Freitag, 17.06.2022 / 13:02 Uhr

Türkei: Aleviten öffnen Gotteshäuser für LGBTQ-Beerdigungen

Von
Gastbeitrag von Martina Paul

Pride Parade Istanbul 2013, Bildquelle: Wikimedia Commons

Künftig werden die wichtigsten alevitischen Organisationen der Türkei Begräbnisse von LGBTQ-Personen ermöglichen, um gleiche Bestattungsrechte zu unterstützen.

 

Die überraschende Ankündigung erfolgte am 13. Mai auf einem von alevitischen Organisationen organisierten Symposium in Izmir, an dem verschiedene zivilgesellschaftliche Gruppen, darunter Vertreter der türkischen LGBTQ-Gemeinschaft, teilnahmen.

Ercan Gecmez, Leiter der Kulturstiftung Haci Bektas Veli, die zu den wichtigsten alevitischen Organisationen in der Türkei zählt, eröffnete bei seiner Rede, dass künftig Angehörigen von LGBTQ-Personen die Möglichkeit geboten werde, in Cemevis, also in alevitischen Gotteshäusern, Trauerfeierlichkeiten abhalten zu können. Dieser außergewöhnlich Schritt in Richtung Modernisierung wurde von den drei großen alevitischen Organisationen beschlossen und als »gemeinsame Entscheidung« bekanntgegeben.

Gelebte Solidarität

»Die Türen des Cemevis stehen LGBT-Personen weit offen«, ließ er die Teilnehmer des Symposiums wissen. Was Diskriminierung bedeute, wüssten die Aleviten nur allzu gut, meint Gecmez, stellten sie doch innerhalb der sunnitischen türkischen Mehrheit eine Minderheit dar, die oft genug Diskriminierungen erfahre.

Gecmez erklärte, Aleviten seien nach Jahren der Diskriminierung ihrer religiösen Rituale in Moscheen gezwungen worden, ihre eigenen Gotteshäuser zu errichten.

»Heute stehen LGBT-Personen vor denselben Problemen wie wir. Aleviten handeln solidarisch, weil sie solche Missstände niemandem wünschen. Deshalb haben wir diese Ankündigung gemacht.«

Bei der Veranstaltung war auch Yildiz Tar, Chefredakteur des Online-Nachrichtenportals von Kaos GL, einer großen türkischen Schwulenrechtsorganisation, anwesend, der die Ankündigung als »sehr überraschend« und »erfreulich« bezeichnete.

Staatliche Diskriminierung

Wie in so vielen Ländern des Nahen Ostens werden auch in der Türkei homosexuelle Menschen vom Gesetz unterdrückt, von ihren Familien verleugnet und vom Staat verfolgt. Noch viel härter trifft es all jene, die sich unter dem Begriff LGBTQ (Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Queer) zusammenfassen lassen bzw. sich als solche definieren. Ercan Gecmez erklärte gegenüber der Nachrichten-Website Al-Monitor:

»Wir haben uns die herzzerreißenden Geschichten angehört, die LGBT-Personen während Beerdigungen erleben. Es war uns unmöglich, ihnen gegenüber gleichgültig zu bleiben. Unsere Plätze gehören ihnen.«

Die Entscheidung bedeutet mehr als einen symbolischen Meilenstein, da sie darauf abzielt, LGBTQ- und insbesondere Transgenderpersonen vor den meisten diskriminierenden Praktiken bei Beerdigungen zu bewahren.

Verweigerte Bestattungsrituale

In der Türkei gebe es viele Imame, die es nach wie vor vermeiden, Beerdigungen für Transmenschen durchzuführen, berichtet Yildiz Tar. Auch respektierten sie die Identität von Trans-Personen nicht. »Eine Transfrau, die ihr ganzes Leben als Frau lebt, wird bei der Bestattung als ›er‹ tituliert«, erklärt Tar. Häufig komme es auch vor, dass sich Leichenwäscher weigern, bei verstorbenen Transgenderpersonen die rituellen Waschungen zu vollziehen.

Die Autorin Asli Zengin, die sich mit diesem Thema intensiv beschäftigt hat, erzählt von Leichenwäschern, die der Meinung sind, LGBTQ-Personen sollten ungereinigt beerdigt werden. Viele fühlten sich auch nicht wohl bei der Vorstellung, den Körper einer transsexuellen Person berühren zu müssen. Deshalb, so Ercan Gecmez, könne die türkische LGBTQ-Community ab nun die alevitischen Leichenschauhäuser und Leichenwaschplätze frei nutzen.

»Wir werden unser Bestes tun, um sicherzustellen, dass sie sich von ihren Lieben so verabschieden, wie sie es wünschen.«

Religiöse Einflussnahme

Die Position der türkischen Behörden zu diesem Thema wiederum bleibt laut LGBTQ-Rechtsgruppen umstritten. Laut einem Bestattungsleitfaden aus dem Jahr 2008, der von der offiziellen religiösen Körperschaft Diyanet herausgegeben wurde, sollten sogar Trans-Personen, die sich einer Operation zur Genitalkonstruktion unterzogen haben, »als Nicht-Trans-Personen behandelt« und entsprechend gewaschen werden.

Obwohl die Türkei ein verfassungsmäßig säkulares Land ist, hat sich unter dem Präsidenten Recep Tayyip Erdogan der Einfluss der religiösen Behörde Diyanet im gesellschaftlichen und sozialen Leben der Bevölkerung zunehmend verstärkt. So berichtet Yildiz Tar, dass zu Beginn der COVID-19-Epidemie viele Prediger behauptet hätten, Homosexualität wäre der Grund für den Ausbruch epidemischer Krankheiten.

 

Beitrag zuerst erschienen auf Mena-Watch