Let’s Roll

Der Sturz Saddam Husseins

von thomas uwer und thomas von der osten-sacken

Peter Scholl-Latour verkündete gerade das amerikanische »Stalingrad«, als die ersten Panzer der Koalitionstruppen unter dem Jubel der Bevölkerung im Bagdader Stadtteil Saddam City einrollten. Am Morgen des 9. April besetzten Verbände der US-Armee das Zentrum der Millionenstadt weitgehend kampflos. Irakische Soldaten in Unterhemden, die ihre Uniformen weggeworfen hatten, waren die ersten, die sie begrüßten. Ihnen folgten staunende Menschen, zumeist Jugendliche, und die internationale Presse, die das irakische Informationsministerium im Hotel Palestine eingebettet hatte.

Für deutsche Nahostexperten brach an diesem Morgen eine Welt zusammen – und nicht nur für sie. Mit Saddam Husseins Statue auf dem Ferdos Square wurde das irakische Regime für alle Welt sichtbar zu Fall gebracht und damit auch jener panarabische Mythos, den Saddam Hussein ein letztes Mal erfolglos zu reanimieren suchte. Die Wenigen, die jetzt noch kämpfen, haben wenig zu erhoffen von einem neuen Irak – Ba’athisten, die eng mit dem Regime verbunden waren, und arabische Freiwillige, die sich an amerikanischen Checkpoints in die Luft sprengen.

Die Mehrheit der Irakis begrüßte die Befreiung nicht mit Hass auf die Aggressoren, sondern auf die Hinterlassenschaft ihrer flüchtigen Tyrannen, die sie aus eigener Kraft nicht stürzen konnten. Im ganzen Land werden die Bilder Saddam Husseins heruntergerissen, Ministerien und Staatsgebäude geplündert. Die Plünderungen in Bagdad, Mossul und Kirkuk sind nicht der Flächenbrand, den deutsche Nahostexperten prophezeiten. In einer narzisstischen Diktatur wie der ba’athistischen im Irak, die ein Bild Saddam Husseins in jeder Wohnstube verlangte und die schlechte Rede über den Präsidenten mit dem Tode ahndete, sind sie Teil der Befreiung. Menschen, denen über Jahre das Recht auf ein menschenwürdiges Leben genommen wurde, halten sich schadlos an allem, was ihnen vorenthalten wurde, zerstören, was dazu diente, sie zu zerstören. Die unsichtbare Schwelle der Macht ist überschritten, die den Bewohner von Saddam City von den Gegenden der Herrschenden fernhielt, die ihn zum Lumpenproleten machte. Alles, was mit dem alten Regime in Verbindung gebracht werden kann, steht zur freien Verfügung.

Die Bilder von Irakis, die Saddams Porträt mit Schuhen bewerfen oder Schreibtische und Klimaanlagen aus Ministerien und Parteigebäuden klauen, die zuvor ihrer Unterwerfung dienten und mit Angst besetzt waren, werden nicht nur den Irak, sondern den ganzen Nahen Osten in den nächsten Jahrzehnten so erschüttern wie einst die Kapitulation der osmanischen Armee. Ihre Bedeutung reicht weit über die wenigen Tage der Anarchie hinaus. Sie zeigen das Ende der totalen Verfügungsgewalt über die Bevölkerung an, wobei die Koalitionstruppen sich im Gewährenlassen als Befreier erweisen.

Deshalb, und nicht aus Sorge über die Sicherheit in irakischen Städten, fallen die internationalen Reaktionen so heftig aus. Staaten, die über Jahre das Wüten des Regimes gegen die Bevölkerung tatenlos verfolgten, fordern jetzt militärisches Eingreifen. »Sie plünderten die Deutsche Botschaft und warfen den Schreibtisch des Botschafters in den Garten«, schreibt Robert Fisk im britischen Independent. »Ich rettete die Europaflagge, die außerhalb der Visaabteilung in eine Pfütze geworfen worden war. Das stellt einen ernsthaften Bruch der Genfer Konventionen dar.« Und auch einen Bruch mit der bis dato gültigen Spielregel, dass Befreiung vor europäischem Interesse und Eigentum Halt macht.