Zur Politischen Theorie des Antisemitismus

Wahn der Homogenität

Zur Politischen Theorie des Antisemitismus. Eine Skizze.

Die Frage nach den historischen, politischen und psychosozialen Ursachen des Antisemitismus beschäftigt seit Jahren die kritischen Sozialwissenschaften. Zahlreiche Autorinnen und Autoren haben Überlegungen hierzu angestellt, wobei die Wege, die beschritten worden sind, vielfältig waren: von detailreichen historischen Arbeiten über klinische Fallanalysen bis hin zu strukturtheoretischen Reflexionen. Bei der Lektüre der ohne Zweifel inzwischen zahlreichen Studien über Antisemitismus fällt aber auf, dass eine Vermittlung zwischen den verschiedenen theoretischen Ansätzen, die sich nicht selten grundlegend widersprechen, kaum je versucht wird. Mehr noch, die wichtigen theoretischen Arbeiten der vergangenen Jahrzehnte stehen meist unvermittelt nebeneinander. Ungeachtet aller tatsächlich vorhandenen (vor allem erkenntnistheoretischen) Differenzen in der Antisemitismusforschung soll hier der Versuch einer solchen Vermittlung im Sinne einer allgemeinen, politischen Theorie des Antisemitismus unternommen werden.
Ausgehend von den Überlegungen Max Horkheimers und Theodor W. Adornos in der »Dialektik der Aufklärung« scheint es mir geboten, die politische Theorie des Antisemitismus nicht nur als Untersuchung eines bestimmten Aspekts bürgerlicher Vergesellschaftung zu begreifen, sondern als Theorie der bürgerlichen Gesellschaft selbst. Antisemitismus und Moderne gehören dem Verständnis von Horkheimer und Adorno zufolge unauflöslich zusammen, dem modernen Antisemitismus ist Aufklärung gleichermaßen Bedingung wie Grenze. Der technische und naturwissenschaftliche Fortschritt, der die Möglichkeiten zur Barbarei scheinbar grenzenlos erweitert hat, schafft zugleich, beispielsweise in der Religionskritik, das Poten­tial zur Selbstreflexion und zum Ausgang der Menschen aus ihrer Unmündigkeit.
Das dialektische Verhältnis von Zivilisation und Natur, das Horkheimer und Adorno in den Satz »Zivilisation ist der Sieg der Gesell­schaft über Natur, der alles in bloße Natur verwandelt«, gefasst haben, begreift Natur gleichermaßen als Bedingung wie als Notwendigkeit, als Voraussetzung wie als Zwang, als Ausgangs- und Endpunkt aller Versuche zur Einrichtung einer allgemeinen, objektiven Vernunft im Gegensatz zur instrumentellen, bloß subjektiven. Genau in dieser Dialek­tik ist Horkheimer und Adorno zufolge der Kern antisemitischer Welterklärungsversuche zu suchen. Das Natürliche wird durch Zivi­li­sie­rung eliminiert und in diesem Prozess, da es sich nicht um eine Auf­he­bung, sondern um eine Zerstörung, eine Liquidation handelt, wiederum in schroffe Natur und damit in Barbarei verwandelt. Gesellschaftstheoretischer Schlüssel dieser Annahme ist die Vermittlung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft im Modus des Triebs, in dem sich in jedem einzelnen Menschen erste und zweite Natur verschränken. Den Kern des Antisemitismus, den Horkheimer und Adorno letztlich als psychoanalytisch begreifbares Phänomen fassen, bildet der »unerhellte Trieb« – der sich individuell manifestierende, aber überindividuell entstandene und kollektiv ausagierte Wunsch nach totaler Identität der psychischen Instanzen, der angesichts der Triebbeschränkungen der bürgerlichen Gesellschaft unerfüllt bleiben muss. Der moderne Antisemitismus bedurfte, so paradox es klingen mag, der Aufklärung, um in Barbarei umschlagen zu können. Er ist zugleich die Wahrheit der bürgerlichen Gesellschaft wie ihre Negation.

