Über seltsame Passagiere an Bord der »Mavi Marmara«

Graue Wölfe schwimmen nicht

Auch Graue Wölfe befanden sich unter den Hunderten Passagieren der »Mavi Marmara«, als das Schiff von israelischen Soldaten gestürmt wurde.

Was geschah tatsächlich an Bord der »Mavi Marmara«? Diese Frage beschäftigt Hunderttausende Menschen in aller Welt, nimmt man als Maß die Klickzahlen, die im Internet veröffentlichte Videos über die Ereignisse an Bord des Schiffs erreichten. Am Sonntag veröffentlichte die türkische Zeitung Hürriyet neun Fotos, die nach Angaben der Zeitung einen Einblick in das Geschehen auf der »Mavi Marmara« in den frühen Morgenstunden des 31. Mai geben, als israelische Kommandos das Schiff stürmten. Auf den Bildern sieht man von Aktivisten überwältigte israelische Soldaten, teils verletzt, jedenfalls entwaffnet im Inneren des Schiffs.
Auf dem israelischen Blog »Promised Land« heißt es: »Seit der Entführung von Gilad Shalit gibt es eine standing order in Israel, keinen IDF-Soldaten lebendig gefangen nehmen zu lassen, auch wenn das bedeutet, sein Leben zu riskieren – ganz abgesehen vom Leben der Leute um ihn herum.« In einem Update heißt es auf der Seite: »Alon Benn David, Militärkorrespondent von Channel 10, gab letzte Nacht eine inoffizielle Darstellung, die auf Armeequellen basiert: Angriff auf das Schiff begann um 4.30 Uhr, als 15 Soldaten sich auf das oberste Deck abseilten. Die ersten drei wurden auf dem unteren Deck gefangengenommen. Nach einer Minute eröffneten Soldaten das Feuer und übernahmen die Kontrolle über das oberste Deck. Um 4.35 Uhr kommt ein weiteres Team mit dem Helikopter an. Um 4.50 Uhr beginnt die Armee, das Schiff zu übernehmen. Um 5.00 Uhr meldet die Armee, sie habe Kontrolle über die Brücke des Schiffs. Die Soldaten im unteren Deck entkommen (…): zwei springen ins Wasser, und der dritte erreicht das vordere Ende des Schiffs und wartet hier darauf, dass die anderen Kommandos ihn retten. Nach einem Bericht von al-Jazeera (…) entkam der dritte Soldat nicht; IDF-Kommandoangehörige stürmten den Raum und erschossen die Passagiere, die ihn umringten. Es gibt bislang keine offizielle Version der IDF über die Ereignisse.«
Dass israelische Soldaten überwältigt und ins Innere des Schiffs verbracht wurden, erklärt zumindest ansatzweise den chaotischen Verlauf der israelischen Kommandoaktion an Bord der »Mavi Marmara«, der zum Tod von mindestens neun Gaza-Aktivisten und vielleicht 50 Verletzten, inklusive der israelischen Soldaten, führte. Aber viele Fragen bleiben offen. Die israelischen Behörden haben das Material von Reportern und Passagieren der »Free Gaza Flotilla« beschlagnahmt. Ob dieses Material oder das von der IDF aufgenommene je veröffentlicht wird, ist derzeit unklar.

