Donnerstag, 07.10.2021 / 19:40 Uhr

Gewalt im arabischen Sektor: Israels hausgemachte Tragödie

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Gastbeitrag von Antje C. Naujoks

Nach einem Wochenende mit einem weiteren arabischen Todesopfer, trat erstmals die von der neuen Regierung ins Leben gerufene Behörde zur Bekämpfung von Verbrechen in der arabischen Gesellschaft zusammen. 

 

2020 wurde mit 96 israelisch-arabischen Bürgern, die beim Einsatz von Schusswaffen ums Leben kamen, ein trauriges Rekordjahr. Hinzukamen weitere Morde, darunter sogenannte „Ehrenmorde“. Und es war allen klar: 2021 könnte einen noch längeren Schatten werfen. Als nun das letzte Quartal dieses Jahres anbrach, wurde das 95. Todesopfer aufgrund Schüssen von Arabern auf Araber verzeichnet.

Schon vor fünf Jahren zeichnet sich ab, dass die arabische Gesellschaft, die ein Fünftel der Gesamtbevölkerung stellt, doppelt so viele Morde verzeichnet wie das jüdische Israel. Laut Statistiken ist ein 17- bis 24-jähriger Araber einem 21-mal höheren Risiko ausgesetzt erschossen zu werden als ein jüdischer Gleichaltriger. Für Araber über 25 Jahren ist das Risiko 36-mal so hoch wie für jüdische Israelis. Das spiegeln auch die Todesopfer 2021 wider: Es sind zumeist Männer zwischen 17 und 35.

Auf den Schultern der arabischen Minderheit lastet überdies, dass zwischen 2017 und 2018 fast 11.000 Menschen Verletzungen infolge von Schusswaffengebrauch erlitten. Die Zahl ist weiter gestiegen. Bei 84% der Verletzten handelt es sich um arabische Bürger, von denen viele für immer gezeichnet sind. Betroffen sind auch Kinder und Jugendliche, von denen nicht wenige zudem zu Waisen wurden.

Da auch unaufgeklärte Verbrechen Leid verursachen, fällt zusätzlich ins Gewicht, dass im jüdischen Sektor durchschnittlich drei Viertel der Taten aufgeklärt werden, während die Aufklärungsrate im arabischen Sektor um die 20% rangiert. Gaben 2018 rund 32% an, sich in den Straßen ihrer Wohnorte nicht mehr sicher zu fühlen, so waren es 2019 schon über 42%. 2020 und 2021 verschlimmerte sich dieses Empfinden noch einmal rapide.

Die politische Dimension

In der 23. Knesset (März 2020 bis März 2021) amtierte Mansour Abbas – damals noch mit seiner Partei Raʹam im Verbund der Vereinigten Liste vertreten – als Vorsitzender des Knesset-Sonderausschusses zur Bekämpfung von Gewalt in der arabischen Gesellschaft.

Ende 2020 konnte er den damaligen Premier Benjamin Netanjahu dazu bewegen, vor dem Ausschuss zu dringenden Maßnahmen bei der Verbrechensreduzierung Stellung zu beziehen. Im Februar 2021 sprach Premier Netanjahu diesem Ziel zwar Gelder zu, doch eine Umsetzung erfolgte nicht mehr.

Dennoch hatte Mansour Abbas schon Ende 2020 etwas bewegt, denn noch zu Netanjahu-Regierungszeiten wurde ein Bericht vorgelegt, der offiziell bestätigte: Das Ausmaß der Kriminalität in der arabischen Gesellschaft steht eng in Zusammenhang mit einer schlechten sozioökonomischen Ausgangslage, maßgeblich verschärft durch Jahrzehnte währende Vernachlässigung seitens der Behörden.

Zu Gunsten der arabischen Bevölkerung, die laut Israels Landesversicherungsanstalt zu über 36% in Armut lebt, beruft sich Mansour Abbas immer wieder auf diesen Bericht. Inzwischen steht er an einem entscheidenden Punkt, denn die arabische Gemeinschaft erwartet, dass er abliefert; sprich dafür sorgt, dass laut Koalitionsvertrag zugesicherte Summen ausgeschüttet und anvisierte Maßnahmen umgesetzt werden.