Christlicher und moderner Antisemitismus

Der moderne Antisemitismus hat den religiösen Antisemitismus, dessen antijüdische Zielrichtung zwar willkürlich, aber keineswegs zufällig gewesen ist, in sich aufgenommen und kann damit, in den Worten des israelischen Historikers Yehuda Bauer, »sein christliches Erbe nicht leugnen«. Schon Sigmund Freud hat deutlich erkannt, dass der Antisemitismus seinen theologischen Ursprung im Christentum hat und unbewusst in Form von christlichen Metaphern und Mythen in den Phantasien der Antisemiten weiterlebt. Die tiefere Ursache für den projektiven Hass auf »den Juden« liegt in der Differenz von Christentum und Judentum, d.h. die Ursprünge des Antisemitismus sind im Kern religiöser Natur, weil der jüdische Monotheismus den Menschen die Illusion nahm, Gott sein zu können. Der Antisemitismus als – angesichts der bis zur Massenvernichtung getriebenen antisemitischen Barbarei unleugbar pathischer – Versuch der »Schiefheilung« (Freud) dieser narzisstischen Kränkung drückt sich indessen in antisemitischen Phantasien aus, als »Gerücht über die Juden« (Adorno), und nicht als reale Auseinandersetzung mit der jüdischen Religion oder der Geschichte des Judentums. Antisemitismus kann deshalb nur durch eine Analyse antisemitischer Phantasiebildungen und Pro­jektionen angemessen begriffen werden – und nicht etwa durch Analyse des Judentums oder der jüdischen Geschichte. Dass der Antisemit sich für seinen projektiven Wahn »den Juden« auswählt, ist weder einfach ein Zufall, noch trifft es zu, dass der Antisemitismus etwas Wesent­liches mit realem jüdischen Verhalten zu tun habe.
Der antisemitische Begriff vom Juden ist irrational und kann insofern auch nicht durch konkrete Erfahrungen mit Juden verändert werden. Der Antisemit sei der Auffassung, so der Psychoanalytiker Otto Fenichel, dass der jüdische Gott – und damit jeder Jude – der Teufel und der Anti-Christ sei, das böse, anti-göttliche Prinzip, in dessen Namen der Gottessohn ans Kreuz geschlagen worden sei. Die Frage, warum »der Jude« diese Rolle in den Projektionen des Antisemiten eingenommen hat, lässt sich mit Freud durch einen Blick auf das historische Verhältnis von Judentum und Christentum beantworten: »Die tieferen Motive des Judenhasses wurzeln in längst vergangenen Zeiten, sie wirken aus dem Unbewussten der Völker (…). Ich wage die Behauptung, dass die Eifersucht auf das Volk, welches sich für das erstgeborene, bevorzugte Kind Gottvaters ausgab, bei den anderen heute noch nicht überwunden ist, so als ob sie dem Anspruch Glauben geschenkt hätten. Ferner hat unter den Sitten, durch die sich die Juden absonderten, die der Beschneidung einen unlieb­samen, unheimlichen Eindruck gemacht, der sich wohl durch die Mahnung an die gefürchtete Kastration erklärt und damit an ein gern vergessenes Stück der urzeitlichen Vergangenheit rührt. Und endlich das späteste Motiv dieser Reihe, man sollte nicht vergessen, dass alle diese Völker, die sich heute im Judenhass hervortun, erst in späthistorischen Zeiten Christen geworden sind, oft durch blutigen Zwang dazu getrieben. Man könnte sagen, sie sind alle ›schlecht getauft‹, unter einer dünnen Tünche von Christentum sind sie geblieben, was ihre Ahnen waren, die einem barbarischen Polytheismus huldigten. Sie haben ihren Groll gegen die neue, ihnen aufgedrängte Religion nicht überwunden, aber sie haben ihn auf die Quelle verschoben, von der das Christentum zu ihnen kam.« (Sigmund Freud: Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1939), in: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. XVI, Frankfurt a.M. 1999, S. 197f.)