Unklar ist aber auch, wie die Organisation an Bord der »Mavi Marmara« aussah. Das Passagierschiff war von der türkisch-islamistischen NGO IHH gekauft worden und fuhr nach Angaben von marinetraffic.com unter komorischer, nicht türkischer Flagge. Gab es an Bord der »Mavi Marmara« ein unter allen Aktivisten abgestimmtes Vorgehen? Es gibt jedenfalls keine Berichte über eine Versammlung, wie sie nach Angaben des FAS-Reporters Mario Damolin auf dem Frachter »Elef­theri Mesogeios«, der ebenfalls Teil der »Free Gaza Flotilla« war, stattgefunden haben soll. »Am Mittag Vollversammlung«, berichtet er in seinem Text, der ein Musterbeispiel von embedded journalism darstellt.. »Es gibt schnell Übereinstimmung: Man will keinen physischen Widerstand leisten.«
An Bord der »Mavi Marmara« aber befanden sich nicht nur 29 Personen wie auf dem Frachter, sondern mehr als 600. Und immer mehr Details kommen ans Licht, dass es sich dabei um eine exquisit zusammengewürfelte Truppe handelte, die sich keineswegs auf linke Politiker aus allen möglichen Ländern, Vertreter von Nichtregierungsorganisationen wie der IPPNW (s. Interview Seite 5), Prominente aller Art und Journalisten beschränkte. Das israelische Middle East Media Research Institute (Memri) wertete Presseberichte aus diversen arabischen Ländern aus, denen zufolge Delegationen aus dem Jemen, Libanon, Ägypten und Kuwait an Bord der »Mavi Marmara« mitreisen sollten, an denen jeweils Mitglieder der Muslimbruderschaft beteiligt waren. Die Hamas ist ein Ableger der Muslimbruderschaft.

Einer der von israelischen Soldaten Erschossenen war der türkische Staatsbürger Ibrahim Bilgen, gut 60 Jahre alt. Er war Mitglied der Saadet Partisi, die unter den Auspizien des ehemaligen Premiers und Islamisten Necmettin Erbakan im Jahr 2001 gegründet worden war. Die Saadet-Partei ist der parlamentarische Flügel der islamistischen Milli-Görüs-Bewegung, die als türkisches Pendant zur Muslimbruderschaft betrachtet werden kann.
Ibrahim Bilgen war nicht der einzige aus diesem Spektrum auf dem Schiff. In einem Beitrag von Report Mainz, der am Montagabend ausgestrahlt wurde, wird auf eine lange Liste von Mitreisenden auf der »Mavi Marmara« verwiesen, die das Milli-Görüs-Forum im Internet veröffentlichte. Dazu hieß es von Report Mainz: »Auf der Liste: Autoren radikalislamistischer Zeitungen und Funktionäre der Partei BBP, zum Beispiel deren Pressesprecher, präsentiert auf der parteieigenen Webpage.« Personen aus dem Umfeld der BBP waren in den Mord an dem christlich-armenischen Journalisten Hrant Dink verwickelt (s. den Artikel »Mörderische Herrenabende« in Jungle World 14/2007).
In einer Kleinen Anfrage der Linkspartei vom 5. Dezember 2007 hieß es zur BBP noch: »Als Graue Wölfe (…) werden die Anhänger der rechtsextremen Partei der Nationalistischen Bewegung MHP und der von dieser abgespaltenen islamisch-nationalistisch orientierten Großen Einheitspartei BBP aus der Türkei bezeichnet. (…) Das Landesamt für Verfassungssschutz Nordrhein-Westfalen bescheinigt der Bewegung der Grauen Wölfe eine rassistisch-nationalistische Orientierung, Antisemitismus, Antikommunismus, eine stark islamisch gefärbte Ideologie, Gewaltbereitschaft und am Führerprinzip ausgerichtete totalitäre Strukturen.« Nun schipperten Abgeordnete der Linkspartei zusammen mit Grauen Wölfen gen Gaza.
Es ist kaum davon auszugehen, dass es eine unter allen Aktivisten an Bord koordinierte Absprache über das gemeinsame Verhalten bei einer israelischen Stürmung des Schiffs gab. Dagegen spricht, dass sie aus allen möglichen Ländern stammten, also Sprachbarrieren existierten, und überaus heterogen zusammengesetzt waren. Es scheint eher so, dass es unter den Mitreisenden einen vagen Konsens gab, irgendwie Widerstand zu leisten. Das wiederum ließ diversen Gruppen freie Hand, nach eigenem Gusto zu agieren. Und die verhängnisvolle Entscheidung zu treffen, israelische Soldaten zu überwältigen und ins Innere des Schiffs zu verfrachten.