Ineinandergreifende Missstände

Da Israels arabische Bevölkerung jung ist, ringt ein nennenswerter Anteil der arabischen Gesellschaft mit den Folgen eines Bildungsniveaus, das hinter dem der jüdischen Gesellschaft zurücksteht, sodass sie unter schlechteren Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu leiden hat.

Nur knapp 60% der männlichen Schulabgänger finden überhaupt Arbeit. Mehr als 20% sind nach der Schulzeit untätig. Diese Gruppe, die keinen Ausblick auf sozioökonomische Integration, geschweige denn auf soziale Mobilität hat, wächst seit einigen Jahren exponentiell. Sie ringt mit vielseitigen Folgen, wozu gehört, selten die Aussicht auf Bankkredite zu haben, sodass ihr Bargeldbedürfnis vom Kreditschwarzmarkt bedient wird.

Bemängelt wird durchgängig, dass keine staatlichen Maßnahmen entwickelt wurden, um den Kreislauf zu durchbrechen, in den diese Gruppe junger arabischer Männer hineingezogen werden, denn tatsächlich stellen gerade diese Arbeitslosen die höchste Rate der Straftäter unter den 18- bis 24-jährigen arabischen Männern.

Weitere Aspekte spielen hinein, wenngleich ein solcher Beitrag kaum die Spitze des Eisberges anzuführen vermag. So bekämpfte die Polizei des Landes erfolgreich das organisierte Verbrechen im jüdischen Sektor, muss sich aber vorhalten lassen, das Nachdrängen von Arabern in dieses Vakuum nicht verhindert zu haben.

Bei der Einschätzung des Erfolgs von Maßnahmen wie der anonyme Rückgabe von Waffen ohne Strafverfolgung lag die Polizei ebenso falsch, wie bezüglich Aspekten vertrauensbildender Öffentlichkeitsarbeit: dies sowohl unter Arabern als auch Juden, die fürchten, dass die Welle der Gewalt ihre Straßen erfassen wird.

Dazu gehört, dass in den Medien von 400.000 illegalen Waffen die Rede ist, die Polizeileitung gegenüber der Regierung jedoch erst im August 2021 erklärte, gar nicht über Daten zu verfügen. Experten, die Premier Naftali Bennett mit der Umsetzung der Maßnahmen gegen Kriminalität betraute, gehen von „lediglich“ um die 10.000 solcher Waffen aus.

Vor einigen Jahren sprach die Netanjahu-Regierung Gelder zur Verbesserung diverser Infrastrukturen des arabischen Sektors zu. Die Ausschreibungen zugedachten Förderungen verschwanden aufgrund von Schmiergeldezahlungen, Erpressung oder Gewaltandrohung jedoch überproportional in Taschen organisierter Banden, sodass die Situation anstatt besser viel schlimmer wurde.

Der israelische Geheimdienst Shabak musste im Zuge von Untersuchungen der Unruhen im Mai 2021 zugeben, Kriminelle des arabischen Sektors als Informationsquelle zu nutzen und im Gegenzug deren „Geschäfte“ nicht zu behindern.

Neueste Entwicklungen

Israel wird in den kommenden Wochen häufiger von Yaov Segalovitz hören, der als stellvertretender Minister für öffentliche Sicherheit amtiert. Er hat viel Erfahrung im Kampf gegen das organisierte Verbrechen und wurde von Premier Bennett mit der Leitung der nationalen Behörde zur Bekämpfung von Verbrechen im arabischen Sektor beauftragt, die Mitte August 2021 unter der Bezeichnung SAIF (Arabisch für Schwert, zugleich das hebräische Akronym des Behördennamens) eingerichtet worden war.

