durch Drohungen, andere wurden bestochen"

Jetzt mehr zur Sache. Was diese vergangenen Ereignisse angeht, also die letztjährigen Wehrdienstleistenden, im März/April, als (....) Fallschirmjäger zu diesen Übungen auf der Krim geschickt wurden, als es auch einer großen Konzentration unserer Truppen gab. Ich war damals schon dabei, zu kündigen, und dennoch stellte ich fest, dass ungefähr 120 Leute, 120 Wehrpflichtige meines Regiments, einfach gezwungen wurden, einen Vertrag zu unterschreiben. Was bedeutet "gezwungen"? Sie wurden "bearbeitet", politische Beamte kümmerten sich darum. „Jungs, ihr unterschreibt Verträge, wir kündigen euch in ein oder zwei Monaten, aber in der Zwischenzeit bekommt ihr Geld wie Vertragssoldaten.“

Woher weiß ich das alles? Zuerst habe ich da gedient, das ist mein Regiment. Ich habe Dokumente erstellt. Ich habe medizinische Gutachten für Verträge gemacht. Ich habe dafür diese Soldaten ins Krankenhaus begleitet. Wie ist das überhaupt alles geregelt? Man kann nicht einfach einen Vertrag unterschreiben. Für jeden Wehrpflichtigen wird ein neues militärmedizinisches Gutachten erstellt. Erst wenn er als tauglich anerkannt wird, kann ein Vertrag ausgestellt werden. Ich machte das.

Das heißt, die Jungs wurden überzeugt, einige durch Drohungen, andere wurden bestochen. Sie sagten, dass sie zwei, drei Monate dienen, dann werde der Vertrag gekündigt und für diese zwei, drei Monate würden sie ein Gehalt erhalten. Nun, die Klügeren haben sich nicht für dieses Abenteuer angemeldet – das waren hauptsächlich die Jungs aus Moskau und St. Petersburg. Die sagten: "Ich beende meinen Wehrdienst nach einem Jahr ganz ehrlich und verschwinde einfach von hier." Aber für die Jungs aus der Provinz, aus armen Regionen, ist es schwieriger. Sie wollen Geld verdienen, und natürlich will in der Armee niemand einfach dahinvegetieren. Es ist immer noch die Minderheit, die den Vertrag unterschreiben will, aber sie denken: „Mir wird gekündigt, es gibt jedoch eine dreimonatige Probezeit, und dann kann gekündigt werden."

Und das machten sie so. Letztes Jahr haben sie das mit den Jungs wie abgesprochen gemacht, wie sich herausgestellt hat, und sie kamen (von den Übungen auf der Krim) zurück. Wie hieß das in dem Befehl von (Verteidigungsminister) Schoigu? “Bringen Sie alle Truppenteile an ihren festen Standort zurück.” Und als sie zurückkamen, kündigten sie den Vertrag mit den Jungs tatsächlich. Wie versprochen. Sie bekamen ihr Geld, sie waren offiziell Vertragssoldaten gewesen. Und so denke ich, dass das Gleiche jetzt passiert ist. Das sind wirklich Wehrpflichtige, die nicht kämpfen können und vielleicht noch nie ein Maschinengewehr in der Hand gehalten haben.

"Sie haben jetzt wirklich untrainierte Jungs dorthin geworfen"

Nun zur Kampffähigkeit. Aufgrund des Personalmangels muss die Einheit ständig Übungen durchführen. Wir haben ständig Übungen auf Papier durchgeführt, all diese Soldaten sollten ausgebildet werden. Sie wurden gerade rekrutiert und mussten natürlich eine Art Kampftraining absolvieren. Dazu es gab Übungen auf dem Übungsgelände. Der Bereich der Division (...) befindet sich an einem Ort namens (...). Im Internet finden Sie diese Informationen, es ist nicht geheim. Aber oft wurde es nur auf dem Papier gemacht. Tatsächlich gab es keine Übungen, die Soldaten schossen nicht und dementsprechend haben sie keine Erfahrung. Sie haben jetzt wirklich untrainierte Jungs dorthin geworfen.

Was die wenigen Übungen betrifft, die tatsächlich durchgeführt wurden: Eigentlich dürfen Wehrpflichtige in der Regel nicht schießen. Sie sagen: Ihr seid ja eh nur Wehrpflichtige, und selbst wenn ihr einen Vertrag habt, das ist ja eigentlich nur auf dem Papier so. Selbst bei den Übungen, die tatsächlich durchgeführt wurden, durften sie weder aus Handwaffen noch aus Panzern oder Schützenpanzern schießen.

 Über den Stand der Technik: Die Ausrüstung ist in einem schrecklichen Zustand. Was wir in Betrieb haben, sind die BMD-2 Schützenpanzer, das Belüftungssystem funktioniert da wirklich null. Und wenn sie schießen, müssen sie normalerweise bei geschlossener Abdeckung schießen. Aber aus diesem Grund erstickt die Besatzung des Kampffahrzeugs am Schießpulvergas, wenn sie feuert, insbesondere wenn es sich um ein Dauerfeuer handelt, dann sammelt sich dieses Gas da an und die Soldaten ersticken dort. Dieses Lüftungssystem funktioniert oft nicht mehr, in vielen Panzern funktioniert es einfach nicht. Nochmal, ich erzähle Ihnen das alles, weil es aus meiner Erfahrung stammt. Ich war derjenige, der diese Soldaten wieder zu Bewusstsein bringen musste. Es sollte immer ein Arzt mit Sauerstoff da sein, der sie wieder zu sich bringt. Das war Stand der Technik. Dies ist nicht nur Trainingstechnik – die steht im Dienst.

Über neue Technik, die BMD-4-Schützenpanzer: Diese neuen BMDs wurden getestet. Und unser Regiment ist eines der ersten Regimenter, das sie erhalten hat. Dort hat das Lüftungssystem von Anfang an nicht funktioniert. Wenn es bei den alten erst nach einer gewissen Zeit einfach nicht mehr funktioniert, dann funktioniert es bei den neuen von Anfang an nicht.

Wenn ich helfen kann, bin ich allgemein erreichbar, wenn ich kann, bin ich bereit zu helfen. Weil es verrückt ist, was gerade passiert. Natürlich kann es mir nicht gleichgültig sein. Es gibt einen englischen Politiker des 18. Jahrhunderts, Edmund Burke, der sagte, damit das Böse triumphiert, genügt es, wenn die Guten nichts tun. Deshalb finde ich es schlimm, wenn Menschen schweigen und nichts tun. Wenn etwas getan werden kann, dann kann es getan werden."