23.07.2020
Small Talk Small Talk mit Anne Renzenbrink, Pressereferentin von »Reporter ohne Grenzen«, über das Urteil gegen Deniz Yücel

»Die türkische Justiz ist politisiert«

Am Donnerstag vergangener Woche verurteilte ein türkisches Gericht den Welt-Redakteur und Jungle World-Mitherausgeber Deniz Yücel in Abwesenheit wegen Terrorpropaganda zu einer Haftstrafe von zwei Jahren, neun Monaten und 22 Tagen. Die Jungle World hat mit Anne Renzenbrink gesprochen. Sie ist Pressereferentin von »Reporter ohne Grenzen«.

Small Talk von André Anchuelo
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Wie bewerten Sie das Urteil?
Wir sind schockiert, dass an dem Vorwurf der Terrorpropaganda festgehalten und Deniz Yücel deswegen zu einer fast dreijährigen Haftstrafe verurteilt wurde. Die Vorwürfe sind absolut nicht haltbar. Zugleich sind wir aber auch nicht sonderlich überrascht. Das Verfahren, und nicht nur dieses, zeigt, wie politisiert die türkische Justiz leider ist. Es handelt sich um eine Willkürjustiz, in der alles passieren kann. Wir sind natürlich erleichtert, dass Yücel wieder in Deutschland ist und in Freiheit lebt. Aber das Urteil zeigt, wie schlecht es um die Rechtsstaatlichkeit in der Türkei bestellt ist. Das bereitet uns vor allem große Sorgen wegen der Journalistinnen und Journalisten, die in der Türkei sind, der türkischen Kolleginnen und Kollegen.

Ist der Vorwurf, dass journalistische Arbeit Terrorpropaganda sei, typisch für autoritäre Staaten wie die Türkei?
Wir beobachten auch in anderen Ländern, dass Terrorismusvorwürfe herangezogen werden, um gegen kritische Berichterstattung ­vorzugehen. Wir beobachten aber vor allem in der Türkei, dass einem Großteil der Medienschaffenden, die vor Gericht stehen, Terror­propaganda oder Mitgliedschaft in einer Terrororganisation vorgeworfen wird. Teils werden da auch verschiedene Organisationen genannt, die sich ideologisch völlig widersprechen – das ergibt alles inhaltlich überhaupt keinen Sinn. Wegen solcher Vorwürfe drohen den Angeklagten lange Haftstrafen.

Können Sie beziffern, wie viele Journalisten in der Türkei wegen ihrer Arbeit vor Gericht stehen oder im Gefängnis sitzen?
Wir zählen derzeit mindestens 22 Medienschaffende, die in direktem Zusammenhang mit ihrer journalistischen Arbeit im Gefängnis sitzen. Die Betonung liegt auf »mindestens«, denn die Zahlen sind nur schwer zu ermitteln. Wir wissen, dass Dutzende weitere Medienschaffende im Gefängnis sitzen. Aber wir können nicht immer sofort den direkten Zusammenhang mit der journalistischen Arbeit nachweisen. Oft ist das sehr wahrscheinlich, aber solange wir nicht hundertprozentig sicher sein können, kommen diese Fälle nicht in unsere Statistik.

Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht die Türkei auf Platz 154 von 180 Staaten. Wie kommt das Ranking zustande?
Grundlage ist ein Fragebogen, der an zahlreiche Expertinnen und Experten weltweit verschickt und dann ausgewertet wird. Außerdem fließt ein, wie viele Übergriffe auf Medienschaffende stattgefunden haben. Der Zustand der Pressefreiheit hat sich nach dem Putschversuch vor vier Jahren stark verschlechtert. Neben den Inhaftierungen und Willkürprozessen ist es auch der Medienpluralismus, der stark angegriffen wurde. Einige Medien, sowohl Zeitungen als auch Fernsehsender, wurden geschlossen, andere wechselten den Besitzer. Mittlerweile gehören etwa 85 Prozent der nationalen Medien re­gierungsfreundlichen Geschäftsleuten und folgen der ­offiziellen Linie. Aber noch ist die Pressefreiheit in der Türkei nicht komplett tot. Noch gibt es sehr mutige Kolleginnen und Kollegen, die dort kritisch berichten – auch wenn die Reichweite ihrer Medien zum Teil sehr gering ist.

01.11.2018
Ausland Türkische Oppositionelle werden auch im Ausland verfolgt

Ausland schützt vor Verfolgung nicht

Die türkische Justiz verfolgt weiterhin regierungskritische Oppositionelle und Journalisten, selbst im Ausland sind sie bedroht. Die Freilassung einiger Deutscher kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es um die Menschenrechte in der Türkei schlecht bestellt ist.

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Die türkische Justiz macht nicht nur Journalisten und Oppositionellen in der Türkei selbst das Leben schwer, sondern auch denen, die geflüchtet sind oder im Ausland leben. Die Journalistin Edibe Doğan und ihre 13jährige Tochter Pelin sitzen seit fast 50 Tagen am Flughafen Zürich in Abschiebehaft. Nach Ablehnung ihres Asylantrags beschlossen die Schweizer Behörden, Mutter und Tochter nach Südafrika auszufliegen, weil beide über Kapstadt eingereist waren. Doğan legte Einspruch gegen diese Entscheidung ein, weil sie von dort eine Auslieferung in die Türkei befürchtet, wo ihr eine Gefängnisstrafe droht.

Doğan kommt ursprünglich aus Mardin, einer Stadt im Südosten der Türkei, wo die Bevölkerung überwiegend kurdisch ist. Tausende Kurdinnen und Kurden haben die Region und das Land wegen der Konflikte zwischen dem türkischen Militär und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verlassen. Doğan ließ sich 2004 in Dohuk in der Autonomen Region Kurdistan im Irak nieder. Die türkischen Behörden ­betrachten sie als Mitglied der PKK, weil die Organisation in den Kandil-Bergen ihr Hauptquartier hat. Doğan bestreitet, der PKK anzugehören, kann aber aufgrund dieser Vorwürfe nicht in die Türkei zurückkehren.

Die aufgezählten Straftatbestände ersetzen in der Türkei die Beweisführung. Die Delinquenten sitzen ohne Verurteilung eine Haftstrafe ab, die sich Untersuchungshaft nennt.

In Irakisch-Kurdistan arbeitete die Journalistin bei der Nachrichtenagentur Waarmedia und bei Zine Waar, einem monatlich auf Kurdisch erscheinenden Nachrichtenmagazin, das besonderes Gewicht auf frauen- und gesellschaftspolitische Themen legt. 2005 heiratete sie und bekam eine Tochter. Nach der Scheidung beschloss Doğan, weiterhin mit ihrem Kind in der Stadt zu leben. Als 2014 der »Islamische Staat« (IS) in der Region vorrückte und die Kräfteverhältnisse in der Gesellschaft veränderte, beschloss sie auszuwandern. Als geschiedene Frau war es für sie immer schwieriger geworden, mit einem Kind in Irakisch-Kurdistan zu leben.

»Meine Tochter ist 13 Jahre alt und sie hat ­keinen Personalausweis. Da wir keine Papiere hatten, konnten wir den Irak nicht verlassen. Die Präsenz des IS in nächster Nähe war für uns wie ein ­Alptraum. Für den Fall eines möglichen Angriffs gab es ein Dorf, in das die Leute flüchten konnten. Aber meine Tochter und ich hatten keine Verwandten, die uns dort aufnehmen könnten. Wir waren Fremde, als geschiedene Frau wird man dort als Störfaktor betrachtet«, sagte sie der Nachrichtenagentur Ahval. »Ich hatte Angst, dass die durch den IS grassierende Verrohung des Verhaltens gegenüber jungen Mädchen ­irgendwie auch Pelin betreffen könnte und dass ich sie nicht vor Übergriffen beschützen kann.«

Das Geld, das sie seit 2005 gespart hatte, gab sie Schleppern, so gelangten Mutter und Tochter schließlich über Südafrika in die Schweiz, wo Freunde leben, und beantragten Asyl. Die Schweiz hält Südafrika für ein sicheres Land. Doğan und ihre Tochter könnten jederzeit dorthin deportiert werden.

