Kresnik in Kolumbien

Für die Unsichtbaren spielen

Nirgendwo in Südamerika leben Regimekritiker so gefährlich wie in Kolumbien. Nun inszeniert Johann Kresnik ein Stück in Bogotá, ohne bedroht zu werden, und Schriftsteller treffen sich in einer Kleinstadt. Eine Reportage

Bogotá, Teatro Distrital Jorge Eliecer Gaitán. Johann Kresnik von der Volksbühne aus Berlin und der in Deutschland lebende Kolumbianer Gustavo Llano inszenieren das Tanztheaterstück »Plan Via«, eine Verarbeitung des von US-Militärs konzipierten Plan Colombia. Schwere Kost vor 1 500 Zuschauern: Dekadente Bourgeois bespucken das Publikum mit Joghurtbrei, ein viel zu großes, irres Kind geistert wie Quasimodo über die Bühne, einen Fußball auf dem Rücken unter dem Hemd, eine Bäuerin wird an einem Seilzug in die Luft gezogen, zwischen zwei Blechplatten gespannt und dann fünf Minuten lang - es kommt einem ewig vor - immer wieder gegen die scheppernden Platten geschlagen. Die Frau schreit: »Ich gehe hier nicht weg, ich gehe nicht hier weg!« Aber alle im Saal wissen, dass sie doch gehen wird - wie zwei Millionen Vertriebene vor ihr. Gegen Ende schließlich stehen die TänzerInnen halbnackt auf der Bühne und symbolisieren gesichtslos die etwa 5 000 Massaker, die es in den letzten 15 Jahren gegeben hat.

Geht es um Schwierigkeiten, Gedanken auszudrücken, oder um die Angst zu sprechen? Als sich die DarstellerInnen nach der Vorführung mit einigen Flüchtlingen zur Diskussion hinter der Bühne treffen, schweigen die meisten. Die Vertriebenen sind Afro-Kolumbianer aus Cacarica in Nordwest-Kolumbien. Anfang der neunziger Jahre wurde ihre Heimat ökonomisch interessant: Projekte für eine interozeanische Verkehrsverbindung, der Ausbau der Pan-americana-Straße, die gentechnische Erschließung einer besonders artenreichen Region. »Euer Stück ist wichtig«, sagen sie, »damit das, was uns angetan wird, nicht vergessen wird.«

Jede fünfte kolumbianische Bauernfamilie ist auf der Flucht. Sie erzählen weiter, dass sie rappen und Theater spielen, um selbst nicht zu vergessen. »Ihr müsst weitermachen«, antworten die Schauspieler, »damit ihr nicht untergeht.« Selbst ein zweifelhafter Begriff gewinnt unerwartet an Bedeutung. »Damit ihr eure kulturelle Identität nicht verliert.« Kolumbianische Flüchtlinge sind vereinzelte, unsichtbare Geschöpfe - die reinsten Gespenster. Kulturelle Identität hingegen entsteht durch die Kommunikation in gewachsenen Communities.

Man verspricht, sich gegenseitig zu besuchen, die Schauspieler die Bauern im Kriegsgebiet und umgekehrt die Bauern die Schauspieler. Und alle sind sich plötzlich einig, worin das Problem besteht: Armee, Regierung, Paramilitärs, die wirtschaftlichen Eliten und Medien, die die Wahrheit systematisch vertuschen.

Auf dem Heimweg wundere ich mich. Auf der einen Seite bezahlt man nirgendwo in Südamerika für Dissidenz so schnell und so teuer wie in Kolumbien. Seit 1982 ist eine ganze Generation Oppositioneller vernichtet worden. Auf der anderen Seite jedoch gibt es Dinge wie dieses Theaterstück, die einem irreal vorkommen. Das städtische Theater ist nach einem Gewerkschaftsanwalt benannt, der 1948 im Auftrag der Regierung ermordet wurde. Für die Einladung Kresniks ist die rechte Stadtverwaltung aufgekommen, am Konzept des Stücks wurde von offiziellen Stellen nicht herumkritisiert. Es heißt, Kresnik sei in anderen lateinamerikanischen Ländern überfallen und bedroht worden. Ausgerechnet in Kolumbien passiert nichts: fünf kostenlose Vorführungen in einem Saal für fast 2 000 Menschen, fünf unmissverständliche Statements gegen das Regime, und keine einzige Drohung. Ich frage Soraya, eine der Tänzerinnen, ob sie nicht Angst habe wegen des Stücks, und sie antwortet, dass sie alle am Anfang skeptisch gewesen seien, weil politisches Theater als unzeitgemäß gelte. Erst mit der Zeit hätten sich die Bedenken gelegt. Ich weiß, dass das nur die halbe Antwort ist, aber eine ganze will mir anscheinend niemand hier geben.

Caicedonia im Kaffeeanbaugebiet des Landes: Pferdekutschen, Jeeps, leuchtend grüne Berghänge. In der 20 000-Einwohner-Stadt findet das »II. Internationale Schriftstellertreffen für den Frieden« statt. Man fühlt sich sofort deplatziert. Vor den Kneipen hängen Bauern mit Macheten herum, auf der Plaza spielt man Karten. Im Durchschnitt kaufen KolumbianerInnen ein Buch pro Jahr, Schulbücher inbegriffen. Es sieht so aus, als würde dieser Wert in Caicedonia noch unterschritten.