Der jüdische Monotheismus hat im Unterschied zu prägenital geprägten heidnischen Religionen, die sich auf schützende, vor allem mütterliche Gottheiten beriefen, durch die Besetzung des Vaters als Objekt die Religion verfinstert und sie ihrer mütterlichen Wärme beraubt. Die stärkere Einbeziehung des mütter­lichen Elements hat wiederum im Christentum, in dem der Sohn die Mutter wiedergefunden hat, zur Entfachung eines jüdisch-christlichen Konflikts im Unbewussten geführt. Andreas Peham hat das jüdisch-christliche Verhältnis in Rekurs auf eine Formulierung des Psychoanaly­tikers Dierk Juelich so zusammengefasst: »Die Entwicklung zum Monotheismus, zur Vorstellung eines einzigen, abstrakten Gottes, der als Vater-Imago liebende und strafende Anteile in sich vereint, lässt sich in Analogie zur Ontogenese auch begreifen als ›Entwicklung von der eingeschränkten Wahrnehmung von Partialobjekten hin zur Fähigkeit der Wahrnehmung des ganzheitlichen Objekts‹. Nun besteht keine Notwendigkeit mehr, die aggressiv-destruktiven Anteile abzuspalten und nach außen zu projizieren (paranoid-schizoide Position). Vielmehr werden diese Anteile integriert, die widersprüchlichen Gefühle an einem inneren Objekt, das auch böse sein und gehasst werden kann, erfahren. Der Preis für diese Entdämonisierung der äußeren Welt ist der Ambivalenzkonflikt (depressive Position). Auf der Ebene der Gottesvorstellung bedeutet die christliche Etablierung einer vollkommen guten und liebenden Imago, welche der narzisstischen Ur-Mutter entspricht, die Rückkehr der Notwendigkeit zur Abspaltung und Projektion. Der Antisemitismus erscheint nun als überdeterminiert: Einerseits erweist er ›sich als ein Hass auf jene, die am Ritual der Entlastung aus der paranoid-schizoiden Position nicht teilnehmen, denn sie werden als Bedrohung wahrgenommen, die an dem Sinn dieser Entlastung Zweifel entstehen lassen‹. Andererseits ist er Projektion jener negativen oder analen Anteile, die nicht integriert werden können. Mit dem christlichen Gott betrat der jüdische Teufel die Weltbühne, der Narzissmus der Reinheit ist nur zu haben mit der Projek­tion des Unreinen, der Analität.« (Andreas Peham: Vom Reinheitswahn zum Vernichtungswunsch. Christentum, Narzissmus und Anti­semitismus, in: Context XXI, H. 8/2004, S. 5)
Das Christentum, das sich als gleichsam junges Geschwister des Judentums ebenfalls eine monotheistische Weltauffassung gab, hat die narzisstische Kränkung durch das Judentum, das – wie Béla Grunberger und Pierre Dessuant in ihrer Studie »Narcissisme, Christianisme, Antisémitisme« eindringlich zeigen – dem Menschen die Illusion der Gottgleichheit genommen hatte, nie wirklich reflektiert. Antisemiten identifizieren sich denn auch nicht mit dem strengen Gesetz, das nach der symbolischen Ermordung des Ur-Vaters aufgerichtet wurde, sondern mit dem Vater selbst; sie haben nicht die abstrakte Gleichheit verinnerlicht, sondern die konkrete Macht und die mit dieser einhergehende autoritäre Willküroption. In solcher Faszination der totalen väterlichen Macht artikuliert sich sowohl die Angst vor dieser wie die vor dem eigenen Macht- und Statusverlust, die im Antisemitismus in der Vorstellung des mächtigen wie machtlosen, des kastrierenden wie kastrierten Juden mündet, auf das Grunberger und Freud aufmerksam machen. Orale Aggression und anale Destruktion sind unbewusster Ausdruck des narzisstisch-omnipotenten Verschmelzungswunsches. Die antisemitische Phantasie artikuliert sich psychoanalytisch im Wechselverhältnis von Kastrationsangst und Kastrationsdepression, soziologisch als Angst vor dem Verlust von Anerkennung, Liebe oder Status bzw. als Reaktion auf diesen Verlust, wobei die »Kastrationsangst« eher zu aggressivem, die »Kastrationsdepression« eher zu defensivem Ausagieren der unbewältigten Konflikte führt. Die vom Judentum praktizierte Beschneidung wird in den antisemitischen Phantasien zum unheilvollen, unheimlichen und verängstigenden Mythos, der in enger Beziehung steht mit den analen Vorstellungen vom Juden als Teufel und Hexe, als »schreckliche, phallische, allmächtige und gefährliche Mutter« (Grunberger).

