Das neue Album von Oasis

Lass es rein, lass es raus!

Das vierte Oasis-Album, »Standing On The Shoulder Of Giants«, ist erschienen. Eine Operation in der Gegenwart mit den Instrumenten der Vergangenheit.

Es ist wie eine Heimkehr. Kurz nachdem Paul »Bonehead« Arthurs und Paul »Guigsy« McGuigan die Band verlassen haben, nimmt Noel Gallagher die eingespielten Studiobänder, packt sie ein und lässt das schöne Schloss im Französischen weit hinter sich. Er fährt zurück nach England. Er muss die Aufnahmen zum neuen Oasis-Album noch einmal gründlich überarbeiten, es soll ein schönes Album werden.

Wie es heißen soll, steht zu diesem Zeitpunkt schon fest: »Standing On The Shoulder Of Giants«. Es handelt sich dabei um ein Zitat von Sir Isaac Newton. »Wenn ich immer weiter blicken konnte als andere, dann auf Grund der Tatsache, dass ich auf Schultern von Riesen stand.«

So schrieb Newton einst an einen Freund. Doch auf welchen Schultern mag Noel Gallagher in diesen Tagen wohl stehen? Wohin blickt er? Weil er als Kind sehr arm war, trägt Noel heute ständig Kleingeld bei sich. Eines Tages entdeckt er den Spruch des Wissenschaftlers eingraviert auf einer raren Zwei-Pfund-Münze. »Auf einmal fiel es mir wie Schuppen von den Augen«, erinnert er sich. Als Verweis auf seine schlechte Schulbildung verleiht er dem Zitat durch einen konzeptuellen Schreibfehler seine eigene Note. Dann lässt Noel sich die Haare wachsen, dann wird es Winter, dann sitzt Noel für eine Titelgeschichte des Melody Maker beim Fototermin und sieht aus wie Paul McCartney in der frühen Phase der Wings.

Mittlerweile sind als Ersatz für Guigsy und Bonehead der Bassist Andy Bell und der Gitarrist Gem zur Band hinzugestoßen. Visuell ungemein aufgewertet, präsentieren sich die neuen Oasis auf einer kurzen Amerika-Tour erstmals dem Publikum. Andy Bell und Gem sehen aus wie Liam, und Liam sieht aus wie Noel. Der Drummer wird wie immer übersehen.

Aufgeregte Fans sind der Band nachgereist und führen auf der Homepage des NME ein Internet-Tagebuch. Sie schreiben: »Liam hat sich das Mikrofon in Mundhöhe eingestellt, doch beim Singen geht er leicht in die Knie. Er hat O-Beine. Er reckt den Kopf nach oben. Er sieht gut aus. Dabei bevorzugt er eine leicht windschiefe Haltung und verschränkt gern beide Arme hinterm Rücken. Wenn er nicht singt, schlendert er unbekümmert oder provozierend oder bockig durch den Bühnenraum. Mitunter sieht er aus, als würde er etwas suchen. Mitunter schmeißt er das Tambourin in irgendeine Ecke. Vielleicht sucht er das Tambourin? Vielleicht kann er das Tambourin nicht finden, weil er eine Sonnenbrille trägt? Liam ist voller Geheimnisse. Einmal boxt er das Mikrofon vom Ständer, manchmal geht er in die Hocke, mitunter legt er sich auch hin. Gegen Ende des Konzerts erinnern seine Haare für einen kurzen Moment an die Federn eines nassen schwarzen Vogels.« Dann zieht sich ein Sturm zusammen und der Kontakt bricht ab.

Einige Wochen zuvor schreibt Liam sein erstes eigenes Lied, es heißt »Little James«. Er möchte es seiner Frau Patsy Kensit und seinem Stiefsohn James widmen. Es soll ein schönes Lied werden. Bereits seit Tagen schleicht er deshalb heimlich ins Studio und schließt hinter sich die Türe. Selbst als es draußen schon wieder dunkel wird, probiert Liam noch immer die gleiche simple Akkordfolge. Dazu singt er aus voller Kehle: »You live for your toys / Even though they make noise.« Er fühlt sich unbeobachtet in diesen Momenten, er weiß nicht, dass sein Bruder Noel ihn belauscht. Doch Noel ist stolz auf seinen kleinen Bruder. Liam hat ein Lied geschrieben, das genauso klingt wie eines vom späten John Lennon. Deshalb darf Liams erstes eigenes Lied mit auf die neue Platte.

