Die Kunst der Kritik

Marxismus und Kultur, geht denn das zusammen? Von Esther Leslie

Wer glaubt heute noch, dass Kunst irgendetwas Bestimmtes bedeute? Wer ist an der Vorstellung hängen geblieben, dass Kunst eine Beziehung zur Totalität oder zur Wahrheit unterhalte, und wer geht davon aus, dass Kunst ein Platzhalter für Utopisches oder für nicht warenförmige, nicht instrumentelle Formen des Lebens sei?

Niemand scheint mehr in der Lage zu sein, den Anspruch der Kunst auf einen Wahrheitsgehalt geltend zu machen; und niemand hält noch daran fest, dass dieser Wahrheitsgehalt authentischer Kulturarbeiten das begehrte Ziel oder die Distanz der Kunst zur sozialen Wirklichkeit ist, demnach also Utopisches bezeichnet. Stattdessen hat sich die Kunst – die bildende Kunst – in die Randbereiche zurückgezogen, wo sich die elitistischen Connaisseure versammeln. Die hippe, zeitgenössische Kunst hat die von Walter Benjamin gestellte Herausforderung angenommnen, aber sie mit Baudrillard verklärt.

Das heißt, scheinbar kombinieren die Kunstwerke technologische Reproduzierbarkeit mit medialer Schläue, verwirklichen sich jedoch eigentlich nur im Namen von Belustigung, Ironie und Spektakel (und all das bietet übrigens nach wie vor keinen Schutz davor, Kunst in Eigentum zu verwandeln). Sowohl bildende als auch post-mediale Kunst stehen philosophisch-ästhetischen Untersuchungen misstrauisch gegenüber. Die bildende Kunst hegt zwar die Hoffnung, dass die sehr alten Konzepte wie Genie und Schönheit sie noch tragen können, die postmediale Kunst operiert eher mit spottendem oder beliebigem Verweis auf allerlei Versatzstücke aus dem Repertoire der modischen Gegenwartstheorie.

Die Kunstkritik richtet sich heute nur noch selten auf Kunst, und in ihrer neusten Erscheinung als Cultural Studies oder Popdiskurs vertritt sie den Eklektizismus der Foucaultschen »Werkzeugkasten«-Theorie: Indem sie Begriffe antisystematisch benutzt, instrumentalisiert sie Kritik selbst zum kruden karrieristischen Pragmatismus; durch das Alibi des Populismus und des Relativismus fällt sie indes auf eine kapitalistische Interessenvertretung zurück.

Irgendwann in den Achtzigern hat sich in den Geisteswissenschaften das heute verbindliche Set theoretischer Ansätze und dazugehöriger Untersuchungsobjekte durchgesetzt. Diese damals in den Postmodernismus eingebettete Entwicklung betonte insbesondere angeblich neue und brisante Fragen wie die nach Geschlechterverhältnissen, Sexualität und Ethnizität; sie verschob ihre Aufmerksamkeit auf die Mechanismen der Macht, vor allem auf die visuellen Aspekte der Macht, wie etwa die Kontrolle des »Blicks«. Außerdem bestätigte sie die Trennung von Hoch- und Populärkultur, um sich die populäre Kultur zum bevorzugten Ort ihrer Nachforschungen zu erwählen.

Heraus kam ein Kulturkritizismus, der sich nicht nur von Anfang an vom Marxismus distanzierte, sondern ihn wie einen toten Hund behandelte und sich auf seine Kosten profilierte. Der Marxismus, hieß es, sei etwa an seinem »Eurozentrismus« gescheitert, hätte sich in seinem angeblichen deterministischen Ökonomismus verfangen und wäre in sein Basis-Überbau-Modell eingeschlossen. Davon glaubte der Kulturkritizismus sich auf zwei verschiedenen Wegen distanzieren zu können. Einmal kultursoziologistisch auf dem Weg voyeuristischer Spezialisierung, nach der die populäre kulturelle Praxis in verdinglichte Einzelmomente zerlegt und vermeintlich neubestimmt wird. Auf dem anderen Weg folgt der Kritizismus den Verlockungen der Kulturtheorie und interessiert sich für Stil, Oberfläche, Simulakren, Textualität und semiotische Analyse. Auf beiden Wegen schätzt man die Vorstellung von »Differenz«, verteidigt aber trotzdem »Identität« als teuerste Kategorie.

Der Marxismus wurde von diesem Kritizismus dem scheinbar unterdrückerischen Diskurs der Aufklärung zugeschlagen und des naivem Universalismus für schuldig befunden. Unterschätzt, wenn nicht sogar ignoriert wurde das Ausmaß, in welchem der Marxismus – als politische Theorie wie als Kulturanalyse – im Widerspruch gründet, weil der Widerspruch überhaupt unterschätzt und ignoriert wurde. Die marxistische Kritik zeigt, dass Kultur nicht einfach ein aus den subjektiven Intentionen des Produzenten oder den subjektiven Antworten des Konsumenten produziertes Phantasma ist, indem sie die realen gesellschaftlichen Widersprüche nachzeichnet. Ihr ist die Kultur selbst aktiver Teil der sozialen Entwicklungen und historischen Veränderungen.