Humanitäre Fragen spielen in der ­europäischen Asylpolitik nur noch eine untergeordnete Rolle. Sicher wäre die Journalistin direkt in die Schweiz ­gereist, wenn es die Möglichkeit gegeben hätte, noch im Irak politisches Asyl zu beantragen. Doch die Flucht mit Schleppern und illegalen Netzwerken ist der einzige Weg für Menschen aus dem Irak und Syrien – auch wenn wie im Fall Doğans ein anderes Land, die Türkei, die größte Bedrohung für sie darstellt.

Schon seit 2015 werden in Mardin und anderen Provinzen im Südosten der Türkei immer wieder Ausgangssperren verhängt. Lokale Politiker werden ­unter fadenscheinigen Begründungen inhaftiert, etwa weil sie Reden in kurdischer Sprache bei öffentlichen Veranstaltungen gehalten haben, und wegen PKK-Propaganda angeklagt. Dabei war es die türkische Regierung selbst, die das Verbot des Kurdischen ab 2004 schrittweise lockerte. Der ehemalige Vorsitzende der prokurdischen Demokratischen Partei der ­Völker (HDP), Selahattin Demirtaş, kandidierte bei den Präsidentschafts­wahlen im Juni 2018 aus dem Gefängnis heraus. Seit November 2016 sitzt er mit fast der gesamten ehemaligen Parteispitze in Untersuchungshaft. Landesverrat, Propaganda und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung gehören zu den Vorwürfen.

Wie in anderen Verfahren auch ersetzen die aufgezählten Straftatbestände gleich die Beweisführung. Die Delinquenten sitzen ohne Verurteilung eine Haftstrafe ab, die sich Untersuchungshaft nennt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die türkische Regierung deshalb bereits mehrfach ermahnt.

Nach dem gescheiterten Militärputsch 2016 verhängte die türkische Regierung den Ausnahmezustand, der bis zu den Präsidentschaftswahlen regel­mäßig verlängert wurde. Seit Einführung des Präsidialsystems genügt ein Dekret des Präsidenten, um Bürgerrechte außer Kraft zu setzen. Das plötzliche Auftauchen von Tatvorwürfen gegen Unbequeme ist mittlerweile an der Tagesordnung.

Im Ausland lebende, sogar lediglich ehemalige türkische Staatsbürger, die der Regierung unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan kritisch gegenüber­stehen, sind bei der Einreise in die Türkei gefährdet. Nach 45 Tagen in türkischer Untersuchungshaft kam am 10. Oktober der wegen Präsidentenbeleidigung angeklagte Hüseyin M. aus Braunschweig frei. Eine Ausreisesperre sei nicht verhängt worden, sagte sein Anwalt Erdal Güngör der Deutschen Presseagentur nach dem Prozessauftakt in Ankara am 9. Oktober. M. dürfe nach Hause fliegen. »Der Prozess geht allerdings weiter«, sagte Güngör. Der nächste Termin sei für den 9. April 2019 angesetzt. Das Gericht habe M. unter anderem auf freien Fuß gesetzt, weil er keine Vorstrafen hat.

M. war Ende August während seines Urlaubs in der Türkei festgenommen worden. In der Anklageschrift heißt es, er habe Präsident Erdoğan am 23. Mai 2014 und am 27. Juli 2015 in Facebook-Einträgen beleidigt. Laut der Anklage soll der Braunschweiger in Posts Erdo­ğan sowohl 2014, als er noch Ministerpräsident war, als auch 2015, als er bereits Präsident war, unter anderem als »Kindermörder« bezeichnet haben. M. war von Unbekannten denunziert worden. Seit dem vereitelten Putsch von 2016 ist die türkische Bevölkerung dazu aufgefordert, jede Form von »staatsfeindlichen Aktivitäten« umgehend zu melden. Im August 2018 sei M. in gleich mehreren E-Mails, unter anderem an das Präsidialamt, angezeigt worden, so sein Anwalt Güngör. M. drohen weiterhin bis zu sechs Jahre Haft. Mit seiner Ausreise wird er für die türkische Justiz aber wohl nicht mehr greifbar sein, selbst wenn er bei folgenden Gerichtsterminen verurteilt werden sollte.

Seine Freilassung ist, wie in den Fällen der Journalisten Deniz Yücel und Meşale Tolu, politisches Kalkül. Tolu war sieben Monate, Yücel über ein Jahr in der Türkei inhaftiert. Tolu durfte auch nach ihrer Haftentlassung monatelang nicht ausreisen und konnte erst im August nach Deutschland zurückkehren. Bei ihrem jüngsten Prozess­termin in der Türkei am 16. Oktober wurde auch die Ausreisesperre gegen ihren Ehemann Suat Çorlu aufge­hoben, der ebenfalls wegen Terrorvorwürfen in der Türkei inhaftiert ge­wesen war.

Die Bundesregierung betont immer wieder, dass die Freilassung Deutscher aus türkischen Gefängnissen eine zentrale Verbesserung der bilateralen Beziehungen darstelle. Die systematische Missachtung von Menschenrechten im Land und die steigende Anzahl Asylsuchender in Europa hinderte eine prominent besetzte deutsche Wirtschaftsdelegation unter Vorsitz von Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) allerdings nicht daran, am Donnerstag und Freitag zur »Vertiefung der Zusammenarbeit in Wirtschafts- und Energiefragen« in die Türkei zu reisen; unter anderem zur Eröffnung der zweiten Sitzung der deutsch-türkischen Energietagung.

Deutsche Lippenbekenntnisse, Menschenrechte durchsetzen zu wollen, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Türkei derzeit eines der größten Gefängnisse für ­Oppositionelle weltweit ist. Außenpolitisch bleibt dies nahezu folgenlos.

23.02.2018
Die Rede von Cem Özdemir gegen den Antrag der AfD zu Deniz Yücel

Die AfD mitten ins Deutsche treten

Viele Linke fanden die Rede von Cem Özdemir "zu patriotisch". Ein Kommentar.

Kommentar von Bernhard Torsch
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Wer jetzt, da die AfD die SPD in Umfragen bereits überholt hat, immer noch nicht begreift, wie ernst die Lage ist, ist entweder jemand, der Politik weder versteht noch gestalten will, oder ein Kader-Linksextremist, der sich angesichts der drohenden Zerstörung der bürgerlichen Demokratie die Hände reibt und davon träumt, auf dem Trümmerfeld, in das die neuen Nazis Europa sicherlich verwandeln würden, endlich seine Diktatur des Proletariats zu errichten. Oder er ist ein Nazi.

Cem Özedmir ist nichts von all dem.

Der frühere Vorsitzende der Grünen nützte eine von der AfD angezettelte Bundestagsdebatte über Deniz Yücel dazu, die geistigen Nachfolger der NSDAP dorthin zu treten, wo es diese Leute wirklich schmerzt, nämlich mitten ins Deutsche. In einer emotionalen Rede sprach er den AfDlern rundweg ab, deutsche Patrioten zu sein, richtete ihnen aus, „aus dem selben verfaulten Holz wie Erdogan geschnitzt“ zu sein und sogar, horribile dictu in Germania, zur russischen Fußballnationalmannschaft zu halten statt zur deutschen.

Özdemir war aufrichtig empört über die ausgesuchte Niedertracht der  Deutschnationalen, einen Journalisten, der eben erst ein Jahr seines Lebens in einem türkischen Gefängnis verbringen hatte müssen, im deutschen Parlament vor ein Tribunal zu zerren, das die angeblich „antideutschen“ Schriftwerke dieses Journalisten verdammen sollte.