»L’ idée de Juif«

In Anschluss an die Überlegungen von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Jean-Paul Sartre und Hannah Arendt über die konkreten Erscheinungsformen des antisemitischen Projektionsbedürfnisses gegen »die Juden« ist zu betonen, dass durch die Totalisierung der bürger­lichen Gesellschaft, durch die Universalisierung des Äquivalenzprinzips und die warenförmige Zurichtung alles Lebendigen die Projektionsfläche des Antisemitismus selbst beliebig fungibel geworden ist, und deshalb in einem entmenschlichten Sinn willkürlich. Diese »Ticket-Mentalität« (Horkheimer/Adorno) äußert sich in einer verdinglichten Weltwahrnehmung, die sich allein an den Prinzipien der Austauschbarkeit und Willkür orientiert und von einem erheblichen Maß an Desinteresse und Empathielosigkeit gegenüber anderen, von der Unfähigkeit zum freien Objektbezug, gekennzeichnet ist. Dass sich das antisemitische Ressentiment keineswegs auf Juden beschränkt, sondern – wie vor allem Sartre betont hat – in der antisemitischen Phantasie prinzipiell fast jeder die Funktion eines »Juden« einnehmen kann, ändert allerdings nichts an der historischen Tatsache, dass sich der Antisemitismus immer und mit barbarischer Brutalität gegen Jüdinnen und Juden gerichtet hat.
Das antisemitische Weltbild wird dabei durch eine hermetische Abdichtung gegenüber Erfahrungen der Außenwelt und durch die Unfähigkeit bestimmt, die eigene Weltsicht mit der Realität zu vermitteln. Dies kann sich zum Beispiel darin äußern, dass Antisemiten auf eine nicht vorangegangene Aktion oder Äußerung (die eben lediglich von ihnen phantasiert wird) wie auf eine reale reagieren, wobei als »Jude« oder »jüdisch« auch Menschen oder Eigenschaften vorgestellt werden können, die es in Wahrheit nicht sind: »Juif par le regard de l’autre« nennt diesen Vorgang Enzo Traverso. Weil dieser Prozess auf antisemitischer Seite mit der Formierung einer Idee des Jüdischen einhergeht, für die jüdische Kultur, Religion oder Geschichte zwar als Folie dienen, aber letztlich nach Belieben entstellt oder neu konstelliert werden können, ist Sartre darin zuzustimmen, dass der Blick auf die Weltanschauung und die Leidenschaft der Antisemiten zu lenken sei, um den Antisemitismus verstehen zu können. In Anlehnung an Arendt lässt sich sagen, dass der moderne Antisemitismus im Unterschied zum vormodernen Anti­judaismus eine sich historisch entwickelnde und im 20. Jahrhundert zuspitzende Abstraktionsleistung vollzieht: weg von realen Jüdinnen und Juden als Projektionsobjekte, hin zum fiktiven, völkisch fremd bestimmten »Juden«, der lediglich durch die Antisemiten definiert wird und für den es keine Möglichkeit mehr gibt, sich dem antisemitischen Wahn zu entziehen.
