Die Hand der Mutter, oder Durch die Abendschule ans Licht

SPD-Kanzlerkandidat Gerhard Schröder schreibt Briefe an die Wähler - und der Spiegel druckt sie ab.

Lieber Lothar Matthäus*,

ich kenne Sie nicht, aber Sie haben mich sicher schon in der Tagesschau gesehen. Deshalb sagt mein Wahlkampfmanager Bodo Hombach, ich sollte Ihnen mal einen Brief schreiben. Die DVU war neulich in Sachsen-Anhalt mit dieser Methode ja auch sehr erfolgreich. Eigentlich wollten wir zur Niedersachsenwahl ein richtiges Buch herausbringen, wie Politiker das gerne tun, das Manuskript war schon fertig, leider hatte der Ghostwriter noch ganz auf den Wirtschaftsmann Schröder zugeschrieben, nicht auf das neue Kanzlerkandidaten-Format.

Statt dessen lassen wir also jetzt einen Haufen Briefe schreiben bzw. einen "Briefroman", wie der Spiegel meint, so ˆ la Werther. Allerdings hoffe ich - wenn Sie mir diesen Scherz erlauben - am Ende nicht tot zu sein, sondern Bundeskanzler.

Und sie? Lesen Sie gern Briefe? Kommt drauf an, von wem sie sind, werden Sie vermutlich sagen. Als Ministerpräsident erhalte ich täglich so viele Briefe, daß ich sie gar nicht mehr alle persönlich beantworten kann. Aber wie Sie vielleicht wissen, stamme ich aus einfachen Verhältnissen: Mein Vater ist im Krieg geblieben. Meine Mutter, ich habe mir irgendwann angewöhnt, sie "Löwe" zu nennen, weil sie mit Zähnen und Klauen für sich und uns Kinder gekämpft hat, hatte sechs Kinder durchzubringen. Damals war ein an den Einzelhandelslehrling Gerhard Schröder adressierter Brief etwas ganz Besonderes. Ich habe in dieser Zeit eine interessante Erfahrung gemacht: Wenn man nur zu dem einzigen Zweck die Treppen hinunterläuft, um nach der Post zu schauen, dann ist meistens keine da. Wenn man jedoch eher zufällig am Briefkasten vorbeikommt, steigt die Wahrscheinlichkeit, daß etwas drin ist, auf nahezu fünfzig Prozent. Manchmal habe ich ihn überlistet und so getan, als wollte ich nur den Müll runterbringen.

Inzwischen bekomme ich nicht nur, wie gesagt, sehr viel Post, sondern reise sogar selbst bis nach Amerika. Einmal hat mich der frühere US-Botschafter in Bonn, Richard Burt, 1997 bei einer Veranstaltung des American Council on Germany in New York eingeführt als einen Politiker, der in seiner Zeit als Juso-Vorsitzender "die Revolution geplant" habe und sie als Ministerpräsident nun verhindern müsse. Das war nett, und ich habe nur antworten können: "Such is life." Obwohl "Shit happens" vielleicht noch treffender gewesen wäre. Ich bin übrigens ein kritischer Verehrer der Vereinigten Staaten. Zum Beispiel steht die Cholesterin-Phobie in sehr unausgewogenem Verhältnis zum Verzehr von "Quarterpounders". Und der Wahn gegen das Rauchen in auffallendem Kontrast zur Laxheit bei der Ausgabe von Handfeuerwaffen.

Apropos: meine Mutter. Ich selbst wollte raus aus dem Elend, nicht den Rest meines Lebens hinter dem Ladentisch verbringen müssen. Als mich jemand auf den Gedanken brachte, durch Abendschule könnte man Bildung erwerben und durch Bildung sein Dasein verbessern, hat mich das fasziniert. So habe ich erst den Realschulabschluß nachgeholt, dann das Abitur, und ich konnte zur Uni. Das haben nicht durchweg alle verstanden. "Der will was Besseres sein", sagten manchmal sogar die alten Freunde vom Fußballverein.

Ich wollte aber nichts "Besseres" sein, Mutter. Deswegen bin ich in die SPD eingetreten. Mich hat überzeugt, daß diese Partei vorbehaltlos für soziale Gerechtigkeit steht und daß Sozialdemokratie und "Savoir-vivre" einander nicht ausschließen. Und daß sie damals - mit Politikern wie Willy Brandt und Helmut Schmidt - für etwas stand, das ich noch heute als meinen Leitspruch sehe: "Das Sozialdemokratische ist machbar, und das Machbare kann sozialdemokratisch gestaltet werden."

Daran mitzutun habe ich seither versucht. Ich habe mich für die Politik entschieden. Dabei will ich für mich keineswegs den Begriff des "charismatischen" Politikers in Anspruch nehmen. Allerdings die von Max Weber an diesen Begriff geketteten Attribute schon: Verantwortungsgefühl, Augenmaß und, ja, Leidenschaft für eine Sache.