Unterdessen rückt der Veröffentlichungstermin näher, und Noel bekommt von seiner Plattenfirma den Auftrag, für das Presseheft jeden Song des Albums einzeln zu erklären. Er überlegt nur kurz und setzt sich gleich an den Schreibtisch. Dabei erwähnt er John Lennon und Paul McCartney, er verweist auf die Songs »Dear Prudence« und »Lucy In the Sky With Diamonds«. Dreimal benutzt er das Wort »Hippie«. In einem Song erkennt er eine Verwandtschaft zu Led Zeppelin, bei einem anderen fühlt er sich an die Sex Pistols erinnert. Er kennt sich aus in seiner Musik.

Als das Presseheft in die Öffentlichkeit gelangt, ist klar, dass einige nicht zögern werden, diese Erklärungen gegen Oasis zu verwenden. Das Album erscheint schließlich am 28. Februar, dem Geburtstag des verstorbenen Rolling Stones-Gitarristen Brian Jones. Zufall? Noel sagt: »Ich höre auf 'Standing On The Shoulder Of Giants' noch eine Menge an verbesserungswürdigen Passagen. Trotzdem wird es wahrscheinlich das beste Album des nächsten Jahres werden.« Dennoch bleibt der Verkauf des Albums weit hinter den Erwartungen zurück. Am ersten Tag gehen in England nur 200 000 Exemplare über den Ladentisch, womit »Standing« mit 50 000 Einheiten hinter dem letzten Oasis-Album »Be Here Now« liegt.

Auch die britische Fachpresse zeigt sich wenig beeindruckt und wittert Alterserscheinungen. Dadrock? Stagnation? Gab es nicht früher Fernseher, die in formschönen Bögen durch Hotelzimmer flogen? Wo sind sie geblieben? Hätten Oasis besser doch nicht die Drogen absetzen sollen? Skandale statt Akkorde! Where did it all go wrong? - Alles Fragen, die in Amerika längst niemanden mehr interessieren.

In Übersee gehen enthusiasmierte Kritiker vor Begeisterung fassungslos zu Boden. Zwar nimmt sich der Kritiker des Rolling Stone aus berufsethischen Gründen noch kurz Zeit, über den tieferen Sinn von solchen Zeilen wie »Go let it out - go let it in / Go let it out - don't let it in« zu grübeln, um dann aber festzustellen: Es ist sinnlos, es ist besoffen, es ist schön. Und er hat Recht.

Oasis sind nicht die Retro-Rocker, für die man sie hält, sie operieren nur in der Gegenwart mit den Mitteln der Vergangenheit. Man könnte auch sagen: Oasis sind Rave-Rocker, Trance-Beatles und Ecstasy-Byrds. Sie haben nichts zu sagen, sie haben keine Vision. Sie sehen auch kein Licht am Ende des Tunnels, weil in ihrer Welt keine Tunnel existieren. Ein besseres Leben gibt es für sie entweder hier und jetzt und sofort, oder aber gar nicht. Ihre Songs leben nicht von Stimmungsschwankungen, sondern sind gleichbleibend euphorisch. Oasis sind Stadionrock als Open-Air-Rave. Oasis sind so gesehen modern.

Dann beginnt schon das letzte Lied. Ein Schlagzeug erklingt schleppend aus der Ferne, es folgt ein Akkord auf dem Piano, anschließend singt Liam mit rauer Stimme schöne Zeilen des stillen Protests: »I could give a hundred million reasons to build a barricade.« Dann fällt ihm leider keiner ein. Eine Gitarre umspült seine Stimme, irgendwann setzt ein Chor ein. »Roll it over my soul and leave me here.« Es ist spät geworden und die Dämmerung bricht herein. Doch noch immer gelten Noel Gallaghers Zeilen, die einst seinen Song »Stand By Me« vom letzten Oasis-Album zu einem der schönsten Liebeslieder aller Zeiten machten: »Stand by me, nobody knows the way it's gonna be.« Bleib bei mir, ich kann dir nichts versprechen. Womit im Grunde zu diesem Thema alles gesagt wäre.

Oasis: »Standing On The Shoulder Of Giants«. Epic