Sonntag, 09.12.2018 / 20:23 Uhr

Die Ursprünge des Islamischen Staates im Irak

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Aus dem Netz

In einem Essay im New Yorker beschreibt Hassan Hassan die Ursprünge des Islamischen Staates (IS) die bis in Jahr 2001 zurückreichen. Mena-Watch hat Teile des Artikels übersetzen lassen:

Die meisten Historiker des Islamischen Staats sind sich einig, dass die Gruppe sich als Reaktion auf die US-Invasion 2003 aus dem irakischen Ableger von al-Qaeda entwickelte. Einig sind sich sich auch, dass die Gruppe in erster Linie durch den jordanischen Dschihadisten und Anführer von al-Qaida im Irak Abu Musab al-Zarqawi geschaffen wurde. (…) Jüngst ist mir diese landläufige Ansicht fraglich geworden. Die Vorarbeiten für die Schaffung des Islamischen Staats erfolgten lange vor der Invasion, und wenn es eine Person gibt, die für die Vorgehensweise der Gruppe verantwortlich war, ist es nicht Zarqawi, sondern Abdulrahman al-Qaduli, ein Iraker aus Ninive, der besser bekannt ist unter seinem Kampfnamen Abu Ali al-Anbari. Es war vor allem Anbari, Zarqawis Stellvertreter bei al-Qaida, der für das radikale Konzept des Islamischen Staats verantwortlich war. Sein Einfluss war systematischer und weitreichender und hielt länger an als der Zarqawis. (…)

Einer der Gründer von al-Qaida in Syrien, berichtete mir einst, die andauernde antiamerikanische Rhetorik Husseins habe vor und nach der Invasion viele Menschen für den Kampf gegen den Einfluss der USA mobilisiert.

Zur Zeit der Anschläge vom 11. September 2001 erreichte der Jihadismus im Irak einen Höhepunkt. Der Erfolg der Anschläge war selbstverständlich ein Grund für diesen Höhepunkt vor der Invasion, aber nicht der einzige. Nach dem Golfkrieg von 1991 hatte die Regierung Saddam Husseins die sogenannten Islamische Glaubenskampagne in die Wege geleitet, durch die die Islamisierung der öffentlichen Sphäre betrieben wurde. Sieben Monate vor den Anschlägen rekrutierte die Regierung Iraker für die aus Freiwilligen bestehende Jerusalem-Armee, deren erklärter Zweck es war, die Juden aus der Heiligen Stadt zu vertreiben. Abu Maria al-Qahtani, einer der Gründer von al-Qaida in Syrien, berichtete mir einst, die andauernde antiamerikanische Rhetorik Husseins habe vor und nach der Invasion viele Menschen für den Kampf gegen den Einfluss der USA mobilisiert. Al-Qahtani selbst war von Husseins Regime für einen möglichen Selbstmordanschlag in Israel ausgebildet worden. Anbari wurde von diesen Entwicklungen mitgerissen. Nach dem 11. September schuf er mit seinen ehemaligen Schülern den ‚Nukleus eines Emirats‘, gewissermaßen einen proto-Islamischen Staat im Norden des Irak. (…)

Die Anschläge vom 11. September verliehen nicht nur dem Jihadismus Auftrieb, sondern führten auch zu einer Polarisierung der religiösen Landschaft im Irak. Anbari und gleichgesinnte Dschihadisten begannen, konkurrierende Islamisten einschließlich der Muslimbruderschaft als Feinde zu betrachten, eine Haltung, die für die Ideologie des Islamischen Staats prägend sein würde. Anbari sah in der Anerkennung politischer Normen durch die Muslimbruderschaft und ihrer Ablehnung al-Qaidas einen Verrat. Seine Fixierung auf die Muslimbruderschaft ergibt sich auch aus seinen aufgenommenen Vorträgen, in denen er deren Angehörige als ‚Brüder des Teufels‘ bezeichnete. (…) Den Lesern dürfte nun hoffentlich klar sein, dass Anbari seine radikalen Ansichten, die sich später in denen des Islamischen Staats niederschlugen, vor der amerikanischen Invasion des Irak und vor seiner Begegnung mit Zarqawi entwickelte. (…)

Zarqawi traf in einem Land ein, in dem die ideologischen Konturen der Gruppe, die er eines Tages anführen würde, bereits definiert worden waren.

Als die Vereinigten Staaten den Irak 2003 eroberten, führten Anbari und Zarqawi voneinander unabhängige Gruppen, die damals noch nicht zu al-Qaida im Irak gehörten. (Sie schlossen sich 2004 an und Anbari wurde Zarqawis Stellvertreter.) Vieles deutet darauf hin, dass nicht Zarqawi, sondern Anbari für die Radikalisierung verantwortlich war, die später im Islamischen Staat ihren Niederschlag finden würde. (…) Anbari wirkte 2005 auch aktiv an der Umwandlung von al-Qaida im Irak von einer von Ausländern gesteuerten Gruppe in eine von Irakern geleitete Organisation mit. (…) Im folgenden Jahr benannte der ‚irakisierte‘ Arm von al-Qaida sich in Islamischer Staat des Irak um, und die Zahl seiner Angriffe auf Schiiten und Amerikaner stieg exponentiell an. (…)

Berücksichtigt man die entscheidende Rolle, die Anbari bei der Bildung des Islamischen Staats spielte, und die Bedeutung der Ereignisse, die Anführer wie ihn vor 2003 prägten, wird deutlich, dass die Gruppe nicht eigenhändig von einem schlauen jordanischen Dschihadisten ins Leben gerufen wurde. Zarqawi traf in einem Land ein, in dem die ideologischen Konturen der Gruppe, die er eines Tages anführen würde, bereits definiert worden waren. Er wurde von den bestehenden Verhältnissen beeinflusst und von den einheimischen Ideologen, die sie vor ihm geprägt hatten. Dies ist eine wichtige Unterscheidung. Wenn der Islamische Staat bereits mindestens ein Jahrzehnt vor der US-Invasion und Zarqawis Ankunft organisch im Entstehen begriffen war, erklärt das, wie er in einem demografisch so vielfältigen Land wie dem Irak so erfolgreich agieren und es schließlich dominieren konnte. Die Wurzeln der Gruppe reichen tiefer, als bislang erkannt worden ist.