Montag, 31.08.2020 / 16:58 Uhr

Weniger Werner, mehr Ndualu

Von
KL

Ein FAZ-Redakteur will den „Abpfiff für verbrämte Fußballnostalgiker“. Dabei ist das Imperfekte der Regionalliga viel schöner als der Investorenfußball, wie beim Derby zwischen Tennis Borussia Berlin und Lichtenberg 47 zu bewundern war.

Michael Ashelm arbeitet in der Wirtschaftsredaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) und ist völlig außer Rand und Band. Forderte er doch erst neulich den „Abpfiff für verbrämte Fußballnostalgiker“. Gemeint sind damit Fanorganisationen, die an der Regel „50 plus 1” im Profifußball festhalten wollen und Investoren im nationalen wie internationalen Fußballgeschäft eher kritisch sehen.

Ashelm will das freie Kräftemessen anpfeifen und gibt folgende Handlungsanweisungen an die Bundesliga:, „Offen auf die Kraft des Marktes setzen, an Wachstum glauben und neue Lust auf Wettbewerb mit der starken Konkurrenz in Europa entfalten.“ Besonders inspirierend findet Ashelm die Premier League in England, dem „Mutterland des Investorenfußballs“. Er schwärmt von ihr, denn sie schwimmt im Geld und hat in zehn Jahren fünf verschiedene Meister gesehen, darunter der FC Liverpool, der doch tatsächlich nach einer mittelfristigen Durststrecke Meister geworden sei, obwohl der Besitzer aus Amerika komme. Was die Nationalität des Geldgebers mit der Meisterschaft des milliardenschweren Unternehmens zu tun hat, wird allerdings nicht erläutert. Wie ist dieser Artikel zu erklären?

Hat Ashelm Dietmar Hopps Curevac als Proband gespritzt bekommen und mutiert nun zum Aktienbullen? Hat er die Lockdown-Zeit genutzt, um sich die Klassiker der liberalen Volkswirtschaftslehre reinzuzwiebeln und will nun sein Wissen den Fußballromantikern verkünden? Dass dieser Artikel durchgewunken wurde, deutet abermals an, dass in der Wirtschaftsredaktion der FAZ viel Frankfurt stecken mag, aber wenig Frankfurter Schule. Wie verbringen die Wirtschaftsredaktion im allgemeinen und Michael Ashelm im besonderen wohl ihr Wochenende? Obwohl Geld ja nie schläft, sind die Lieblingsvereine TSG Hoffenheim und RB Leipzig gerade bestenfalls in unattraktive Freundschaftsspiele involviert.

Damit Ashelm keine Langeweile bekommt oder gar noch mehr liberale Kapitalismustheorien liest, bietet sich ein Besuch der ersten Runde des österreichischen Pokals an. Ashelm wird sicher seine Freude an dem Duell zwischen Cashpoint SCR Altach und Union Raiffeisen Gurten haben. Ein Fussballleckerli dürfte auch das Spiel Hertha Wels gegen FC Flyeralarm Admira werden. Wenn das Geld stimmt, wird der Vereinsname flexibel verändert. Konsequent. Schön auch, das wir jetzt schon wissen, das Red Bull Salzburg den Pokal gewinnt.

Fussballnostalgiker und jene, die weniger Markt und Kommerz und mehr Picke, Grätsche und einen Einwurf sehen wollen, sind auch an diesem Spieltag zu den Begegnungen der Regionalliga Nordost gepilgert. Am vergangenen Samstag konnten die Fans ein traditionelles Oberligaspiel endlich einmal eine Etage höher begutachten, nach dem beide Berliner Teams den Sprung in die höhere Spielklasse, jedoch zeitversetzt, geschafft hatten: Tennis Borussia traf auf Lichtenberg 47.

Das Spiel hielt fast alles, was man sich vom semi-professionellen Fußball erhofft. Kick and rush, harte Zweikämpfe, Läufe ins Leere, technisch versierte Pässe in die Spitze, gefühlt 107  Abseitsstellungen, weil der Mittelstürmer alle drei Sekunden gedanklich abschaltet, außerdem Wadenkrämpfe und Drei-Meter-Pässe, die nicht ankommen, obwohl Sekunden vorher der 50-Meter-Pass mit dem schwächeren Fuß technisch sauber aus der Luft gepflückt worden war.

Michael Ashelm wird nicht verstehen, dass es schöner ist, sich mit Tennis Borussias Rudolf Ndualu über sein Tor zum 1:0 gegen Lichtenberg 47 zu freuen, als über Lewandowskis 354. Tor im siebten Spiel. Es geht um die Schönheit, dabei zu zusehen, wie so lange an den Schrauben gedreht wird, bis das vorher äußerst wacklige Konstrukt für zumindest einen Moment stabil ist.

Es geht nicht um Timo Werner und Kai Havertz, Reagenzglasfussballer, sondern um Imperfektion und der Arbeit daran. Ndualu hatte bis dahin im Sturm ein unglückliches Spiel gemacht, weil er ungenau abspielte statt abzuschließen, weil die Laufwege nicht stimmten und die Schussgenauigkeit nicht auf seiner Seite war, obwohl er im Mittelfeld wertvolle Zweikämpfe gewann.

In der 70. Minute machte er plötzlich alles anders, tankte sich durch das Mittelfeld und die Abwehr der Lichtenberger und brutalisierte den Ball mit einem Gewaltschuss ins Tor. Zwei Minuten später taumelte Lichtenberg abermals und stoppte den Hürdenlauf des eingewechselten TeBe-Stürmers Sennur im Strafraum regelwidrig. Den Elfmeter vollendete Nico Matt zum 2:0-Endstand. Danach gab es Bogenlampen, Zusammenstöße und Pässe ins Nichts zu bewundern. Genau das hat an diesem Samstag die Mehrheit der 750 zahlenden Zuschauer glücklich gemacht.