In den sozialen Netzwerken gab es viel Beifall für Özdemir, aber auch Kritik einiger Linker wegen seiner positiven Bezugnahme auf Deutschland und weil er der AfD, so twitterten manche, „ausgerechnet mangelnden Patriotismus“ vorwarf. Der Grüne zeichnete in seiner Brandrede ein idealisiertes Bild von diesem Land und sprach von einem Deutschland, das es in dieser Form gar nicht gibt.

 

Rechtsextremisten zapfen das in jeder Bevölkerung und insbesondere der deutschen vorhandene Reservoir pathischer Emotionen an. Dem kann man nicht mit Ratio allein begegnen, man muss schon auch mal selber zeigen, dass man Gefühle hat, dass man zur Empörung gegen die Inhumanität fähig ist.

 

Es ist aber das Deutschland, wie es sich Demokraten wünschen und wie es sich selbst gerne darstellt. Ein Deutschland, in dem eine wenigstens in Grundzügen an den Menschenrechten orientierte Rechtsstaatlichkeit gilt, wo Journalistinnen nicht verfolgt oder ermordet werden, wo man keine Minderheiten unterdrückt oder totschlägt und wo man aus der Geschichte gelernt hat, antidemokratische Regungen zu ächten.

Nein, das ist nicht die Realität in diesem Deutschland, wo die neuen Nazis zusammen mit Boulevardzeitungen und gut trainierten Social-Media-Kampftruppen die zivilisatorischen Errungenschaften wieder abschaffen möchten und „Bild“-Redakteure im Fernsehen fordern, die Justiz solle sich mehr am „gesunden Volksempfinden“ orientieren. Nein, in diesem Land, wo Gerichte ernsthaft Anfangsermittlungen gegen linke Zeitschriften wegen „Volksverhetzung“ beginnen und rassistische Netzwerke in Polizei und Geheimdiensten offenbar rechte Mörder schützten, ist nichts so harmlos, wie es zum Beispiel jenen Menschen, die aus Afghanistan oder Syrien hierher fliehen, von außen erscheint. Aber es gab in Deutschland, erzwungen durch die Siegermächte und vorangetrieben von gar nicht so wenigen Politikern und Politikerinnen, Gegenströmungen zur beklagenswerten Neigung vieler Deutscher zur Barbarei.

Das war und ist ein andauernder Kampf und diesen Kampf drohen nun die Barbaren zu gewinnen. Öffentliche Äußerungen, vor allem aber interne Mails und Chatverläufe in der AfD machen klar: Es ist ein Kampf, bei dem es um Leben und Tod geht. In so einem Kampf ist jedes Mittel recht, und sei es auch, die Neonazis mangelnder Liebe zu Deutschland zu überführen.

Rechtsextremisten zapfen das in jeder Bevölkerung und insbesondere der deutschen vorhandene Reservoir pathischer Emotionen an. Dem kann man nicht mit Ratio allein begegnen, man muss schon auch mal selber zeigen, dass man Gefühle hat, dass man zur Empörung gegen die Inhumanität fähig ist. Özdemirs Rede war ein Anfang.

22.02.2018
Inland Die Kölner Behörden wollen keine kurdischen Demonstrationen mehr zulassen

Die sind alle PKK

Das Vorgehen der Kölner Polizei und anderer Behörden gegen kurdische Demonstrationen höhlt das Versammlungsrecht aus. Das Erdoğan-Regime nimmt es erfreut zur Kenntnis.

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Köln ist so etwas wie die Hauptstadt für linke, prokurdische Demonstrationen in Deutschland. Damit soll jetzt Schluss sein. In den vergangenen Wochen wurden zahlreiche Demonstrationen gegen den türkischen Einmarsch in Syrien verboten. Begründet wurde das mit der Einschätzung von Polizei und Verfassungsschutzbehörden, dass der Verein Nav-Dem Teil der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK sei. Über ein mögliches Verbot des Vereins wollen sich die Behörden allerdings nicht äußern.

Ende Januar versuchten etwa 20 000 Kurden und ihre Unterstützer, gegen den türkischen Krieg im nordsyrischen Afrin zu demonstrieren. Die Polizei löste die Demonstration auf, nachdem in einem Block massenhaft Fahnen mit dem Konterfei des inhaftierten PKK-Gründers Abdullah Öcalans gezeigt worden waren.

Anschließend kam es vereinzelt zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizisten. Wenn es nach dem Willen der Kölner Polizei geht, war dies die letzte kurdische Großdemonstration in der Stadt. Zumindest, wenn Nav-Dem oder ein mit dem Dachverband verbundener Verein als Veranstalter der Demonstration auftritt.

Nav-Dem ist das »Demokratische Gesellschaftszentrum der Kurdinnen und Kurden in Deutschland«, seinen Sitz hat der eingetragene Verein in Düsseldorf. Er koordiniert und organisiert größere Veranstaltungen von linken Kurden in Deutschland, beispielsweise die Feiern und Demonstrationen zum kurdischen Neujahr Newroz oder ein jährliches Kulturfest im Sommer, zu dem regelmäßig um die 30 000 Menschen kommen. Zu aktuellen politischen Entwicklungen in der Türkei oder in den kurdischen Siedlungsgebieten nimmt der Verband regelmäßig Stellung. Sei es 2014, als die Kurden in Nordsyrien gegen den »Islamischen Staat« (IS) kämpften und PKK-Kämpfer maßgeblich an der Befreiung der Yeziden beteiligt waren, oder derzeit der türkische Einmarsch in Afrin. Dass Nav-Dem der verbotenen PKK nicht feindlich gegenübersteht, daraus macht der Verband kein Geheimnis. Immer ­wieder fordert Nav-Dem Freiheit für Abdullah Öcalan oder veranstaltet ­Gedenkveranstaltungen für getötete PKK-Kämpfer. Neu ist das nicht, es ­gehört zu den Kernthemen des Vereins.

 

Nav-Dem selbst sieht in den Verboten einen »Kniefall vor Erdoğan«. »Die Bundesregierung scheint sich daran zu stören, dass wir öffentlich auf die deutsch-türkische Waffenbrüderschaft aufmerksam machen. Deswegen sollen wir mundtot gemacht werden«, sagte Ayten Kaplan, die Kovorsitzende des Verbands.

 

Die Kölner Polizei hat nun allerdings wegen der angeblichen PKK-Nähe von Nav-Dem drei Demonstrationen am 11. und 18. Februar verboten. In der Verbotsverfügung heißt es: »Der Verein Nav-Dem e. V. ist eine Vereinigung der Arbeiterpartei Kurdistans. Die PKK ist eine durch den Bundesinnenminister am 28. November 1993 verbotene und mit einem Betätigungsverbot belegte Vereinigung. Somit hat die Nav-Dem als Nachfolgeorganisation das Recht, öffentliche Versammlungen und Aufzüge zu veranstalten und durch­zuführen, verwirkt.« Nach Angaben von Nav-Dem soll die Versammlungsbehörde auch mehreren Mitgliedern von kurdischen Vereinen in Telefongesprächen mitgeteilt haben, dass sie nicht versuchen bräuchten, weitere Demonstrationen anzumelden – diese würden ebenso verboten. Zudem begründet die Polizei die Verbote in Köln damit, dass es bei kurdischen Demonstrationen in der Vergangenheit zu Zwischenfällen gekommen sei. In den aufgeführten Beispielen, die teilweise zehn Jahre zurückliegen, geht es meist um das Zeigen von Öcalan- und PKK-Fähnchen.

Die Demonstrationsverbote in Köln sind unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten äußerst fragwürdig, möglicherweise stellen sie sogar eine Verletzung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit dar. Wenn es sich bei Nav-Dem um eine Nachfolgeorganisation der PKK handelt, dann wäre das Bundesinnenministerium zuständig. Dieses müsste den Verein verbieten – so man denn an der Politik des PKK-Verbots festhalten will. Diesen Schritt scheut die Behörde bislang aber offensichtlich. Auf Anfragen erhält man einsilbige Antworten. Nav-Dem werde vom Verfassungsschutz beobachtet, zu möglichen Maßnahmen gegen den Verein will sich das Ministerium nicht äußern.

