Freitag, 11.10.2019 / 08:52 Uhr

Türkische Reaktionen auf den Einmarsch in Rojava

Von
Murat Yörük

Kaum erfolgte der von türkischer Seite parteiübergreifend lang herbeigesehnte Angriff auf Rojava, da erklangen begleitend zum Einmarsch wie an alte Zeiten erinnernd an der türkisch-syrischen Grenze aus Lautsprecherwagen osmanische Marschlieder. 

Zum Einsatz kam dabei auch das Plewna Marschlied, das in jüngerer Zeit in populären Serien wie Payitaht Abdülhamid im Staatsfernsehen TRT oder in Isimsizler im Privatsender Kanal D eingesetzt wird. Diese Serienproduktionen, die Zuspruch von einem Millionenpublikum erhalten, sprechen zwar unterschiedliches Publikum an – hier die nostalgischen Neo-Osmanen, dort die national-faschistischen Eiferer – beabsichtigen aber nationale Erbauung und sind durchaus als kriegsvorbereitende Propaganda zu bewerten. 

Kriegsverherrlichung und Vergangenheitsverklärung

Kriegsverherrlichung, Vergangenheitsverklärung und die Lüge, lediglich vor den Feinden und ihren intrigen Angriffen sich zu verteidigen, gehören seit je zur türkischen Gefühlsklaviatur. Entsprechend finden sich im Internet sowohl an jüngeres wie älteres Publikum gerichtete Interpretationen dieses Marschliedes. So heißt es in einer dieser Interpretationen mit dazu gedichteten Zeilen: „Solange die Seele den Körper nicht verlässt, wird das Vaterland nicht euch gehören“. Das singt der mit osmanischem Fez und Trommeln ausgestattete Männerchor der Gruppe Ser und inszeniert mystisch-nationalistisch gewendet das in seiner ursprünglichen Fassung allein an Gazi Osman Pascha gewidmete Marschlied.

 

t

 

Der Zuhörer aber ahnt nicht nur, sondern weiß, wem das Vaterland nicht in die Hände fallen darf: Wahlweise den Imperialisten oder eben den syrischen Kurden in Rojava, die als Besatzer einst osmanischen Territoriums halluziniert werden.

Ungeeigneter historischer Bezug

Dabei wäre – hielte man sich an die historische Wahrheit – dieses Liedgut zum Andenken an die Schlacht von Plewna im Russisch-Türkischen Krieg 1877-1878 heute absolut ungeeignet, um in der türkischen Propaganda eingesetzt zu werden.

Der Irrglaube, überall von Feinden umzingelt zu sein, darf nicht verwundern, wenn berücksichtigt wird, dass tatsächlich eine Mehrheit an die Umzingelung glaubt.

Denn anders als in der Schlacht von Plewna 1877 befinden sich die Nachfahren der osmanischen Armee heute in keiner Verteidigungsschlacht. Anders als Osman Pascha, der noch erkannte, dass seine Festung von den Russen umzingelt ist, und trotz Ausfallversuchs nach fünfmonatiger Belagerung der 35.000 Mann starken osmanischen Garnison nur die Ergebung und der Rückzug übrig blieb, trommeln die Nachfahren heute zusammen, was das nationale Kollektiv in kriegslüsternen Zeiten wie diesen herbeisehnt und gegenwärtig wieder in einer Allianz für eine Groß-Türkei zusammenkommt: Einen Eroberungsfeldzug mit dem Versprechen des Märtyrertods.

 Von Feinden umzingelt

Und dennoch lässt sich dieses Lied heute wunderbar in der türkischen Paranoia einsetzen. Der Irrglaube, überall von Feinden umzingelt zu sein, darf nicht verwundern, wenn berücksichtigt wird, dass tatsächlich eine Mehrheit an die Umzingelung glaubt. Folglich ist es ein Leichtes, diesen Angriffskrieg als Verteidigung der nationalen Souveränität auszugeben und hierfür parteiübergreifend Rückendeckung zu erhalten.

In diese Begleitmusik zur sogenannten "Operation Quelle des Friedens", türkisch Barış Pınarı, stimmt auch die größte Oppositionspartei CHP ein.

So reihen sich an der Front in Akcakale, Ceylanpınar und Suruc die Reporter genannten Einpeitscher der jeweiligen Fernsehanstalten Glied um Glied und berichten ganz erregt seit gestern Mittag als würde ein Fußballspiel kommentiert.

 Landesweit werden in Moscheen Selas - Kriegsgebete gelesenauf den Straßen herrscht gelassene Stimmung, in den Fernsehkanälen weht links oben wie sonst zu nationalen und islamischen Feiertagen die türkische Fahne.

Boden mit Blut tränken

Şamil Tayyar von der AKP sprach gestern entsprechend unwidersprochen bei Habertürk vom natürlichen Recht eines jeden Staates sein Boden mit Blut zu tränken, um darauf leben zu können. 

In diese Begleitmusik zur sogenannten "Operation Quelle des Friedens", türkisch Barış Pınarı, stimmt auch die größte Oppositionspartei CHP ein: "Unsere Gebete gelten unseren Soldaten", lässt Kilicdaroglu mitteilen und fasst zusammen, was ebenso von Recep Tayyip Erdogan stammen könnte: "Wir beten dafür, dass unsere heldenhaften Soldaten sicher und gesund zurückkehren, wenn sie die Operation Friedensquelle erfolgreich beendet haben. Möge Gott unsere Jungs beschützen und sie zum Ruhm führen." 

