Unter Knackern

Schlossöffnen ist so etwas wie Hacken auf dem Gebiet der Mechanik.
In Hamburg fanden die neunten Deutschen Meisterschaften in dieser Disziplin statt. von jan freitag

Drei Sekunden. Schwer zu sagen, ob man jubeln sollte oder grübeln. Drei Sekunden, länger braucht Man­fred Bölker in guten Momenten nicht, um ein handelsübliches Vorhängeschloss der renommierten Marke Abus zu knacken. Dafür bedarf es nur ein paar klitzekleiner, schraubenzieherartiger Werkzeuge, die entfernt an den Zahnarzt erinnern, und vor allem eines: Konzentra­tion. »Alles eine Frage der Übung«, spielt Bölker seine erstaunliche Fähigkeit herunter und lässt das Vertrauen in die Widerstands­fähigkeit von Riegeln weiter sinken. Man könnte paranoid werden bei der Vorstellung, Bölker wäre kein Dentist, sondern ein professioneller Fahrraddieb.

Immerhin hat der 50 Jahre alte Hamburger vor den Deutschen Meisterschaften im Schlossöffnen sechs Wochen lang drei bis vier Stunden täglich geübt. Die neunte Auflage des Wettkampfs ist nicht nur ein Beweis der Fingerfertigkeit seiner überwiegend männlichen Teilnehmer im Überwinden nahezu jeder Art von Schließ­technik; er dient auch irgendwie als Demonstration dafür, dass Sicherheit ein sehr vager Begriff ist. Zwei Tage lang messen sich die »Sportsfreunde der Sperrtechnik Deutschland« – so heißt der organisierende Verein – in Disziplinen wie »Handöffnung doppelseitig gleichschließender und pickbarer Zylindereingerichte mit Stiftzuhaltungen«, »Freestyle« oder »Blitzöffnung«. Und am Ende zeigt sich, dass kaum ein herkömmliches Schloss vor den Händen der neun Finalisten sicher ist.

»Achtung, fertig, los«, ruft Steffen Wernéry. Ein etwas altbackener Startruf des Vereinspräsidenten und -gründers zur nächsten Runde in der Disziplin »Hangschlossöffnung«, aber er passt zum Austragungsort. Das Vereinsheim des L.F.C. Eintracht Lokstedt in Hamburg ist ein Flachbau mit Blick auf den verschneiten Fußballplatz. Zwischen Mettbrötchen, Kim-Aschenbechern und polierten Po­kalen kämpfen die Teilnehmer aus den deutschsprachigen Ländern sowie den Niederlanden, vor allem aber aus Berlin, Stuttgart und Hamburg, um die Titel der besten Schlossknacker im Land. Oder besser: der ganzen Welt. Denn Lockpicking, so der Fachbegriff, ist »eine deutsche Angelegenheit«, wie Manfred Bölker eingesteht. Der Mann mit dem schütteren Haar­ansatz zuckt mit den Schultern: »In vielen Ländern ist unser Sport illegal«, sagt er. Und als Zuschauer der Veranstaltung wundert man sich unwillkürlich, dass es in Nachbarstaaten Verbote gibt, die hierzulande nicht bestehen.

Mit der deutschen Angelegenheit könnte es jedoch bald vorbei sein. In Kanada, den USA und mehreren europäischen Ländern entstehen Verbände, welche die ungewöhnliche Freizeitbeschäftigung fördern wollen. Dieses Jahr ist neben einem Unterwasser-Wettbewerb auf Gomera bereits die erste Euro­pameisterschaft in Österreich geplant. Da hat auch Arthur Bühl, genannt »Arthurmeister«, durchaus Chancen auf wei­tere Titel für seine große Samm­lung. »Scheiße«, brüllt der aus Stuttgart stam­mende Hamburger, als nach eigentlich zackigen 36 Sekunden ein wuchtiges Vorhängeschloss unter seinen Händen aufschnappt. Ein ganzer Kerl, Typ John Farnham, mit überdimensionalem Vokuhila, der einen Schlips zum Jeanshemd trägt. Er hat sogar seine Packung Roth-Händle in der Mitte patentgeöffnet. Der Lockpicker nimmt zwei, drei, vier tiefe Züge von der Filterlosen und beklagt seinen ersten Platz in dieser zweiten Runde. »Ich bin so schlecht heute.« Ein wenig Understatement gehört unter echten Panzerknackern offenbar ebenso dazu wie der obligato­rische Ruf »offen«, wenn jemand die komplizierte Technik mit seinen professionellen Picksets geknackt hat.