Nav-Dem selbst sieht in den Verboten einen »Kniefall vor Erdoğan«. »Die Bundesregierung scheint sich daran zu stören, dass wir öffentlich auf die deutsch-türkische Waffenbrüderschaft aufmerksam machen. Deswegen sollen wir mundtot gemacht werden«, sagte Ayten Kaplan, die Kovorsitzende des Verbands. Sie befürchtet, mit den Verboten wolle die Bundesregierung das Verhältnis zur Türkei »begradigen«, und kündigte an, gegen die Verbote zu klagen.

Zur Freilassung Deniz Yücels habe beigetragen, dass die deutschen Behörden zuletzt schärfer gegen Demonstrationen vorgegangen seien, auf denen PKK-Symbole zu sehen waren, berichtete der ARD-Korrespondent Oliver Mayer-Rüth aus Istanbul am Tag von Yücels Freilassung. Dass es sich dabei aber fast immer um Symbole der in Deutschland nicht verbotenen syrisch-kurdischen Organisationen PYD und YPG handelte, erwähnte Mayer-Rüth nicht.

22.02.2018
Inland Nach der Freilassung Deniz Yücels wollen Deutschland und die Türkei ihre Geschäftsbeziehungen wieder normalisieren

Verständnis für Erdoğan

Nach der Freilassung Deniz Yücels geht es in der Türkei-Politik der Bundesregierung noch mehr als zuvor um Stabilität für den Handel. Das ist keine gute Nachricht.

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Man kann sich das Verhältnis zwischen Deutschland und der Türkei als Geschäftsbeziehung vorstellen. Beide Akteure mögen sich nicht, sind aber auf­einander angewiesen. Präsident Recep Tayyip Erdoğan nutzte seine rhetorischen Angriffe auf Deutschland und andere EU-Staaten im vergangenen Jahr, um sich bei dem Referendum über die Verfassungsreform als starker Mann zu präsentieren. Die Bundesregierung gab sich wegen Erdoğans Nazivergleichen und der Inhaftierung deutscher Staatsbürger entrüstet.

Das Referendum ist längst vorbei und auch die Bedingungen haben sich geändert. Außenpolitisch richtet sich der Zorn der türkischen Regierung mittlerweile vor allem auf die USA. Mit den Europäern und insbesondere Deutschland, dem größten Wirtschaftspartner, ebenfalls im Streit zu liegen, scheint nicht mehr opportun zu sein, zumal sich die ökonomischen und politischen Probleme in der Türkei häufen. Das Land ist mit allen seinen Nachbarn zerstritten, führt Kriege, die es nicht gewinnen kann, und steuert geradewegs auf eine ernsthafte Wirtschaftskrise zu.

Die türkische Wirtschaft wächst zwar deutlich, in diesem Jahr werden fast fünf Prozent Wachstum erwartet. Was die Regierung jedoch lieber verschweigt, ist der Umstand, dass dieses Wachstum nur dank hoher staatlicher Investitionen möglich ist. Das Geld dafür kam bislang größtenteils aus dem Ausland. Weil die Türkei viel Kapital ins Land holt und verhältnismäßig wenig exportiert, steigt das Außenhandels­bilanzdefizit seit Jahren.

 

Nach der Freilassung Deniz Yücels möchten beide Seiten ihre Geschäftsbeziehungen wieder normalisieren. »Wir haben eines dieser Probleme zwischen uns überwunden, nun müssen wir uns auf die positiveren Sachen konzentrieren«, sagte der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz am Wochenende.

 

Zugleich verliert die türkische Lira gegenüber dem Dollar und dem Euro stetig an Wert. Das treibt das ohnehin hohe Defizit weiter nach oben und ­befeuert die Inflation, die bereits wieder zweistellige Werte erreicht hat. Viele Unternehmen geraten nun in Schwierigkeiten, weil sie ihre Kredite in Dollar aufgenommen haben, aber nur Lira verdienen. Allein im Bausektor stieg 2017 die Zahl der Firmenpleiten um 121 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Die Bauunternehmen fordern deswegen die Regierung immer wieder auf, für niedrige Zinsen zu sorgen, damit die Kosten nicht noch weiter steigen. Die Zentralbank müsste eigentlich wegen der hohen Inflation die Leitzinsen erhöhen, unterlässt das aber auf Weisung der Regierung.

Hinzu kommt, dass der Geldfluss langsam versiegt. Ausländische Investoren sind wegen der zahlreichen Konflikte in der Türkei deutlich zurückhaltender als noch vor einigen Jahren. Zudem ist es Deutschland in den vergangenen Monaten gelungen, die internationale Finanzierung türkischer Großprojekte zu stoppen. Institutionen wie die Europäische Investitionsbank, die Europäische Bank für Wiederaufbau und der Internationale Währungsfonds finanzieren in der Türkei keine langfristigen Projekte mehr. Nun muss das türkische Schatzamt Garantien ausstellen.

Wenn Erdoğan die Parlaments- und Regionalwahlen im kommenden Jahr nicht inmitten einer schweren Wirtschaftskrise bestreiten will, muss er handeln. Mit einer Ausweitung der Zollunion könnte die Türkei beispielsweise mehr Agrarprodukte exportieren. Deutschland blockiert bislang in der EU die Verhandlungen über die Zollunion und bremst auch bei denen über Visa-Erleichterung für türkische Staatsbürger. Das könnte sich nun bald ändern.

Nach der Freilassung Deniz Yücels möchten beide Seiten ihre Geschäftsbeziehungen wieder normalisieren. »Wir haben eines dieser Probleme zwischen uns überwunden, nun müssen wir uns auf die positiveren Sachen konzentrieren«, sagte der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz am Wochenende. Vor allem in den Bereichen Wirtschaft, Energie und Sicherheit wünscht er sich von seinem deutschen Amtskollegen und »lieben Freund« Sigmar Gabriel schnelle Verbesserungen.

Wie rücksichtslos das Erdoğan-Re­gime mittlerweile vorgeht, zeigt auch der Umgang der türkischen Delegation in München mit Cem Özdemir. Der Außenpolitiker der Grünen, während der Sondierungsgespräche für eine »­Jamaika-Koalition« zeitweise als künftiger Bundesaußenminister gehandelt, traf in seinem Hotel zufällig auf die Bodyguards des türkischen Ministerpräsidenten Binali Yıldırım. Die beschwerten sich daraufhin bei der Münchner Polizei, ein »Terrorist« befinde sich in ihrem Hotel – gemeint war Özdemir. Daraufhin wurde nicht etwa die türkische Delegation wegen des offensiven Ignorierens diplomatischer Mindesthöflichkeit nach Hause geschickt, sondern Özdemir vorsorglich unter Polizeischutz gestellt.

Çavuşoğlu wird mit seinen Wünschen in Berlin auf Verständnis stoßen. Das Credo deutscher Außenpolitik lautet schließlich »Stabilität« – gerade für den Nahen Osten. Deshalb werden die Beziehungen zum diktatorischen Präsidenten Ägyptens, Abd al-Fattah al-Sisi, ebenso gepflegt wie die zum islamistischen Regime in Teheran, während sich der geschäftsführende sozial­demokratische Außenminister um eine Annäherung an Russland bemüht. Der größte Albtraum für die derzeitige Bundesregierung ist nicht ein türkischer Präsident, der vor Kraft kaum laufen kann. In Berlin fürchtet man eher, dass die Türkei sich in eine nahöstliche Despotie verwandelt, die als failed state endet. Dabei zeigt die Erfahrung der vergangenen Jahrzehnte, dass die Unterstützung autoritärer Regime gerade jene Zustände fördert, die eigentlich verhindert werden sollen.