Volle Unterstützung der CHP

Und Berhan Şimsek, ein linker CHPler erklärt bei Habertürk von der Notwendigkeit dieses anti-imperialistischen Krieges, denn hinter der YPG stünden natürlich die USA, und die haben, da ist man sich mit Rohani, der das türkische Kriegsspektakel wohlwollend begrüßte einig, im Nahen Osten nichts verloren.

 

e

 Tweet des Istanbuler Bürgermeisters: Volle Unterstützung

 

Ohnehin dürfte der parteiübergreifend der Zustimmung sichere Einmarsch in Rojava zur nationalen Mobilmachung bereits jetzt der türkischen Staatlichkeit als sehr dienlich erweisen und nur einer Person hilfreich sein: Recep Tayyip Erdogan. Angeschlagen nach den verlorenen Bürgermeisterwahlen, und dem Verlust Istanbuls, isoliert im Ausland, das Image ramponiert kommt ihm der Einmarsch sehr gelegen. Die Reihen fest geschlossen, kann er nun als Feldherr sich profilieren und wieder die Themen, über die gesprochen wird bestimmen.

 Türkisches Militär kriegswillig

Das türkische Militär hingegen, das nach dem gescheiterten Putschversuch 2016 in einem bis dato nie gekannten Ausmaß geschlossen und kriegswillig auftritt, ist fest in der Hand linksnationalistischer Waffenbrüder, die in den vergangenen Monaten in voller Kampfmontur zur See aufgebrochen sind – und nun abermals in Syrien einmarschieren. Im März und sodann Mai 2019 führte die Marine ihre historisch bislang größten Seemanöver durch und demonstrierte kraftmeierisch ihre verschiedenen Waffengattungen der Öffentlichkeit.

Tunlichst wird vermieden, von einem Krieg oder einem Angriff auf Rojava zu sprechen.

 Dieses türkische Säbelrasseln im Mittelmeer könnte Dreh- und Angelpunkt einer weiteren, viel vehementer als sonst nationalistisch gebärdenden Erdorgan-Clique werden, die unter außenpolitischer Diktion im Innern die Reihen schließt und gar einen Krieg um die Rohstoffe im Mittelmeer provozieren könnte.

Dagegen dürfte weder ein politisch unerfahrener Ekrem Imamoglu, noch ein um Dialog bemühter Ali Babacan ankommen können. Entsprechend warnt der Vorsitzende der linksnationalistischen Vatan Partisi (Vaterlandspartei) Dogu Perincek bereits jetzt vorm Einbrechen türkischer Souveränität im Mittelmeer in nationalen Fragen und folgt darum dem Führer Erdogan. Wie alle Souveränisten weiß er, dass die vermeintliche Schicksalsfrage der Nation an ihren Grenzen sich abspielt und Grenzsicherung das A und O ist, wenn es um Staatssicherheit und insbesondere Staatserhaltung geht. Ihren türkischen Staat lieben sie schließlich alle – und seine Grenze reicht seit 1974 auch bis nach Zypern zu den Auslandstürken, die spätestens nach dem Tod des Rudelführers Rauf Denktas alles andere als türkische Manövriermasse sein wollen.

Erinnerungen an Zypern 1974

 Es verwundert daher nicht, dass in ähnlicher sprachlicher Diktion wie 1974 der Einmarsch in Rojava nun als eine Friedensmission deklariert wird. Bereits die Intervention in Nordzypern erfolgte nach türkischer Sicht mit friedlichen Absichten – begleitend mit Plünderungen, Vertreibungen und Morden an der Zivilbevölkerung und einer Besetzung, die bis heute andauert.

 Insofern ist verräterisch, wie die offizielle Sprachregelung aktuell erfolgt: Tunlichst wird vermieden, von einem Krieg oder einem Angriff auf Rojava zu sprechen. Die „grenzüberschreitende Operation“ (sınır ötesi operasyonu), wie es auf türkisch heißt, soll verschleiern, was ohnehin bekannt ist und seit 1990 unregelmäßig im Nordirak erfolgt und seit einigen Jahren in Nordsyrien praktiziert wird.

 Abgöttische Liebe zum Staat

Davon unbeeindruckt zeigen sich die neu gewählten Bürgermeister in Istanbul und Izmir. Imamoglu und Soyer folgen stattdessen der Parteilinie und bestätigen abermals, weshalb nicht zufällig die CHP als ewiggestrige Staatspartei zu bewerten ist. Auch die CHPler lieben abgöttisch ihren Staat, samt seinen Institutionen und insbesondere den außenpolitischen Praxen. Eine offene Konfrontation wagen sie nicht; sie beabsichtigen sie vermutlich auch gar nicht. Nichts deutet schließlich darauf hin.

 Dabei wäre es dringende Aufgabe einer halbwegs intakten politischen Opposition, gerade in außenpolitischen Fragen den Dissens zur Regierung zu zeigen. Nichts dergleichen. Somit verspielen die CHP, folglich auch ein potentiell starker Gegenkandidat Ekrem Imamoglu ihre Chancen auf eine siegreiche Präsidentschaftskandidatur. Denn der Bärendienst, sich in das nationale Kollektiv geschlossen und unwidersprochen einzureihen, nützt nur einem: Recep Tayyip Erdogan, der wieder im Spiel ist – und schadet der CHP. Die Wähler der HDP, in der Mehrheit Kurden werden sich nämlich genauer als sonst überlegen, ob sie einer Partei die Zusammenarbeit anbieten werden, die sich geschlossen hinter Kriegshandlungen gegen syrische Kurden stellt.