Während die Meinungen über einige der zu setzenden Maßnahmen auseinandergehen, sind sich die meisten einig, dass der Hebel an vielen verschiedenen Punkten angesetzt werden muss. In Kürze: Ein holistischer Ansatz ist gefragt, der u.a. umfasst:

  • Juristische Schritte, um 1.) den ausführenden Behörden mehr Instrumente an die Hand zu geben, aber auch erweiterte Befugnisse zu gewähren; um 2.) Waffenhandel, -besitz und -gebrauch strikter zu ahnen, aber dennoch 3.) Straftätern Rehabilitationsmöglichkeiten zu bieten.
  • Aufstockung der Polizei nicht nur durch Stützpunkte vor Ort, sondern auch durch zusätzliche Arbeitskräfte, für deren besondere Schulung gesorgt werden muss. Die Polizei soll bei weitem nicht nur mit dem Einsammeln von Waffen beschäftigt sein, sondern zudem Strukturen knacken helfen, die z. B. Schutzgelderpressern die Kontrolle entziehen.
  • Maßnahmen, die dem organisierten Verbrechen, die finanzielle Grundlage entziehen, d.h. etwa Aktivwerden von Steuerbehörden.
  • Bildungs- und Aufklärungskampagnen.
  • Finanzielle Mittel zur Rehabilitation von vernachlässigten Bereichen wie Wohnungsbau, Bildung, Wohlfahrt.
  • Einbeziehen der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF), um den Abgang eigener Waffen ebenso wie den Schmuggel von Waffen über die Grenzen hinweg zu unterbinden.

Vielen fehlt dabei ein Aspekt: Die strukturierte Einbindung lokaler Führungspersönlichkeiten. Sowohl religiöse als auch kommunale Personen mit Ansehen schweigen bislang, was zwar immer wieder bemängelt, zugleich aber auch verstanden wird, da sie leicht zu Zielscheiben werden.

Trotzdem setzt so langsam eine Kehrtwende ein, die auch eine breitere Öffentlichkeit erreicht, etwa im Zuge der auf Twitter lancierte Kampagne #Arab_lives_matter. Sie stieß einen öffentlichen Diskurs an, der in der nächsten Zeit an Fahrt aufnehmen könnte.

Kann der Gordische Knoten zerschlagen werden?

Eine der am meisten umstrittenen Maßnahmen ist der Einsatz des israelischen Inlandsgeheimdienstes Shabak. Premier Bennett beschloss, die nachrichtendienstliche Expertise dieser israelischen Institution bei der Lösung der anstehenden Probleme einfließen zu lassen.

Aus den Reihen des Shabak war keine Begeisterung für ein Aktivwerden im Zivilsektor zu vernehmen, obschon zugegeben wurde, dass eine ungewöhnlicher Überschenidung von „gewöhnlichem Verbrechen und Terrorismus“ vorliege. Mit der Armee werde man reibungslos zusammenarbeiten, doch im Zivilsektor könne man nur dann aktiv werden, „wenn gesichert ist, dass bestehende juristische Grenzen im Umgang mit einer Zivilbevölkerung gewahrt bleiben.“

Premier Bennett rief die arabische Bevölkerung in dem Zusammenhang auf, „zu verstehen, dass die Sicherheitsbehörden nicht der Feind, sondern die Lösung sind. Beschuldigt nicht den Staat, arbeitet stattdessen vielmehr Hand in Hand mit ihm.“

In den Medien konterte Ayman Odeh, Vorsitzender der arabischen Vereinigten Liste: „Nach Jahrzehnten, in denen die Regierung und die Polizei uns als rückständigen Teil der Gesellschaft behandelt hat, den man tunlichst vernachlässigt, ist das Letzte, was wir jetzt brauchen mehr von derselben Behandlung: Polizei für die Juden und Shabak für die Araber.“

Einstweilen ist es Mansour Abbas, über dessen Kopf ein weiteres Damoklesschwert schwebt. Weil er die kürzlich erfolgten tätlichen Angriffe auf Polizeibeamte in Kfar Qassem scharf kritisierte, soll er erste Morddrohungen erhalten haben.

Beitrag zuerst erschienen auf Mena-Watch