Montag, 17.08.2020 / 10:57 Uhr

Bitte einsteigen in den Hypetrain!

Am Wochenende ist die Regionalliga Nordost in die Saison 2020/21 gestartet.

Während die Fans des deutschen Serienmeisters Bayern München lauthals frohlocken und auf den potthässlichen Henkel schielen wie ein Zyklop auf Speed, hat vier Etage tiefer das Reallife wieder begonnen. Die neue Saison der Regionalliga Nordost startete am Wochenende zwar teilweise noch unter Ausschluss des Publikums, aber mit 20 Mannschaften und einem direktem Aufstiegsplatz ins Glück, die 3. Liga.

„Bei der am Samstag startenden Regionalliga Nordost-Saison ist die Situation eine andere. Falls ein Fernsehsender oder eine Radiostation die Spielzeit 2020/21 mit Superlativen bewerben wollen würde, wäre es wohl legitim, von der besten vierten Liga aller Zeiten zu sprechen.“ Tom Scheunemann, Moderator der MDR-Sendung „Sport im Osten”, nahm sich diese Worte von Felix Morgenstern in der 11 Freunde zu Herzen und lieferte am vergangen Samstag pflichtgemäß ab. Der mehrfach von ihm bemühte Superlativ sollte wohl darüber hinwegtäuschen, dass der gebürtige Berliner den Auftritt von Rasenballsport Leipzig in der Champions League einige Tage zuvor weitaus lieber moderiert hätte als das Herumstolpern der Amateure. Doch nicht nur er sollte überrascht werden. Das fußballerische Niveau am ersten Spieltag war gut. Es fielen durchschnittlich mehr als drei Tore pro Partie und einige hoffnungsvolle Talente setzen ihre ersten Duftmarken.

Favoriten stolperten, Underdogs überzeugten, ein Spieltag nach Plan: Lichtenberg 47 gewann bei Energie Cottbus. Und die ebenfalls als Aufstiegskandidaten gehandelten Vereine Carl Zeiss Jena und VSG Altglienicke schleppten sich förmlich über die 90+ Minuten. Während sich die Thüringer nur zu einem Unentschieden gegen Babelsberg mühten, gewann die Volkssportgemeinschaft gegen den Aufsteiger Tennis Borussia erst in der letzten Minute.

Nach Abstiegen, Insolvenzverfahren, Sponsoren, die über Nacht verschwanden, einem Mäzen, der Vereinspräsident wurde, trotz seines Hangs zu rechtspopulistischen Ansichten und wiederholten Missbilligungen der Werte des Vereins im Allgemeinen und der alternativen Fanszene im Besonderen, sind die lila-weißen Charlottenburger nach zehn Jahren endlich wieder Teil der Regionalliga. Der Etat für die Saison ist deutlich kleiner und das Saisonziel, Klassenerhalt, bescheiden. Der Kader besteht aus etwa der Hälfte der Aufstiegsmannschaft und wurde ansonsten mit jungen, aber Regionalliga erfahrenen Spielern, die mehrheitlich in der Jugend des Vereins ausgebildet wurden, verstärkt.

Von den Neuzugängen stechen insbesondere Nathaniel Amamoo, zwischenzeitlich Spieler in der U19 vom SC Freiburg, und Rudolf Ndualu, der vergangene Saison bei Viktoria Berlin spielte, heraus. Beide dürften mit ihrer Geschwindigkeit und Spielintelligenz zusammen mit dem ohnehin technisch starken Mittelfeld den Abwehrreihen anderer Vereine Kopfzerbrechen bereiten. Das Potential konnte die Mannschaft im ersten Spiel gegen Favorit Altglienicke schon andeuten, trotz der späten Niederlage.

Fans durften an diesem Wochenende in Berlin noch nicht ins Stadion. Die Spiele konnte man entweder via Stream und Live-Übertragung der Regionalsender verfolgen oder, wie im Falle von Tennis Borussia am Sonntag, mittels einer selbst organisierten Radioübertragung hören. In den anderen Bundesländern waren Zuschauer zugelassen. Bei der Begegnung Chemie Leipzig gegen den BFC Dynamo im Alfred Kunze-Sportpark (AKS) erhielten die ersten 1000 Dauerkartenkäufer Zutritt. Gäste aus der Hauptstadt waren nicht erlaubt. Anlässlich dieser Spielansetzung gedachten die Auswärtsfans sonst immer des 1990 von einem Leipziger Polizisten am Bahnhof Leutzsch erschossenen BFC-Fans Mike Polley. In diesem Jahr fiel die martialische Trauerbekundung aus.

Wer es dagegen in das AKS geschafft hatte, konnte sich glücklich schätzen. Unter einem sehr ausgefeilten Zutritt- und Hygienekonzept – personalisierte Tickets, keine Stehplätze, stattdessen das Sitzen in einem sogenannten festen Cluster zur möglichen Nachverfolgung auf dem Dammsitz, kein Alkohol – sahen die Chemie-Fans ein Duell der Spitzenklasse gegen den allseits verhassten Berliner Fußballclub. Angesichts zweier neuer Stürmer, die ein wahres Offensivfeuerwerk abbrannten – inklusive Tordebüt für Neuzugang Stephané Mvibudulu –, fragten sich viele Zuschauer, ob das noch ihre Chemie sei.

Das in der Höhe noch sehr glimpfliche Ergebnis für die „Stasiknechte” ließ die allgegenwärtige Skepsis angesichts eines Spiels unter diesen Bedingungen verschwinden. Viele Fans waren neugierig, wollten aber nicht wiederkommen, solange man nicht den Stand vor der Coronapandemie erreicht habe. Das Gefühl, eher einem Tennisspiel beizuwohnen, wich aber schnell der Euphorie, endlich die eigene Mannschaft spielen und und mal wieder gewinnen zu sehen.

Ein Leben ohne Fußball ist zwar möglich, aber nicht erstrebenswert. Solange also keine Klatschpappen verteilt werden, um die Stimmung künstlich anzuheizen, ist der derzeitige Umgang mit den Zuschauern in der besten 4. Liga aller Zeiten der bestmöglichste Kompromiss.

Kommenden Samstag spielt übrigens der derzeitige Spitzenreiter Chemie Leipzig in Berlin gegen Tennis Borussia. Zuschauer sind zwar wieder erlaubt, aber die Gäste müssen voraussichtlich ohne die Unterstützung ihrer Anhänger auskommen. Da nur 1000 Personen im Stadion erlaubt sind, davon 100 bis 150 für den Auswärtsblock, ergab sich das Problem für die Leipziger, die wenigen vorhandenen Karten gerecht zu verteilen. Man einigte sich darauf, auf das Gästekontingent zu verzichten. Ein Übertragung im Fanradio wird es voraussichtlich geben.

AM/KL/RF