Montag, 24.08.2020 / 12:53 Uhr

"Dit wird nüscht in dieser Liga"

TeBe

Die Regionalliga-Partie Tennis Borussia Berlin gegen BSG Chemie Leipzig hat ein Corona-Dilemma demonstriert: Amateurfußball mit Zuschauern bleibt in Pandemiezeiten ein Drahtseilakt.

Am vergangenen Samstag trafen in der Regionalliga Nordost mit Tennis Borussia Berlin und Chemie Leipzig zwei Vereine aufeinander, die nach vielen bitteren Erfahrungen und einigen Insolvenzen nun im Wesentlichen durch ihre Fanszenen geprägt sind. Die drei Punkte nahmen die Gäste aus Sachsen mit. Mindestens ein Problem ließen sie zurück.

Das erste Heimspiel für TeBe in der Regionalliga seit zehn Jahren gegen die BSG verlief für die Gastgeber sportlich enttäuschend. Zwei Hauptgründe lassen sich hierfür ausmachen. Der Ausfall der gesetzten Stürmer Rabiega und Amamoo war nicht zu kompensieren. Zwar kombinierte sich TeBe zumeist bis an den Strafraum der Gäste ansehnlich heran, konnte aber keine Torgefahr entwickeln. Der zweite Grund liegt im hohen Stellungsspiel der Abwehr begründet, die gegen die schnellen Leipziger Außenstürmer in Kontersituationen mehrfach überrannt wurde. Angesichts des harmlosen Angriffsspiels und der überforderten Abwehr ließen sich die launigen Tribünenbesucher im Mommsenstadion nicht lange bitten und banden einen bunten Strauß an Charlottenburger Fußballdepressionen zusammen. Beliebt waren dabei düstere Saisonprognosen, prägnant auf den Punkt gebracht mit: „Dit wird nüscht in dieser Liga.“

Das letzte Mal, als die beiden Mannschaften aufeinander trafen, in der Saison 2000/2001 der Regionalliga Nord, trat der Verein aus Leutzsch unter dem Namen FC Sachsen Leipzig an. Die Heimmannschaft gewann im Alfred-Kunze-Sportpark mit 2:0. Das Problem mit Investoren und deren Ambitionen, im Profibereich mitzumischen, bestand auf beiden Seiten. Die Leipziger sollten damals – in der Vorstellung der Geldgeber – das FC Bayern Sachsens werden.

Daraus wurde bekanntlich nichts. Weil dieses Vorhaben sportlich, finanziell und sozial krachend scheiterte, tritt heutzutage wieder die BSG Chemie an. Wie die Berliner hat man sich zum Ziel gesetzt, einen soliden und finanziell vernünftigen Kurs zu fahren. Die beiden Vereine verbindet aber mehr.

Der Besuch in Charlottenburg gilt als eine der angenehmeren Auswärtsfahrten für die „Chemische Fanszene“ in dieser Regionalliga-Saison. Beide Fanlager gelten gemeinhin als links. Es liegt keine Feindschaft vor, hier und da werden persönliche Freundschaften gepflegt. Dennoch deklarierte die Leipziger Polizei die Begegnung als Sicherheitsspiel. Offiziell durften keine Gästefans dem Spiel beiwohnen, dennoch waren rund 200 Chemie-Fans im Mommsenstadion. Ihre nicht genehmigte Anreise belohnten die Spieler mit einer ansprechenden Leistung.

Die Mannschaft aus Sachsen hatte in den gesamten 90 Minuten das Heft in der Hand, ließ hinten wenig zu, war bei Standards gefährlich. Nach einem Freistoß traf Innenverteidiger Burim Halili in der 37. Minute zum 1:0, wenig später der erneut stark auftretende Morgan Fassbender zum 2:0. In der zweiten Halbzeit wechselte der Auswärtssupport in den dafür vorgesehenen Block, zuvor standen die Gästefans im Heimbereich. Lange sah es so aus, als ob Chemie das Ergebnis über die Zeit tragen würde, doch dann gelang TeBe der Anschlusstreffer. Tahsin Cakmak nutzte einen Fehler der Gäste.