Damit handelt es sich bei der Entwicklung des modernen Antisemitis­mus seit dem 18. und 19. Jahrhundert um einen sich radikalisierenden Prozess, bei dem antijüdische Vorurteile und Ressentiments zunehmend von der gesellschaftlichen Realität entkoppelt werden, bis sie schließlich in der totalen Ideologie des Nationalsozia­lismus zur vollkommenen Abstraktion werden, die »keiner Juden, sondern nur Judenbilder bedarf, um den Hass auf sie loszulassen« (Julia Schulze Wessel/Lars Rensmann: Radikalisierung oder »Verschwinden« der Judenfeindschaft? Arendts und Adornos Theorien zum modernen Antisemitismus, in: Dirk Auer/Lars Rensmann/Julia Schulze Wessel (Hg.): Arendt und Adorno, Frankfurt 2003, S. 128). Die in der empirischen Wirklichkeit des 18. und 19. Jahrhunderts loka­lisierbaren Konflikte zwischen Juden und Nicht-Juden stellen insofern auch nicht die Ursache für den zunehmenden Antisemitismus dar, sondern es handelt sich bei ihnen um das auslösende Moment für den transformierenden Sprung vom vormodernen, religiösen zum modernen, völkischen Antisemitismus. Das heißt auch, dass nicht einfach historische Konflikte und gesellschaftliche Differenzen zwischen Juden und Nicht-Juden als genuine Ursache zur Erklärung von Antisemitismus herangezogen werden können. Für den Antisemitismus sind nicht die historischen Tatsachen von Bedeutung, sondern die Vorstellungen, die sich die histo­rischen Akteure vom »Juden« machen. Konsequent ist der Antisemitismus, wie Sartre erkannt hat, nicht von einem äußeren Faktor (der sozialen oder historischen Erfahrung) her erklärbar, sondern lediglich durch die formulierte und phantasierte Idee vom Juden. Nicht der reale Jude, nicht das reale Ver­hal­ten von Jüdinnen und Juden, sondern »l’idée de Juif«, die Vorstellung, die sich die Antisemiten vom Juden machen, ist entscheidend.

Mimesis und falsche Projektion

Auf politischer und gesell­schaft­licher Ebene hat der Antisemitismus in der aufkommenden Moderne sich zunächst nur gegen die Gruppe der Juden gerichtet und insbesondere gegen ihre rechtliche und politische Emanzipation. Der Radikalisierungsprozess hat sich dann durch die immer stärker werdende Verknüpfung allgemeiner politischer Fragen mit dem Antisemitismus vollzogen – ein Prozess, den die Historikerin Shulamit Volkov mit dem Begriff des cultural code, zu dem der Antisemitismus geworden ist, präzise gefasst hat –, um sich in einer kulturpessimistischen Propaganda gegen das gesellschaftliche und politische System Bahn zu brechen und schließlich Vorstellungen über eine grundlegend neue Gesellschaft massentauglich zu machen, deren Entwurf und Durchsetzung die völkische Bewegung als ihre innerste Mission ansah.
Das Wahnhafte an diesem Prozess der anti­semitischen Projektion manifestiert sich in der wechselseitigen Verkehrung der Relationen zwischen Individuum und Gesellschaft, einer Umkehrung von Innen und Außen, von Psyche und Sozialität. In Anlehnung an Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Ausführungen in der »Dialektik der Aufklärung« über Mimesis und falsche Projektion kann diese so beschrieben werden, dass die antisemitische Weltauffassung nicht an einem mimetischen Transformationsprozess mit gelingender Objektrepräsentanz bei gleichzeitiger Subjektanerkennung interessiert ist, sondern an einer projektiv-wahnhaften Transformation der äußeren Wirklichkeit mit dem Ziel der Angleichung der gesellschaftlichen Umwelt an die wahnhafte Triebstruktur der Individuen. Denn der moderne ­Antisemitismus vollzieht im Unterschied zum vormodernen Antijudaismus zwar eine Abstraktionsleistung, sucht jedoch gerade dabei wahnhaft nach konkreten Projektionsflächen und macht den Juden zum Vorwurf, nicht konkret, sondern abstrakt zu sein – etwa in Form der Ware oder des Geldes. Die Antisemiten lehnen dabei, wie Sartre betont hat, bestimmte Abstraktionen der bürgerlichen Gesellschaft, insbesondere alle vermeintlichen Erscheinungsformen des Finanzkapitals wie Geld und Aktien ab, da diese der abstrakten Intelligenz des Jüdi­schen verwandt seien.