22.02.2018
Inland Notizen aus Neuschwabenland, Teil 25 – AfD-Politiker hetzen gegen Deutschtürken

Wer deutsch ist, bestimmt die AfD

Notizen aus Neu­schwa­benland, Teil 25: Während Alice Weidel und André Poggenburg einmütig Stimmung gegen türkischstämmige Deutsche machen, geht die »Junge Freiheit« scheinbar unter die Feministen.

Kolumne von Volker Weiß
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NSL

Töne einer Moderaten: Alice Weidel, Kovorsitzende der AfD-Bundestagsfraktion, kommentierte die Freilassung von Deniz Yücel mit den Worten, dieser sei »weder Journalist noch Deutscher«. Wie auch ihre Attacke auf den »Kulturmarxismus« vor einem Monat (Jungle World 6/2018) war das Statement astreiner Nazi-Sprech. ­

Zumindest würde man es bei Weidels österreichischen Vorbildern von der FPÖ so nennen. Wie man bei diesen sehen konnte, ist solch eine Rhetorik gut geeignet, um die eigene Klientel bei Laune zu halten. Mäßigung erwartet mit Ausnahme einiger Leitartikler niemand von der AfD, am wenigsten ihre eigenen Anhänger. Als bemerkenswerter Nebeneffekt vereint die Freilassung Yücels (wie ­zuvor bereits dessen Inhaftierung) AfD- und Erdoğan-Trolle in Hasstiraden. Wer noch immer noch nicht begriffen hat, welche Charaktere sich in der AfD tummeln, wird sich auch an dem Statement von Weidel nicht stoßen. Ein wenig LTI ist doch noch kein Beweis für Rechtslastigkeit, ließe sich sarkastisch in Erinnerung an das ­Notizbuch über die »Lingua Tertii Imperii« sagen, die Sprache des sogenannten Dritten Reiches, das der Holocaust-Überlebende ­Victor Klemperer verfasste.

Das dürfte auch der Landesvorsitzende der AfD in Sachsen-Anhalt, André Poggenburg, so sehen. Beim politischen Aschermittwoch der AfD im sächsischen Nentmannsdorf bezeichnete er vor 1 200 Gästen die Mitglieder der türkischen Community in Deutschland als »Kümmelhändler«, die »einen Völkermord an 1,5 Millionen Armeniern am Arsch« hätten. »Diese Kameltreiber sollen sich dahin scheren, wo sie hingehören«, so der Redner vor der johlenden Menge. Alles keine Deutschen – da war sich Poggenburg mit Weidel einig.

Das Treffen in dem kleinen Ort im Erzgebirge war prominent besucht. Wie der MDR meldete, waren mit Jörg Urban (Sachsen), Björn Höcke (Thüringen) und Andreas Kalbitz (Brandenburg) gleich drei AfD-Landesvorsitzende anwesend. Zudem befand sich der ­Pegida-Leiter Lutz Bachmann unter den Zuhörern und erntete Lob von Höcke. Der Vorstand der Türkischen Gemeinde in Deutschland stellte wegen Beleidigung und Volksverhetzung Strafanzeige gegen Poggenburg. Es folgte das übliche Theater: ein wenig Abmahnung vom Bundesvorstand, etwas Zerknirschung und viel Medienaufmerksamkeit. Im Nachhinein bagatellisierte Poggenburg seine Wortwahl als Satire. Normalerweise vertritt die AfD in vergangenheitspolitischen Fragen eine Linie, die der der Türkei ähnelt: Stolz auf die Vorväter und Ignoranz gegenüber ihren Verbrechen. Gerade erst hat der baden-württembergische AfD-Politiker Wolfgang ­Gedeon gefordert, die Verlegung von »Stolpersteinen« im Gedenken an NS-Opfer einzustellen. Eingestellt wurde im Januar jedenfalls das wegen seiner antisemitischen Schriften eingeleitete Parteiausschlussverfahren gegen Gedeon. Alles beim Alten also in der Partei, von der das Immer-noch-SPD-Mitglied Thilo Sarrazin gerade verkündete, dass sie die SPD als »Partei der kleinen Leute« ablösen werde.

Bei der AfD-nahen Wochenzeitung Junge Freiheit (JF) indessen scheint die Welt Kopf zu stehen. »Frauen, die aufbegehren, wurden schon immer gerne mundtot gemacht«, ist dort zu lesen. Man stehe am »Beginn einer systematischen Diskriminierung von Frauen in Deutschland«. Drei Jahrzehnte schoss das Blatt aus allen Rohren gegen die Selbstbestimmung von Frauen und sah im Feminismus einen apokalyptischen Reiter. Bei Protesten gegen geschlechterspezifische Diskriminierung hielt die Redaktion stets dagegen. »Dann mach doch die Bluse zu«, hieß der Kommentar zur ­sogenannten Aufschrei-Debatte, für den Birgit Kelle von der JF mit einem Preis ausgezeichnet wurde. Doch jetzt mobilisiert die JF zu den »Frauenmärschen«, mit denen rechte Gruppen Stimmung gegen Migranten machen wollen. Die Zeitung bemühte sogar das ­berüchtigte »Komm, Frau, komm!«, den Ausdruck für Vergewaltigungen durch Rotarmisten gegen Kriegsende. Bei sexuellen Übergriffen durch »Fremde« rücken Frauenrechte plötzlich in den Vordergrund.

Allerdings waren diese Demonstrationen bisher eine äußerst männliche Angelegenheit – zuletzt am Samstag in Berlin-Kreuzberg zu besichtigen, als sich an einer von der AfD-Politikerin Leyla Bilge angemeldeten Demonstration etwa 500 Personen beteiligten, hauptsächlich Männer, darunter Dutzende Neonazis. Doch wer weiß, vielleicht haben die Teilnehmer ja kurzerhand ihr Geschlecht umdefiniert. Schließlich soll, wo Feminismus ist, die Gendertheorie ja nicht weit sein.

08.02.2018
Interview Evin Barıș Altıntaş, Präsidentin der Media and Law Studies Association, im Gespräch über Verfahren gegen Journalisten in der Türkei

»Die Anklagen kommen spät«

Im Dezember 2017 gründete die Journalistin Evin Barış Altıntaş gemeinsam mit dem Rechtsanwalt Veysel Ok die Media and Law Studies Association (MLSA) in Istanbul, die sich für die Rechte inhaftierter Journalistinnen und Journalisten einsetzt. Mit der »Jungle World« sprach Altıntaş über Untersuchungshaft als Strafe, die Willkür der Gerichte und den Fall Deniz Yücel.

Interview von Julia Hoffmann
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Ihre Organisation möchte die Demokratie in der Türkei stärken. Weshalb ist das die Aufgabe einer NGO?
Es ist ja eine philosophische Frage, wer in einem Land für die Demokratie ­zuständig ist. Ist es der Staat? Ist es die Zivilgesellschaft, die Bürgerinnen und Bürger? In der Türkei sind wir an einem Punkt angelangt, an dem alle bürgerlichen Freiheiten erodieren. Wenn wir in diesem Land bleiben möchten, was unsere Absicht ist, müssen wir versuchen, etwas daran zu ändern.

Wir versuchen, Journalisten und ihre Anwälte im Gefängnis zu schützen, aber auch Akademikerinnen und Akademiker, die ebenso verfolgt werden, weil sie ihre Meinung äußern. Wir müssen in Zukunft gute und stabile Institu­tionen wiederherstellen oder neu aufbauen, die, wenn die augenblickliche Phase vorüber ist, in einem demokratischen Staat weiterbestehen können. Darauf wollen wir vorbereitet sein.

