»Es gibt auch Wild-Kraaker«

Von Ivo Bozic

Hessel Dokkum

Seit 1979 hat Hessel Dokkum sieben Häuser in Amsterdam besetzt. Er ist immer noch Aktivist der Kraaker-Bewegung. Heute lebt der 48jährige in einem Hausprojekt in der Plantage Doklaan. Das Haus wurde 1980 »gekraakt« und ein Jahr später geräumt. Dann war es 15 Jahre lang eine Schule und stand danach wieder leer, bis es 1998 erneut besetzt und schließlich legalisiert wurde. Hessel Dokkum arbeitet im Verein »Vrije Ruimte« (Freiraum), der seine Aufgabe in der Beratung von Hausbesetzern sieht. Seit 2000 arbeitet Dokkum auch in der Klank­bord Group, einem Komitee, dass zwischen Stadtverwaltung und Besetzern vermittelt. Mit ihm sprach Ivo Bozic.

Wie ist die Kraaker-Bewegung in den Niederlanden entstanden?

Das Ganze begann 1968 im Amsterdamer Stadtzentrum. 1974 sollten dort die Metro und eine Schnellstraße gebaut und dafür ganze Viertel abgerissen werden. Damals wurden die ersten großen Häuser komplett besetzt. Es war ein langer Kampf gegen den geplanten Stadtumbau. Man kann sagen: Die Häuser haben wir zwar verloren, aber die Gegend wurde gerettet.

Ende der siebziger Jahre gab es dann eine große Wohnungsnot in der Stadt und gleichzeitig einen enormen Leerstand von Gewerberäumen. So kam es 1980 zur zweiten Besetzungswelle. 1981 gab es in Amsterdam 20 000 Kraaker. Die Stadtverwaltung reagierte darauf, indem sie besetzte Häuser aufkaufte und an Wohnungsbaugesellschaften übergab. Die Besetzer bekamen Mietverträge, konnten aber in Gruppen wohnen bleiben. Außerdem wurden zwischen 1985 und 1990 verschiedene Hauskomplexe von den Besetzern gekauft. Sie haben alle neben den Wohnräumen auch öffentliche Räume, in denen zum Beispiel Konzerte stattfinden oder andere Kulturereignisse.

Die Kraaker frequentieren heute immer noch diese Treffpunkte. Da ist eine hübsche Infrastruktur entstanden. Seit 1990 wurde die Stadt immer reicher, und die leerstehenden Gewerberäume wurden zu Apartments umgewandelt. Alles, was leer stand, war plötzlich viel Geld wert. Es wurden einige Häuser geräumt und keine weiteren legalisiert. Seit 2000 aber werden wieder Besetzungen legalisiert. Nicht wegen der immer noch akuten Wohnungsnot, sondern weil man Räume für Kultur, auch Subkultur, schaffen will.

Also Kraaken als Teil der Kulturpolitik?

Das Haus, in dem ich lebe, wurde von der Stadt gekauft und dann an die Besetzer wieder verkauft, unter der Bedingung, dass der Kulturbetrieb bestehen bleibt. Wir sind demnach verpflichtet, Künstler im Haus zu haben, und das müssen wir auch beweisen. Das ist schon ein wenig komisch.

Wie viele der im Laufe der Jahre besetzten Häuser sind insgesamt legalisiert worden?

Von den Häusern und größeren Komplexen wurden vielleicht drei Prozent legalisiert, der Rest wurde geräumt. Von den besetzten Etagen wurden rund 60 Prozent legalisiert. Es gibt heute etwa 180 legalisierte Hausprojekte, in denen es Wohngruppen gibt und in denen selbstbestimmt etwa über neue Mitbewohner entschieden wird. Rund 30 von diesen Häusern sind Eigentum der Bewohner.

Und wie viele nicht legalisierte Besetzungen gibt es heute?

Man schätzt, dass es derzeit etwa 1 000 Hausbesetzer in Amsterdam gibt, aber ich weiß nicht, in wie vielen Häusern und Etagen. Ich selbst kenne zwölf komplett besetzte Häuser, aber es müssen mehr sein. Das Kraaken ist in Amsterdam gut organisiert. Es gibt zum Beispiel Kraak-Sprechstunden. Da kannst du hingehen, wenn du ein Haus besetzen willst. Dann gibt dir die Kraak-Beratung viele nützliche Tipps und hilft dabei, herauszufinden, wer der Eigentümer des gewünschten Objekts ist und wie lange es leer steht. Das ist wichtig, denn wenn es nicht mindestens schon ein Jahr lang leer steht, wird man sofort geräumt. Wenn es länger leer steht, muss der Eigentümer erst einen Räumungsantrag stellen und einen Plan vorlegen, wie er den Leerstand zu beseitigen gedenkt. Durch die Kraak-Beratung haben wir zwar ungefähr einen Überblick, wo es welche Besetzungen gibt, aber es gibt auch Wild-Kraaker.