Während die Wettkämpfer, permanent von Digitalkameras und zwei, drei Fernsehteams gefilmt, ihr Können zeigen, dürfen die etwa drei Dutzend Gäste üben. Auf den Tischen liegen Einwegtabletts mit verschiedenen Zylinderschlössern sowie geeignetem Werkzeug zum Knacken. Das Plexiglas­modell eines Türschlosses samt Klinke zeigt, dass selbst blutige Anfänger mit einer schlichten Plastikfolie neue Erwerbsfelder erschließen könnten.

Doch Steffen Wernéry blockt jeden Verdacht ab, seinen Vereinsgenossen aus den 17 Ortsgruppen in Deutschland sei kriminelle Energie zuzuschreiben. Unterscheiden zu können, »was meins und deins ist«, gehöre zum Wesen der Lock­picker. Es gehe um Fingerfertigkeit, Ehrgeiz, Entspannung, Wettbewerb, Spaß, Geselligkeit, Ausdauer, Disziplin, Vertrauen. Das Beschädigen der Schließmechanismen sei tabu, und was die Weitergabe der sensiblen Fähigkeit angehe, herrsche neben absoluter Diskretion das Ethos vom Schutz der Privatsphäre. »Wir würden nicht mal einem Polizisten beim Öffnen einer Tür helfen, das verstößt gegen unsere Sportordnung.« Auch mit den Herstellern, die durchaus Interesse an den Kenntnissen der Hobby­experten zeigen, arbeite man nicht zusammen. »Wir sind ja kein Prüf­institut.« Sondern Sportler.

In gewisser Weise sind die Sperrtechnikfreunde so etwas wie Hacker auf dem Gebiet der Mechanik. Nicht von ungefähr gibt es enge Verbindungen zum Chaos Computer Club (CCC). Mit ihm hat auch der leicht bizarre Teilzeitinfor­matiker Steffen Wernéry seit langem zu tun, und bei einem Kongress des CCC vor zehn Jahren wurde er hinsichtlich des mechanischen Hackens auf den Geschmack gebracht.

Ansonsten erinnert das Ambiente im Clubheim kaum an einen Hacker-Kongress, eher schon an den auf Kreisklas­seniveau spielenden Fußballverein aus Ham­burgs zentralem Reihenhausviertel Lokstedt. Keiner der Herren mittleren Alters erweckt den Eindruck, gegen mehr verstoßen zu können als die Straßenverkehrsordnung. Selbst der einzige urban wirkende Teilnehmer, Oliver Diederichsen, ist von Beruf Sicherheitstechniker und vergleicht die Faszination, mit der er sein Hobby betreibt, mit der, die ein Puzzle auf jemanden ausüben kann.

Mit 35 Jahren ist er der Jüngste im End­kampf, mit seinem schwarzen Seitenschei­tel der juvenilste, und mit seinen Fähigkeiten in Bezug auf die Öffnung von Tresoren hat er es zum Deutschen Meister in der Disziplin »Impressionstechnik« gebracht. Ohne Vorlage den passenden Schlüssel für ein Schloss zu feilen, ist zwar nicht so richtig gepickt, aber doch Teil des Spektrums an Disziplinen, so­zusagen die Reminiszenz an den beruf­lichen Urschlamm aller Lockpicker: die Schlüsseldienste.

An einem Stand gibt es für 38 Euro ein Profipickset samt schriftlicher Anleitung zum Knacken. Vielleicht doch eine lohnenswerte Investition in die Zukunft?