Nur wenig später traf erneut Stephané Mvibudulu, diesmal zum Endstand von 3:1 für die Leutzscher. Damit ist die BSG Chemie weiterhin Tabellenführer. Die Fans reiben sich verwundert die Augen. In der abgelaufenen Saison war die Mannschaft unter Trainer Miroslav Jagatic vor allem defensiv solide aufgetreten, allerdings mit Mängeln in der Offensive. Nun das zweite 3:1 in Folge. Sportlich läuft es also gerade rund für die Sachsen. Aber auf den Rängen gibt es Diskussionen.

Zum zweiten Spieltag unter Pandemiebedingungen waren im Mommsenstadion 850 Zuschauer zugelassen. Bei einer Kapazität von rund 15.000 kam es laut Gästefans zu keinem Massenandrang oder Staus. Für die Gastronomie war ein Wegesystem ausgearbeitet worden, so dass niemand dicht an dicht fürs Bier anstehen musste. Die Tickets waren personalisiert, zugeordnete Sitzplätze gab es aber nicht. Neben Fassbrause wurde zur Freude beinahe aller richtiges Bier verkauft.

Als problematisch erwies sich allerdings die Frage des Supports. Angesichts der Tatsache, dass zwei der kreativsten Fanszenen der Regionalliga Nordost aufeinandertrafen und Sprechchöre verboten waren, war das Ergebnis beinahe erwartbar.

Aus Sicht der Gästefans waren die Wechselgesänge zwischen Stehplätzen und Tribüne wie auch die einzelnen Schlachtrufe zwar nicht perfekt, aber eine willkommene Improvisation. „Immerhin kein Geisterspiel“, wenn es schon keinen richtigen Support geben konnte, so die gängige Meinung.

Die Gemütslage der Anhänger von Tennis Borussia war eine gänzlich andere. Das Verhalten des Leipziger Anhangs sorgte für großes Unverständnis bei den Berlinern. Der Verein hatte basierend auf der Infektionsschutzverordnung des Senats ein Hygienekonzept entwickelt, das Anfeuerungsrufe und Gesänge untersagt.

Obwohl dieses Verbot auch in anderen Stadien gilt, für den Profifußball ebenfalls prominent diskutiert wird, und insofern kein Alleinstellungsmerkmal von Tennis Borussia ist, war es umso erstaunlicher, dass sich ein großer Teil der Gästefans entschied, die verbale Anfeuerung zwar zu minimieren, aber nicht zu unterlassen. Nachdem die Anhänger von Chemie Gefallen an ihren Stakkato-Rufen fanden, äußerten die Heimfans ihren Unmut darüber und reagierten ihrerseits mit vereinzelten Anfeuerungsrufen –  ein Corona-Dilemma.

In den Fanforen beider Vereine wird dieser Sachverhalt kontrovers diskutiert. Ein alter Ultra meinte einmal, dass sich ernstzunehmende Freundschaften zwischen verschiedenen Fanszenen erst dann entwickeln, wenn beiden Seiten das Wohlergehen des jeweils anderen Vereins genauso am Herzen liegt – eine Seltenheit. Zumal in der Regel gilt: „Auswärts ist man immer asozialer“. Gegen diese Attitüde anzukämpfen ist schwer. Eins ist aber gewiss: Amateurfußball mit Zuschauern bleibt in Coronazeiten ein Drahtseilakt.

Sportlich gilt es für beide Vereine, die Balance zu finden. Chemie muss am kommenden Samstag zu Hause gegen einen Mitkonkurrenten um den Aufstieg antreten, die „kleine” Hertha. Die Fans hoffen inständig, dass ihre Mannschaft die derzeit gute Form behält. Bei TeBe hofft man dagegen, dass trotz der langfristigen Ausfälle im Sturm, dank guten Spielaufbaus in Kombination mit dem soliden Zweikampfverhalten ein Punkt beim Gegner Lichtenberg 47 geholt wird. Nicht auszudenken, in welches Stimmungsloch die Haupttribüne fallen würde, sollte auch das Spiel verloren gehen.

AM/KL/RF