Damit werden in der antisemitischen Phantasie Juden zum Symbol für das Abstrakte als solches, was den höchst widersprüchlichen Gehalt antisemitischer Ressentiments begreifbar macht: »Den Juden« wird die Abstraktheit und damit die Moderne selbst zum Vorwurf gemacht, um Sozialismus wie Liberalismus, Kapitalismus wie Aufklärung, Urbanität, Mobilität oder auch Intellektualität gleichermaßen zu exorzieren. Einzig das schlecht Konkrete und seine politische Erscheinungsform, das Völkische, werden nicht von der antisemitischen Phantasie erfasst, da sie den Gegenpol der – zuerst von Sartre beschriebenen – Differenzierung zwischen allgemeiner und konkreter Denk- und Warenform und der daraus im antisemitischen Weltbild resultierenden Dichotomie von Weltgewandtheit und Bodenverbundenheit vorstellen. Moishe Postone hat dies so beschrieben, dass die Wertform der modernen Gesellschaft und die aus ihr resultierende Ausdifferenzierung zwischen Gebrauchs- und Tauschwert auf der einen sowie die Warenfetischisierung auf der anderen Seite ursächlich seien für eine im Antisemitismus vollzogene Verknüpfung dieser ökonomischen Sphären mit einem konkretistischen Weltbild, in dem das Abstraktionsprinzip in manichäischer Weise auf das Judentum projiziert wird.
Postone betont, dass bestimmte Aspekte der Vernichtung des europäischen Judentums so lange unerklärlich bleiben müssen, wie der Antisemitismus als bloßes Beispiel für Vorurteile, Fremdenhass und Rassismus im Allgemeinen behandelt werde, also so lange, wie der Glaube fortbestehe, dass Antisemitismus lediglich ein Beispiel für Sündenbockstrategien sei, deren Opfer auch Mitglieder irgendeiner anderen Gruppe hätten gewesen sein können. Neben der in der Shoah zum Ausdruck gekommenen, schieren quantitativen Singularität der antisemitischen Barbarei besteht auch eine qualitative Differenz zum rassistischen Vorurteil, worin die dem Anderen zugeschriebene potenzielle Macht konkret (materiell oder sexuell) vorgestellt wird, während die »den Juden« zugeschriebene Macht abstrakt, als »mysteriöse Unfassbarkeit, Abstraktheit und Allgemeinheit« (Postone) phantasiert wird. Da diese phantasierte Macht im Antisemitismus keinen identifizierbaren Träger hat, wird sie als wurzellos, ungeheuer und unkontrollierbar, vor allem aber als hinter der Erscheinung stehend und somit konspirativ, als unfassbar empfunden. Der nationalsozialis­tische Antisemitismus hat versucht, dieses Abstraktum in der antisemitischen Vernichtung konkret zu personifizieren und auszulöschen, weshalb die Shoah keine bloß funktionelle Bedeutung gehabt hat, die Ausrottung der Juden kein Mittel zu einem anderen Zweck, sondern Selbstzweck der Vernichtung gewesen ist.
In Anschluss an die im späten 19. Jahrhundert aufkommenden Rassentheorien wurden im modernen Antisemitismus so Vorstellungen von Natürlichkeit, Verwurzelung und Organizität gegen die warenproduzierende Gesellschaft in Anschlag gebracht, wobei diese Denk­for­m selbst Ausdruck jenes antinomischen Fetisches ist, der die Vorstellung erzeugt, das Konkrete sei natürlich, während sich das Gesellschaftlich-Natürliche zunehmend so darstellt, dass es biologisch erscheint. Abstraktes und Konkretes werden nicht in ihrer Einheit, als begründete Teile ­einer Antinomie verstanden, für die gilt, dass die wirkliche Überwindung des Abstrakten der Wert sei, den die geschichtlich-praktische Aufhebung des Gegensatzes selbst sowie jeder seiner Seiten einschließt. Auf diese Weise mutiert der Gegensatz von Stofflich-Konkretem und Abstraktem zum rassischen Gegensatz von Ariern und Juden: »Der moderne Antisemitismus ist also eine besonders gefährliche Form des Fetisches. Seine Macht und Gefahr liegen darin, daß er eine umfassende Weltanschauung liefert, die ver­schie­de­ne Arten antikapitalistischer Unzufriedenheit scheinbar erklärt und ihnen ­politisch Ausdruck verleiht. Er lässt den Kapitalismus aber dahingehend bestehen, als er nur die Personifizierung jener gesellschaftlichen Form angreift. Ein so verstan­de­ner Antisemitismus ermöglicht es, ein wesentliches Moment des Nazismus als verkürzten Antikapitalismus zu verstehen. Für ihn ist der Hass auf das Abs­trak­te charakteristisch. Seine Hypostasierung des existierenden Konkreten mündet in einer einmütigen, grausamen – aber nicht notwendig hasserfüllten Mission: der Erlösung der Welt von der Quelle allen Übels in Gestalt der Juden.« (Moishe Postone: Die Logik des Antisemitismus, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, H. 1/1982, S. 24)