Weil die Kultur nur inmitten sozialer Gegensätze existieren kann, entfaltet die Kritik der Kultur die inneren Aporien des Kunstwerks, welches selbst als aktiver Teil der gesellschaftlichen Realität erkannt wird. Dies geschieht nicht, um einen moralischen Sieg gegen das Kunstwerk zu erfechten und es zu degradieren, sondern um im Gegenteil in einer kühlen Analyse darzustellen, wie die Kultur sich als Teil ins Ganze fügt. Die Kritik demonstriert, dass erst der Eintritt gesellschaftlicher Realitäten in die Artefakte diese zum Leben erweckte und nur er sie am Leben erhält.

Diese Kritik der Kultur fällt nicht zurück ins grob soziologistisch Voreingenommene oder Illustrative – auch wenn solcherlei Gesinnungen sicherlich in mancher marxistischer Kulturkritik weit verbreitete Irrtümer sind, besonders in der stalinistischen Kunstkritik. Aber heute lauern auch in den dunkelsten Ecken nicht viele Stalinisten. Und nach dem Fall der Berliner Mauer sind Marxisten genauso aufgesplittert wie bereits vorher. Wo einige behaupten, es habe noch nie so schlecht um die marxistische Bewegung gestanden, versuchen andere nachzuweisen, dass die Aussichten für die marxistische Linke – durch das Aufkommen der antikapitalistischen Antiglobalisierungsbewegung – so sonnig wie noch nie seien.

So wird der Kollaps der Sowjetunion und ihrer östlichen Satellitenstaaten meist von den einen als Desaster für die Linke gesehen, während die anderen darauf hinweisen, dass diese Staaten ebenso als eine Travestie, eine Perversion oder Verdrehung des Sozialismus zu kritisieren seien und dass ihr Ende letztlich den Weg für das Gedeihen eines genuinen Sozialismus frei mache. Es gibt Marxisten, die sich die Kritische Theorie zur Seite stellen, und solche, die immer noch verzückt vom mittleren Lukács sind.

Aus diesen unterschiedlichen Positionierungen erwachsen immer noch Debatten, welche die unvermindert dynamischen Potenziale einer marxistischen Kulturkritik bezeugen. Die unterschiedlichen Ausgangs- wie Zielpunkte der Analysen richten sich auf Produktion und Konsumption, die Institutionen der Kunst, die Kunstmärkte, den Sponsor, die Analogien von Form und historisch-politischen Entwicklungen, und in all diesen Debatten zeigen sich unterschiedliche Konsequenzen aus der Existenz von Klasse und Privateigentum.

Nichts entspricht hier der Karikatur eines reduktionistischen, klassendeterministischen Marxismus, der präsentiert wird im Diktat theoretischer Moden. Was gegenwärtig am ertragreichsten scheint, bleibt von ihnen unangesprochen. Nötig ist eine Kritik der Kultur, ausgehend von drei marxistischen Schlüsselkategorien: Arbeit, Material und Entfremdung. Arbeit, die Rolle der Produktion, rutschte mit der gegenwärtig vorherrschenden Fokussierung auf Publikum und Konsumption aus dem Rahmen. Was verloren wird, ist hier die Materialität des Prozesses kultureller Produktion selbst – und das obwohl nur durch die spezifische Materialität der Kunst, durch ihren Stoff ihre materielle Präsenz, ihre soziale und formale Analyse überhaupt denkbar ist.

Zu prüfen, was für eine Form von Arbeit künstlerische Produktion ist, ist folgenreich und von der Idee der Entfremdung nicht zu trennen. Dass die Kunst – oder, weiter gefasst, Kultur – als eine spezialisierte Tätigkeit existiert, praktiziert von den Wenigen, bedeutet gleichzeitig, dass sie gesellschaftlich als Alibi für das nicht kulturelle Leben der Mehrheit fungiert. In diesem Sinne rechtfertigt Kunst gegenwärtig Ausbeutung und Unterdrückung. Marx stellt fest, dass soziale Realität durch Praxis und Wahrheit durch den Prozess der Selbstentwicklung konstituiert wird, oder, nach Marxens berühmterer Formulierung: Das abgerundete Individuum des reifen Kommunismus ist ein Jäger am Morgen, ein Fischer am Nachmittag und ein Kritiker in der Nacht – ohne sozial als Jäger, Fischer oder Kritiker definiert zu werden.

Es ist ein Charakteristikum der Unfreiheit der Klassengesellschaft, dass einige Menschen damit beauftragt sind, Künstler zu sein und diese soziale Rolle zu füllen, während andere von ihr ausgeschlossen sind. Durch Warenvergesellschaftung deformiert auch in der gegenwärtigen künstlerischen Praxis die Entfaltung eines Selbst, das die wirkliche menschliche Gemeinschaft bezeichnen könnte. Die Aufspaltung menschlicher Aktivität in die separaten Reiche von Arbeit und Spiel muss überwunden, Ästhetik aus dem Ghetto der Kunst gerettet werden, um im Zentrum des Lebens verankert zu werden. So wäre eine wirkliche Politik der Kunst zu denken, eine Politik in der und durch die Kunst. Alle Kultur kann erschlossen werden aus dieser Perspektive, wie sie alle Leben als lebbar vorstellt.