 

 

»Die einzigen Beweise sind Tweets, Äußerungen in sozialen Medien oder Zeitungsartikel. ­Ansonsten gibt es keine Beweise für die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Das ist auch ein Grund, weshalb die Anklagen so spät kommen. Die Staatsanwälte finden einfach keine Beweise für die entsprechenden Anschuldigungen.«

 

 

Auf Ihrer Homepage befindet sich eine lange Liste der in der Türkei ­inhaftierten Journalistinnen und Journalisten. Weshalb ist die ­Mehrheit der Inhaftierten bislang nicht angeklagt oder verurteilt ­worden?
Viele der Beschuldigten sind bereits vor dem Putschversuch im Juli 2016 verhaftet worden. Einige von ihnen wurden verurteilt und bestraft. Auch die nach dem Coup Verhafteten haben fast alle ihre Anklage erhalten, mit Ausnahme von Deniz Yücel, der nun seit einem Jahr ohne Anklage im Gefängnis sitzt. Aber Anklagen kommen spät. Sechs bis acht Monate kann es in einigen Fällen dauern, annähernd ein Jahr in anderen. Es ist aber auch kein Geheimnis, dass die Türkei Untersuchungshaft als Strafe nutzt. Zahlreiche Menschenrechtsgruppen wie Human Rights Watch und das Komitee zum Schutz von Journalisten haben das immer wieder hervorgehoben. Der Hälfte der Kollegen, die nach dem Coup fest­genommen wurden, werden Straftaten im Zusammenhang mit dem versuchten Putsch vorgeworfen, also eine Verbindung zur Gülen-Bewegung, oder sie haben schlicht Dinge getwittert, die der Regierung nicht gefielen. Die Ankläger haben eigentlich keine Beweise für ihre Vorwürfe. Die einzigen Beweise sind Tweets, Äußerungen in sozialen Medien oder Zeitungsartikel. ­Ansonsten gibt es keine Beweise für die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Das ist auch ein Grund, weshalb die Anklagen so spät kommen. Die Staatsanwälte finden einfach keine Beweise für die entsprechenden Anschuldigungen.

Die andere Hälfte der inhaftierten Journalisten kommt von kurdischen oder linken Medien. Das Problem mit den verschleppten Anklagen rückt momentan aber sogar in den Hintergrund. Denn die Menschen werden auch nach Anklage und Freispruch entweder nicht freigelassen oder sofort wieder inhaftiert. So ist das vorige Woche im Fall von Taner Kılıç geschehen, dem türkischen Direktor von Amnesty International. Das Gericht hatte seine Freilassung verfügt, doch er wurde noch im Gefängnis wieder verhaftet. Auch die beiden Journalisten Mehmet Altan und Şahin Alpay sind weiter inhaftiert, obwohl das Verfassungsgericht die Freilassung angeordnet hatte.

Wir sind also an einem Punkt angelangt, wo es egal ist, ob eine Anklage oder ein Freispruch vorliegt.

Ihr Kollege Veysel Ok hat den Fall von Mehmet Altan und Şahin Alpay als Präzedenzfall bezeichnet. Was macht ihn so besonders?
Tatsächlich hat hier das türkische Verfassungsgericht zum ersten Mal über Journalisten geurteilt. Das Gericht entschied, dass die Rechte von Altan und Alpay während ihrer Inhaftierung verletzt worden seien und sie freigelassen werden müssen. Besonders wichtig an dem Verfassungsgerichtsurteil ist, dass sie das geschriebene oder gesprochene Wort alleine nicht als Beweis für eine Terrorunterstützung akzeptieren. Wenn es also keine weiteren Beweise für einen Terrorverdacht gibt, ist eine Inhaftierung unzulässig. Gegen die meisten der inhaftierten Journalisten liegen keine anderen Beweise als ihre Artikel oder Tweets vor. Unglücklicherweise ist das Strafgericht dem Spruch des Verfassungsgerichtes aber nicht gefolgt. Gemäß der türkischen Verfassung ist der Spruch zwar bindend, denn das Verfassungsgericht hat das letzte Wort, dennoch wurden beide Kollegen nicht freigelassen.

Es kommt auch vor, dass ganze ­Verhandlungen verschoben werden, so wie kürzlich in einem weiteren Fall gegen Angestellte der Zeitung Cumhuriyet.
In diesem Fall gab es im Dezember die fünfte Anhörung, bei der wir die Hoffnung hatten, dass die drei Inhaftierten freikommen würden. Das war nicht der Fall. Es gab zwischen dem Richter und einem der Angeklagten, Ahmet Şık, einen Wortwechsel. Er wurde des Saales verwiesen. Die nächste Anhörung findet nun erst im März statt. Şık, der Chefredakteur Murat Sabuncu und Herausgeber Akın Atalay bleiben also in Haft.

In einigen Fällen wurde bereits der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte angerufen. Wird die Türkei dessen Urteile anerkennen?
Momentan befinden sich die Fälle von Deniz Yücel, Mehmet Altan und Şahin Alpay vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Wir erwarten, dass sie bald entschieden werden, ­obwohl es schwierig ist, einen genauen Zeitpunkt vorherzusagen. Ich kann mir schwer vorstellen, dass die Türkei eine Entscheidung ignorieren würde. Andererseits hat sie das ja mit dem eigenen Verfassungsgericht auch schon getan. Die Weigerung, sich an ein solches Urteil zu halten, würde aber bedeuten, dass die Türkei endgültig gewillt ist, einen anderen Weg einzuschlagen. Ich hoffe, dass es dazu nicht kommt.

Neben den inhaftierten Journalisten gibt es ja auch viele Anwälte, die verhaftet wurden.
Die meisten Juristen wurden ebenfalls im Zuge des Putschversuches inhaftiert. In der Vergangenheit wurden aber auch Strafverteidiger festgenommen. Wir sind sehr vorsichtig geworden und wählen unsere Schritte mit Bedacht. Aber es gibt natürlich Risiken in einer Situation, die politisch so aufgeheizt ist.

Der Ausnahmezustand in der Türkei wurde im Januar abermals ­verlängert. Gleichzeitig führt die Türkei nun einen Krieg in Syrien. Ist die Bevölkerung besorgt?
Die Hälfte der Menschen haben ja für Erdoğan und für das Präsidialsystem gestimmt. Und ich schätze, dass 70 bis 80 Prozent der Türken die Militär­operation in Syrien unterstützen. Die wenigen Gegner des Krieges haben unter der Repression des Staates zu leiden. Ihnen wird ebenfalls die Nähe zu einer terroristischen Vereinigung ­vorgeworfen. Über 300 Leute wurden bereits festgenommen, weil sie Kritik geäußert haben. Unsere Regierung will sehr offensichtlich nicht, dass die Bürgerinnen und Bürger ihre Meinung zur Intervention in Syrien sagen.

Die Türkei ist ein sehr polarisiertes Land. Freunde und Verwandte reden nicht mehr miteinander. Es wird lange dauern, den sozialen Frieden wiederherzustellen.

 

08.02.2018
Inland Im Fall Deniz Yücel ist kein rechtsstaatliches Verfahren zu erwarten

Keine Frage der Ehre

Seit einem Jahr ist der »Welt«-Korrespondent und Mitherausgeber der »Jungle World«, Deniz Yücel, in der Türkei ohne Anklage in Geiselhaft. Er ist ungebrochen.

Kommentar von Ivo Bozic
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Vor ziemlich genau elf Jahren stellte Deniz Yücel in dieser Zeitung »Mutmaßungen über ein Land, seine Leute und seine Mörder« an, also über die gesellschaftliche Verfasstheit der Türkei kurz nach dem Mord an dem Journalisten Hrant Dink. Diesen hatte Deniz zwei Jahre zuvor für die Jungle World interviewt . In seinem Essay verglich er das Attentat mit den vielen Hundert Ehrenmorden, die damals bekannt wurden.