"Revolutionär ist", hat Ferdinand Lassalle gesagt, "zu erkennen und auszusprechen, was ist." Man muß jedenfalls kein Revolutionär sein, um zu erkennen, daß Blindheit oder Augenwischerei vor den Realitäten heute kein Kavaliersdelikt mehr ist, sondern eine akute Bedrohung. Dem Joschka Fischer schrieb ich neulich, man müsse sich immer dem Elchtest der Wirklichkeit stellen. Was ich damit wohl gemeint habe? Daß man der Wirklichkeit ausweichen muß, ohne dabei umzukippen? Und wenn Sie mich schlagen - ich weiß es nicht.

Manchmal wird mir von politischen Gegnern vorgeworfen, ich sei in meiner Jugend ein Radikaler gewesen. Ich habe früher an die Vergesellschaftung der Produktionsmittel geglaubt - und schäme mich dessen keineswegs; das Eintreten für die Schwachen der Gesellschaft, die Bereitschaft, mich dafür auch mit starken Interessengruppen anzulegen, ist mir August Bebel und Willy Brandt sei Dank, erhalten geblieben, auch wenn der Weg in die Zukunft eben nicht über den Sozialismus führt. In gewisser Hinsicht bin ich also heute noch ein Radikaler: Ich weiß, daß wir Forschung und berufliche Qualifizierung radikal verbessern müssen.

Und bekanntlich zählte ich als Jungsozialist zum Flügel der "Anti-Revisionisten", und wir haben schon damals, hinter all der Revolutionsprosa, im Kern auch vertreten, daß Menschen entlang ihrer Erfahrungen und Interessen selbst handeln können und sollen; daß es um die Beteiligung der Menschen am produktiven und gesellschaftlichen Prozeß geht - und eben nicht darum, den Staatsapparat in die Hand zu bekommen, um dann von oben umzusteuern und Funktionäre mit allerlei Richtlinien die Wirtschaft lenken zu lassen. Dafür hatte ich schon 1978 nichts übrig - und habe es heute, angesichts der enormen Modernisierungs- und Reformaufgaben der Politik, erst recht nicht.

Die Vorteile einer Partizipationsethik ließen sich schon damals betriebswirtschaftlich mit Händen greifen. Ich habe das für mich in fünf Prinzipien zusammengefaßt, die Richtschnur einer modernen, sozialdemokratischen Regierungspolitik sein werden: Aktivierung der Menschen zu selbstverantwortlichem Handeln; Realitätssinn und Bürgernähe; Transparenz und Überprüfbarkeit; gerechter, innovativer Umbau des Sozialstaates zu einem neuen "Modell Deutschland"; Konsens und Kooperation mit allen an dieser Erneuerung interessierten gesellschaftlichen Kräften.

So verstanden, überwindet die Partizipationsethik alle antiquierten Klassenschranken: Wie muß es die CDU getroffen haben, daß sie so aufheult, weil ich einen kreativen Unternehmer wie Jost Stollmann dafür gewonnen habe, die Zukunft dieses Landes mitzugestalten?

Und die Arbeitslosigkeit? fragen Sie. Und der Euro? Und der Rechtsradikalismus? So gern ich es täte: Aufrichtig kann ich Ihnen nicht versprechen, daß eine andere Bundesregierung die Arbeitslosigkeit rasch überwinden könnte. Aber ich kann Ihnen versprechen, alles dafür zu tun, damit wir in der ganzen Gesellschaft zusammen einen Weg aus der Krise finden. Daß wir genau hinhören und uns um die besseren Lösungen streiten. Das verstehe ich unter Beteiligung, und so verstehe ich Demokratie.

Das Europa, in dem unsere Kinder heute ganz selbstverständlich aufwachsen, ist eines der Freundschaft und guten Nachbarschaft. Das hat zur Voraussetzung, daß die einzelnen Nationen in diesem Verbund stark und selbstbewußt sind. Ich stehe wohl kaum im Verdacht, daß es mir an Mut mangeln würde, und wenn die deutschen Wähler es wollen, werde ich auch nicht zögern, für Deutschland zu sprechen und die deutschen Interessen ohne Scheu vorzutragen.

Wenn man mich aber fragt, ob ich die Nation oder den Staat liebe, so antworte ich mit Gustav Heinemann, der wie kaum ein anderer immer wieder die demokratischen Traditionen unseres Vaterlandes von der 1848er Revolution bis in die Gegenwart beschworen - und auch verkörpert - hat: Ich liebe meine dritte Frau.

Ich glaube, wir brauchen jetzt alle eine gehörige Portion Mut zum Wagnis. Wir sollten das Herz über die Hürde werfen. Da wüßte ich Sie gern an meiner, an unserer Seite.

Seien Sie herzlich gegrüßt von
Ihrem Gerhard Schröder

* Name geändert