Wir werden in das beste Hotel der Stadt verfrachtet, »die Herren Autoren« sollen sich wohl fühlen. Doch die meisten plagt ein schlechtes Gewissen. Joe Broderick, ein Ire mit australischem Pass, der vor über 30 Jahren als Pfarrer nach Kolumbien kam, um die Revolution zu machen, und danach zweimal den Glauben verlor, »erst an Gott, dann an die Revolution«, bestellt ein Bier und macht sich über »den Wochenendausflug« lustig. »Ich weiß nie, was ich auf solchen Veranstaltungen soll, aber da sie mich eingeladen haben ...«

Broderick hat die postpastorale Hälfte seines Lebens mit Schreiben verbracht, aus seiner Feder stammt die bekannteste Biographie des Guerillapfarrers Camilo Torres, der der Befreiungstheologie in den Sechzigern den Weg bereitete. Aber auf dem Treffen profiliert sich Broderick vor allem als Nihilist, als eine Art bürgerlicher Sean McGuffin. Trinken, Witze reißen und die Gesprächspartner provozieren. Mir stellt er die Guerilleros als Waldmenschen dar, vor dem Auditorium am nächsten Tag fordert er das Publikum - darunter auch Polizisten - auf, endlich die politischen Ziele von Farc und ELN zu verstehen. Ich weiß nicht, was ich denken soll: Ob das eine spezifisch irisch-kolumbianische Variante des Renegatentums ist oder die einzige Methode, um Verhältnisse zu ertragen, die scheinbar keine Lösung zulassen.

Das Treffen grenzt ans Absurde. »International« ist außer meinem Freund Tommy und mir eigentlich niemand - schon gar nicht Broderick, der kolumbianischere Kalauer macht als die Kolumbianer. Und dem Veranstaltungsmotto »Für den Frieden« nähert man sich auf ähnlichem Niveau wie einst der Schlager von Nicole. Redebeiträge über mehr Liebe, bessere Kindererziehung, Versöhnung, Verständnis und Freundschaft. Dabei finden sich unter den Teilnehmern einige wichtige Schriftsteller. Zwar keine, die im Ausland so bekannt wären wie Gabriel García Márquez, den man inzwischen getrost zur Rechten zählen kann. Dafür jedoch der ehemalige Vorsitzende des Schriftstellerverbandes Arturo Alape, der dieser Tage wieder ins Exil gehen wird - diesmal nach Deutschland -, der Romancier William Ospina, der Zeitungskolumnist Oscar Collazos und der Lyriker und Literaturprofessor Julián Malatesta.

Außer den letzten beiden bezieht bizarerweise kaum jemand offen Position. Man mag verstehen, dass Alape sich auf einen poetischen Text über das Exil beschränkt. Der Mann steht auf so vielen Todeslisten, dass allein sein Auftritt genügt, um als Botschaft verstanden zu werden. Aber was ist mit den anderen? Haben sie Angst?

Nein, sie haben keine Angst, erwidern sie alle, als hätten sie sich abgesprochen. »In Kolumbien gibt es viel Heroismus«, sagt der Literaturprofessor Malatesta, der früher einmal zur Linkspartei UP gehörte und mich an deren 4 000 erschossene AktivistInnen erinnert, die wussten, dass sie für ihre Arbeit ermordet werden würden. Stimmt, denke ich, ein heroisches Volk, und frage, warum der Prominenteste auf der Teilnehmerliste gar nicht erschienen ist: Alfredo Molano, ein Sozialwissenschaftler, der in seinen Arbeiten zwischen der Studie und der Erzählung vagabundiert und so viele gute Texte über die Situation im Land geschrieben hat, dass ihn die Paramilitärs ermorden wollten. Es hätte Probleme mit dem Flug aus Mexiko gegeben, erklärt man mir.

Im Auditorium hören oder halten wir Reden, die sinnloser nicht sein könnten. Im Saal sind kaum 150 Personen, es überwiegen die Schulkinder. Zwar werden sämtliche Beiträge im Lokalfernsehen übertragen, aber man mag sich gar nicht vorstellen, wie viele, d.h. wenige, eine so langatmige Vorstellung anschauen werden. Dabei ist die Sache wichtig: In Kolumbien hört niemand auf die Stimmen der sozialen Akteure. Seit rund zwei Jahrzehnten bekämpfen Armee, Regierung und Paramilitärs die Selbstorganisation der Bevölkerung. Auch die Farc, die größte Guerilla im Land, interessiert sich nur noch für Militärlogik und eigene Stärke. Politische Spielräume zu besetzen, wäre unverzichtbar. Aber niemand macht es. Traut sich niemand?

An den folgenden Tagen nähern sich auf der Straße immer wieder Passanten den wenigen Teilnehmern, die sagen, was sie denken. »Danke«, flüstern sie, »Ihre Rede war mutig. Wir haben uns danach gesehnt, dass jemand das ausspricht. Aber passen Sie auf sich auf.«

Nein, hier hat niemand Angst, denke ich. Die Intellektuellen, die noch keinen Frieden mit den Verhältnissen geschlossen haben, wissen einfach, was sie besser unterlassen. Mir fallen zwei Figuren aus García Márquez' »100 Jahre Einsamkeit« ein, das sich immer wieder als prophetisches Buch erweist: eine Frau, die nach dem Massaker an den streikenden Arbeitern der Bananenplantagen 1928 auf Fragen nach den Morden nur erwidert: »Aquí no pasá nada, hier ist nichts geschehen.« Und die alte Ursula, das Familienoberhaupt des Buendía-Clans mit ihrem legendären »la historia está dando vuelta, die Geschichte dreht sich im Kreis«. Das Problem ist nur, dass einem kotzübel dabei wird.