»Jedes Schulkind könnte sagen, was diesen Mord von den anderen Fällen unterscheidet. Interessant aber sind die Gemeinsamkeiten.« Deshalb beschäftigte sich Deniz mit dem Phänomen der »Ehre«, des Beleidigtseins in der Türkei, das auch eine politische Dimension hat. Der Mörder von Hrant Dink hatte als Motiv angegeben, dass der Journalist die Türken »beleidigt« habe. 2005 war Dink von einem Gericht wegen »Beleidigung des Türkentums« verurteilt worden. Deniz diagnostizierte einen »tief in der Gesellschaft sitzenden und mit einem kollektiven Größenwahn verbundenen Minderwertigkeitskomplex, den die Landsleute bekanntermaßen oft vor aller Welt zur Schau stellen«.

 

Er trägt einen Bart, hat ein paar graue Haare mehr als früher, so hören wir von den wenigen Menschen, die ihn zu Gesicht bekommen. Die rechte Handfläche ist mit dicker Hornhaut bedeckt: vom Schreiben mit dem Stift. Er schreibt viel. Am 14. Februar erscheint sein neues Buch

 

Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat in den vergangenen Jahren diesen Komplex bis zur Lächerlichkeit zur Schau gestellt. Er war ­angeblich ständig »beleidigt«. Es ist immer dasselbe: Besonders schnell in ihrer Ehre verletzt sind jene, die über nichts verfügen, was ehrbar wäre; die weder in der Lage sind, respektvollen Umgang mit anderen zu pflegen, noch, eigene Schwächen einzugestehen.

Tatsächlich sitzt Deniz auch deswegen noch immer im Knast. Erdoğan will sich als starke, gnadenlose Siegertype inszenieren – dies jedoch nicht nur aus Egomanie. Es geht bei seinem nationalen, neoosmanischen Größenwahn nicht um Gefühlsduselei, sondern um knallharte Politik. Und Deniz ist eine Geisel, die für den Despoten nun, da er auch noch einen neuen Krieg vom Zaun gebrochen hat, noch wertvoller geworden ist.

Einmal hat die Türkei bereits vergeblich versucht, das Faustpfand einzulösen, sie wird es nun nicht leichtfertig herausrücken – aber, so müssen wir als Freunde und Kollegen von Deniz wohl ­hoffen, es irgendwann doch gezielt einsetzen, am besten bald. Auf ein rechtsstaatliches Verfahren zu hoffen, wäre naiv. Und ­sicher wird Erdoğan dann – indirekt natürlich, aber dennoch unverhohlen – herausstellen, dass er eine großartige Gegenleistung dafür erhalten habe – ein Waffengeschäft, ein Zugeständnis der Nato oder was auch immer. Ob dies tatsächlich Ergebnis eines »Deals« gewesen sein wird, wird vermutlich Auslegungssache sein. Deniz wird darauf keinen Einfluss haben.

Aber er hat deutlich gemacht, dass er das ablehnt, dass er seine Freiheit nicht einem Panzerdeal verdanken möchte. Er ist un­gebrochen, sagt weiterhin, was er denkt, und hat angekündigt, dass er die Häftlingsuniform, die in der Türkei für angebliche Terroristen eingeführt werden soll, um Gefangene bei Erscheinen vor Gericht zu stigmatisieren, auf keinen Fall tragen wird – bei allen möglichen Konsequenzen. Nicht wegen der »Ehre«, sondern wegen des Rechtsstaats, in dem ein Angeklagter vor dem Richter eine Chance haben muss.

Deniz geht es den miserablen Umständen entsprechend gut, er hat gelernt, mit dem Knastalltag zurechtzukommen. Er trägt einen Bart, hat ein paar graue Haare mehr als früher, so hören wir von den wenigen Menschen, die ihn zu Gesicht bekommen. Die rechte Handfläche ist mit dicker Hornhaut bedeckt: vom Schreiben mit dem Stift. Er schreibt viel. Am 14. Februar erscheint sein neues Buch (siehe Imprint). Er hat es unter abenteuerlichen Umständen im Knast selbst redigiert.

Und so vergeht die Zeit. Wie viele Sommer hat man? Wie viele Schneemänner kann man bauen? Unsere Zeit auf der Erdkugel ist natürlicherweise begrenzt. Ein ganzes Jahr seines Lebens hat man unserem Freund nun schon geraubt. Währenddessen serviert Bundesaußenminister Sigmar Gabriel seinem »Freund« und Amts­kollegen Mevlüt Çavuşoğlu Tee. Über die Nachrüstung der deutschen Leopard-Panzer könne man reden, sagt er, vielleicht während er ­gerade nochmal nachschenkt. Eine Woche später ist Krieg. Ups! Erdoğan zieht in die Schlacht – und der offenbar völlig perplexe ­Gabriel? Ist »besorgt«.

Wer meint, die Bundesregierung verhalte sich aus taktischen Gründen so gefällig, um Deniz zu helfen, missversteht die Lage. Sie hat auch kein Deniz-Yücel-Problem, sie hat, wie die Nato, das ­Problem, keine Strategie und keinen Plan für den Nahen Osten zu haben und schon gar nicht für den Umgang mit der Türkei.

Das Einzige, was sie hat, sind wirtschaftliche Interessen und schlechte Berater. In diesem außenpolitischen Hohlraum kann sogar eine Luftnummer wie Erdoğan gemütlich seine Trümpfe ausspielen. Gabriel hingegen musste sich korrigieren, die Panzer-Nachrüstung wurde jetzt doch vorläufig zurückgestellt, ansonsten herrscht Schweigen.

Und Deniz hockt weiter in Block neun der gewaltigen Gefängnisanlage in Silivri.
Er ist deswegen aber nicht »beleidigt«, nicht »in seiner Ehre verletzt«. Für so etwas ist er viel zu klug.

08.02.2018
dschungel Texte aus dem türkischen Knast

»Wir sind ja nicht zum Spaß hier«

Am Jahrestag seiner Verhaftung erscheint Deniz Yücels Buch »Wir sind ja nicht zum Spaß hier« mit einer Sammlung überarbeiteter Reportagen, Glossen und Artikel sowie einer Neuveröffent­lichung. Wir dokumentieren die im Gefängnis entstandenen Berichte.

Imprint von Deniz Yücel
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Dieser Text erscheint nur in der Print- und in der PDF-Ausgabe 06/18.

11.01.2018
Ausland Der türkische Präsident setzt seinen autoritären Kurs mit Dekreten fort

Mit Knüppel auf dem Dach

Mit seinen Dekreten fährt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan unbeirrt seinen autoritären Kurs weiter.

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In der Silvesternacht begleitete die Bevölkerung in Istanbuls Innenstadt­bezirk Beyoğlu Hubschrauberlärm ins neue Jahr. Über 20 000 Polizisten und Spezialeinheiten der paramilitärischen Jandarma taten Dienst am Bosporus. Der Taksim-Platz wurde weiträumig abgesperrt, alle Passanten wurden durchsucht – eine Vorsichtsmaßnahme, nachdem in der Silvesternacht 2016 ein jihadistischer Attentäter 39 Menschen im Istanbuler Nachtclub Reina ­ermordet hatte. Seit der »Islamische Staat« (IS) im Irak und Syrien immer mehr an Territorium verliert, fliehen viele seiner Anhänger über die grüne Grenze in die Türkei. Im vergangenen Jahr wurden etwa 1 000 von ihnen festgenommen. In der Silvesternacht blieben Anschläge aus, nur einige ­Versprengte schlossen sich »Anti-Weihnachts-Kampagnen« an, die im Dezember 2016 die unheilvolle Ouvertüre des grausamen Anschlags gewesen waren.

In den sozialen Medien kursierten damals Videos, die zeigten, wie der Weihnachtsmann als Agent des Westens exekutiert wird. Die Betreiber des Twitter-Accounts Misvak veröffentlichten Zeichnungen, auf denen der Weihnachtsmann von seinem Rentierschlitten Bomben auf syrische Kinder wirft. Kurz nach dem Anschlag auf das Reina kursierten einen Tag lang Gerüchte, der Attentäter habe sich mit einem Weihnachtsmannkostüm getarnt. Nach der Auswertung von Kameraaufnahmen aus der Schreckensnacht erwies sich das als falsch, es war aber ein Anzeichen für die Polarisierung und die Wirkung der Agitation im vorvergangenen Jahr.