Wenn es heute zu Besetzungen kommt, sind die dann politisch motiviert, oder geht es ausschließlich um Wohnraum?

Wenn man ein Haus besetzt, ist das ja erstmal eine politische Aktion, aber es geht vor allem ums Wohnen. Es gibt auch Hausprojekte, die sich politisch profilieren, aber eher wenige. Büros von politischen Gruppen, ob nun aus der Stadtteilarbeit oder wie hier im Haus von einer Gruppe gegen Gentechnologie, findet man eher in den legalisierten Häusern.

Welche Rolle spielen die Hausprojekte für die linke Szene in Amsterdam?

Es gibt ein paar ganz große Projekte wie das ADM, wo 120 Menschen leben und arbeiten und eine Gemeinschaft bilden. Das hat, finde ich, politische Bedeutung. Bei den meisten Kraakern besteht ihre politische Aktivität aus dem Kraaken selbst, ansonsten studieren sie oder sind vielleicht privat noch aktiv in Stadtteilgruppen oder so, aber man tritt nicht als Hausprojekt auf.

Wie ist die Situation in anderen niederländischen Städten?

Früher waren die Kraaker-Zentren Amsterdam, Rotterdam, Den Haag, Nijmegen, Groningen und Utrecht. In den vergangenen zehn Jahren wurden jedoch immer häufiger auch in vielen Dörfern Häuser besetzt. Oft machen das sehr junge Leute. Und in so kleinen Städtchen können sie natürlich mit ein wenig kulturellem Engagement viel mehr bewegen als in einer Stadt wie Amsterdam, wo es niemanden interessiert, ob du mit einem tollen Irokesenschnitt herumläufst. In so einem Dorf kann das schon so etwas wie Politik sein.

Wohnen in den schon früh legalisierten Häusern noch viele Leute, die damals mitbesetzt haben?

Viele machen heute andere Dinge. Es ist wie überall. Manche bekommen Kinder oder haben nach zehn Jahren keine Lust mehr auf Wohngruppen. Es kostet auch Energie, in so einem Haus zu leben. Es gibt eine große Fluktuation. Aber klar, da sind auch Leute wie ich, die immer noch in solchen Häusern leben. Dieses Haus haben wir 1998 mit zwölf Leuten besetzt. Jetzt leben und arbeiten hier 35. Von den zwölf Besetzern sind noch drei übrig.

Die Regierung plant ein Kraak-Verbot. Was würde sich dadurch verändern?

1980 wollte man das Kraaken auch schon verbieten, die Kirchen aber waren dagegen. Schließlich waren die besetzten Häusern auch soziale Auffangstellen für Menschen mit psychischen Problemen, Junkies, Arme und andere. Auch die Wohnungsnot war ein Argument der Kirchen. Die Christdemokratische Partei nahm wegen der Kirchen von ihrem Plan Abstand. Seit drei Jahren ist es wieder in der Diskussion, das Kraaken zu verbieten. Doch die Stadtverwaltungen von Amsterdam, Rotterdam, Utrecht und Den Haag lehnen das ab. Sie sagen, Kraaken ist eine wichtige Sache gegen Leerstand und die Immobilienspekulation, mit der sie selbst nicht fertig werden.

Für die Kraaker-Bewegung war die Debatte um das Verbot ziemlich positiv, denn man hat sich nach langer Zeit mal wieder zusammengesetzt, die legalisierten Häuser und die besetzten. Alle haben Transparente aus den Fenstern gehängt, auch sehr etablierte Kulturstätten, die früher einmal besetzt waren und die es ohne das Kraaken alle gar nicht geben würde.

Das Gesetz wurde noch nicht verabschiedet.

Die Regierung ist zwischenzeitlich gestürzt, bis zu den Neuwahlen wird vermutlich nichts geschehen. Wenn die Arbeitspartei gewinnen sollte, ist die Sache wohl vom Tisch. Wenn die jetzige Regierung wiedergewählt werden sollte, wird das Gesetz wohl verabschiedet. Aber was das bedeuten würde, weiß ich nicht. Die großen Gemeinden lehnen das Kraak-Verbot ab, und die Polizei, die die Räumungen durchführen muss, ist den Bürgermeistern unterstellt, nicht der Landesregierung. Vielleicht wird es schwieriger mit dem Kraaken, aber ich glaube, es wird immer weiter gehen. Im besten Fall wird dadurch die Kraaker-Bewegung einfach wieder politischer. Im schlechtesten Fall werden alle besetzten Häuser geräumt. Aber dann gibt es in Amsterdam immer noch die zahlreichen alten legalisierten Häuser, in denen viele politische, engagierte Menschen leben. Das lässt sich nicht mehr rückgängig machen.