Beim antisemitischen Wahn handelt es sich historisch nicht um ein individuelles, sondern um ein überindividuelles Phänomen, bei dem es nicht um einzelne Paranoiker geht, sondern darum, dass sich die gesamte Gesellschaft das Wahnhafte des Antisemitismus als Norm zueignete und das Phantasma der gesellschaftlichen Normalität durch den antisemitischen Wahn strukturiert wurde. Die Antisemiten entstellen sich ihren Wahn zur Wirklichkeit und versuchen, die Wirklichkeit ihrer eigenen psychischen Devianz zu unterwerfen. Der antisemitische Wahn steigerte sich dabei von einem nationalen Konzept der negativen Integration hin zur Vernichtung der als nicht-identisch phantasierten Menschen mit dem konkreten Ziel der Herstellung völkischer Homogenität und der Vernichtung der abstrakten Möglichkeit von Nicht-Identität und Ambivalenz. Die vom Nationalsozialismus exekutierte antisemitische Wahnstruktur ist die deutlichste Hervorkehrung der gesellschaftlichen Wirklichkeit antisemitischer Phantasien, die Massenvernichtung der Juden die Utopie des modernen Antisemitismus, die in der Shoah auf barbarische Weise Wirklichkeit wurde – und deren Wiederholung in der Gegenwart vom islamischen Antisemitismus erstrebt wird. Die Antisemiten wollen vernichten, was sie begehren, aggressiver Vernichtungswunsch und narzisstische Identifizierung konvergieren, der phantasierte Neid generiert den omnipotenten Wahn.

Der völkische Souverän

Wie stark Antisemitismus in einem gesellschaftlichen und politischen Kontext verankert ist und wie er radikalisiert werden kann, hängt praktisch von der Konkretisierung der Ambivalenzen der Moderne ab, da das antisemitische Potential aufgrund der Totalität moderner Vergesellschaftung prinzipiell überall in gleichem Maße vorhanden ist. Entscheidend für seine besondere Ausprägung sind die staatliche Orga­nisation und die Form ihrer Durchsetzung durch den Souverän. Hannah Arendt hat in ihrer Studie »The Origins of Totalitarianism« darauf aufmerksam gemacht, dass es sich beim Antisemitismus letztlich um eine antinationale Weltanschauung handelt, da der Nationalsozialismus den Nationalstaat gering geachtet und dem nationalen das völkische Denken entgegengesetzt habe. Arendt versteht dabei völkische Ideologie und rassistisches Denken als dem Nationalismus entgegengesetzte, ja diesen untergrabende Faktoren, wobei ihr Nationalismusbegriff implizit an einer republikanischen Nationenvorstellung orientiert ist. Diese theoretisch einleuchtende Annahme allerdings als Grund­lage für die Hypothese zu nehmen, dass nicht-völkisch konstituierte Staaten zugleich auch nicht-antisemitisch wären, würde Arendts Gedanken in ihr Gegenteil verkehren. Denn die realen Staaten der modernen bürgerlichen Gesellschaft entsprechen keinen Idealtypen, sondern sind wie die bürgerliche Gesellschaft selbst von der Dialektik der Aufklärung geprägt. Die Dialektik des modernen Staates besteht in seinem Doppelcharakter, einerseits partikulare Gewalten durch monopolisierende Souveränität einzuhegen und mit diesem als legitim anerkannten Gewaltmonopol seine Bürger öffentlich wie privat vor physischer Gewalt durch Dritte zu schützen, andererseits damit aber die Proklamierung der Allgemeinheit zur Sicherung ökonomischer Partikularinteressen zu realisieren und durch abstrakte politische Gleichheit reale ökonomische Ungleichheit festzuschreiben, Gewaltverhältnisse also nicht aufzuheben, sondern strukturell werden zu lassen.