Der Jahreswechsel 2017/2018 verlief weniger aggressiv. Manche Videos aus dem islamistischen Umfeld wirkten gar ungewollt satirisch. So etwa die Nachtwache eines bärtigen selbsternannten Wächters Gottes, der mit einem Knüppel auf dem Dach seines Hauses am Schornstein stand und geiferte, er werde es dem Weihnachtsmann, diesem Knecht des Westens, schon zeigen, wenn er es wage, hier aufzutauchen. Nach dem Freitagsgebet vor Weihnachten vermengten sich Antiweihnachtsaktivisten und propalästinensische Demonstrierende auf skurrile Weise. Ein Cartoonist der Satirezeitschrift LeMan kommentierte diese Allianz in den sozialen Netzwerken: »Wenn die Katze vom Dach fällt, dann fällt auch Jerusalem.«

Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan ließ bei seiner Neujahrsansprache keinen Zweifel aufkommen, wer für die Destabilisierung im Land verantwortlich sei. »2018 erwarten uns entscheidende Entwicklungen. In dieser kritischen Zeit dürfen wir keine Zwietracht unter uns säen lassen«, so der Staatschef. Die PKK wurde als niederträchtigste Verräterbande an die Spitze der Staatsfeinde gestellt, gefolgt von der »Terrororganisation des Fethullah ­Gülen«, kurz Fetö genannt. Wer zu den Unterstützern dieser inneren Feinde der Türkei gezählt werden soll, bestimmt der Präsident bereits seit dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016 auf der Grundlage des noch immer geltenden Ausnahmezustandes per Dekret. Diese Legislativ-Dekrete, die sogenannten KHK, geben den Entscheidungen des Präsidenten de facto Gesetzeskraft. Seit Dezember verlieren Menschen ­allein wegen des Verdachts, einer Terrororganisation anzugehören, ihre Bürgerrechte, dürfen festgenommen, ent­eignet und auf unbestimmte Zeit festgehalten werden. Die Äußerungen des türkischen Außenministers Mevlüt Çavuşoğlu in einem Interview mit der Nachrichtenagentur DPA kurz vor einem freundschaftlichen Besuch bei seinem deutschen Amtskollegen Sigmar Gabriel, der Fall Deniz Yücel besitze trotz der schweren Vorwürfe gegen den Journalisten keine spezielle politische ­Bedeutung, heißen wenig. Denn die gesamte Politik und Justiz werden seit ­eineinhalb Jahren außergewöhnlich autokratisch gehandhabt.

Die Niederschlagung des Putschversuchs hat die Zahl der Anhänger des türkischen Präsidenten – des Reis, wie er in der Bewegung genannt wird – weiter wachsen lassen. Das knüppelbewehrte Vorgehen gegen den Weihnachtsmann auf dem Dach ist zwar ein absurdes Schauspiel, passt aber zu den Phantasien, die in diesem Umfeld blühen. Das symbolische Erhängen von Fethullah-Gülen-Puppen auf Versammlungen gehört ebenso dazu wie die Verhöhnung der Feinde durch den Präsidenten. Dekrete aus dem Präsidentenpalast geben die Richtung vor. Von manchen erfährt die Bevölkerung erst durch die parlamentarischen Einsprüche der Opposition.

 

Wie in Guantánamo

 

So monierte die Fraktion der Republikanischen Volkspartei (CHP) am 26. Dezember, dass künftig mutmaßliche Straftäter aus dem Umfeld der Putschisten im Gefängnis beigefarbene Overalls, mutmaßliche Mitglieder anderer »Terrororganisationen« graue tragen sollten. Diese Uniformierung wurde zunächst auf Agitationsveranstaltungen der islamisch-konservativen Bewegung nach der Niederschlagung des Putschversuchs 2016 propagiert. Auf diesen hatten Aktivisten orangefarbene Overalls, wie sie die Gefangenen in Guantánamo tragen mussten, als Einheitskleidung für Putschisten gefordert – sowie deren Hinrichtung in solcher Kleidung. Ganz abgesehen von den erheblichen Kosten, die der Staatskasse im Fall der Neueinkleidung Tausender politischer Gefangener drohen, ist diese bislang noch nicht eingeführte Uniformierung von Häftlingen sicherlich deren geringstes Problem.

Die Polizei wurde autorisiert, bis zu 7000 Privatpersonen als Aufpasser in Stadtvierteln und auf Märkten einzusetzen.

Der türkische Dienst der BBC veröffentlichte Ende Dezember eine Liste der bislang erlassenen 18 Dekrete. Demzufolge wurden 28 284 Beamte und ­Angestellte des Staats entlassen, 1554 von ihnen haben ihre Stellen zurück­erhalten. Die Entlassenen verloren ihre berufliche Absicherung, viele ihre Dienstwohnung, und wurden lebenslang aus dem Staatsdienst ausgeschlossen. Hunderte Publikationsorgane, Stiftungen, Vereine und Privat­schulen wurden geschlossen. Dekrete müssen wegen ihres besonderen rechtlichen Charakters nicht detailliert begründet werden, was der Willkür Tür und Tor öffnet. So kann mittlerweile Staatsbürgern, gegen die ermittelt wird und die innerhalb von drei Monaten nicht von Auslandsaufenthalten zurückkehren, die Staatsbürgerschaft entzogen werden. Die Befugnisse der Militärbefehlshaber wurden begrenzt, die des Verteidigungsministeriums ­erweitert. Zukünftig dürfen auch Grundschulabgänger Berufssoldaten werden. Die Polizei wurde autorisiert, bis zu 7000 Privatpersonen als Aufpasser in Stadtvierteln und auf Märkten einzusetzen. Bislang sind diese Wächter noch nicht im Dienst, Oppositionelle befürchten jedoch, dass sich semioffizielle Moralapostel im zivilen Leben etablieren könnten. Solche Wächter in Stadtvierteln gab es bereits nach dem Militärputsch von 1980, sie sind also nichts völlig Neues, doch Erdoğans Dekret­praxis lässt Schlimmeres als damals befürchten.

Der militärische Geheimdienst MIT wurde direkt dem Präsidenten unterstellt und dazu autorisiert, alle möglichen Ermittlungen in den Kreisen von Mitarbeitern der Ministerien und Angehörigen des Militärs durchzuführen. Abgeordnete genießen keine Immunität mehr, solange der Ausnahmezustand in Kraft ist. Damit übt der Präsident eine weitgehende Kontrolle über Exekutive, Legislative und Judikative aus.

Kurz vor Neujahr meldete sich der ehemalige Staatspräsident Abdullah Gül zu Wort und kritisierte, dass die Dekretpolitik zu weit gehe. Es kursiert das Gerücht, Gül werde als Gegenkandidat zu Erdoğan im Wahljahr 2019 antreten. Im kommenden Jahr werden in der Türkei neue Lokalpolitiker, das Parlament und der mit besonderen Vollmachten ausgestattete Präsident gewählt. Der Kolumnist Dinçer Demirkent veröffentlichte am 4. Januar dazu ­einen treffenden Kommentar auf der Online-Plattform »Gazete Duvar«. Er warnte vor den Hoffnungen, die Güls zaghafte Einsprüche möglicherweise wecken konnten, und erinnerte daran, dass dieser ein alter Weggefährte Erdoğans und Mit­begründer der »Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung« (AKP) ist. Für Erdo­ğan zähle nur die unter seiner Führung geeinte Partei, die gegen viele Feinde zu kämpfen habe, und Gül sei nicht so dumm, sich auf Feindesseite zu stellen. Dem neoosmanischen Despotismus erwächst bislang keine wirkungsvolle Opposition.