Franz L. Neumann hat diese Dialektik in den Mittelpunkt seiner Analyse moderner Staatstheorie gerückt und betont, dass die beiden zentralen Komponenten – Souveränität und Freiheit – im Staatlichen eine Einheit bilden, also letztlich weder in die eine noch die andere Richtung auflösbar sind und in einem unauflösbaren Widerspruch stehen. Denn der moderne Staat organisiert sich im Spannungsverhältnis von ethnos und demos, von Souveränität und Freiheit, von Macht und Gesetz. Zentral an dieser doppelten Ambivalenz des modernen Staates ist, dass dieser idealtypisch zugleich die Basis für Antisemitismus und völkisches Denken bietet, wie er auch Garant für ihre Verhinderung sein kann – je nachdem, in welcher Konstellation ethnos und demos, Souveränität und Freiheit konkret zueinander stehen.
Der Nationalsozialismus, der auf den Prinzipien des ethnos und der völkischen Souveränität fußte, hat den modernen Staat in seiner Ambivalenz zu eliminieren versucht. Ziel war die Errichtung eines antisemitischen »Unstaates« (Neumann), in dem jede Form von Ambivalenz und Nicht-Identität zerstört und damit die Wahnphantasie völkischer Homogenität durch anti­semitische Vernichtung realisiert sein sollte. Es liegt dabei gleichermaßen theoretisch wie historisch auf der Hand, dass die antisemitische Vernichtungspolitik innerhalb der antisemitischen Logik kein Ende haben kann, sondern immer wieder aufs Neue antisemitische Imagines zur ideologischen Aufrechterhaltung des psychischen Reinheitswahns produzieren muss. Die erstrebte einseitige Aufhebung der Ambivalenz des modernen Staates muss scheitern, so dass in die antisemitische Weltanschauung eine wahnhafte Struktur permanenter Wiederholung eingeschrieben ist. Insofern gilt Sartres Formulierung, wonach der Antisemitismus die Furcht vor dem Menschsein sei, in ihrer ganzen Bruta­lität, da erst in der Vernichtung des letzten Menschen der omnipotente Reinheitswunsch vollends zu sich selbst käme.
Die bewusste oder unbewusste Entscheidung zum Antisemitismus ist also eine Entscheidung für eine spezifische, idiosynkratische Haltung zur modernen Gesellschaft; sie ist eine die ganze Person erfassende Totalität. Diese »totalité syncrétique« (Sartre) ist eine Kombination aus Weltanschauung und Leidenschaft, in deren Mittelpunkt die Idee vom »Juden« steht. Zwischen Weltanschauung und Leidenschaft, zwischen Kognition und Emotion besteht ein je ­individuelles Mischverhältnis, bei dem subjekt- und situationsabhängig mal die emotionale, mal die kognitive Seite dominiert. Ursache für die antisemitische Begeisterung ist Sartre zufolge eine wahnhafte Sehnsucht nach Abgeschlossenheit und eine Angst vor Veränderung, wobei diese Angst mit einer Angst vor sich selbst wie vor der Wahrheit einhergeht. Der Antisemit strebt nach Stillstand und will sich lediglich auf essentialistisch unterstellte Gegebenheiten verlassen, die als angeboren begriffen werden, und negiert das Erworbene und Soziale. Letztlich geht es im Antisemitismus um den kognitiv wie emotional artikulierten Wunsch nach Unfreiheit und Identität, verbunden mit einer Angst vor Freiheit und Mehrdeutigkeit, mithin vor dem Leben selbst. Durch die Abtrennung der Juden aus dem homogen phantasierten völkischen Kollektiv und ihre sowohl politisch-gesellschaftliche wie symbolische Isolierung soll die illusionäre Sehnsucht narzisstischer Homogenität aufrecht erhalten bleiben, die dem Antisemitismus als Wert an sich gilt.

Von Samuel Salzborn ist soeben im Campus Verlag das Buch »Antisemitismus als negative Leitidee der Moderne« erschienen.