Zum NSU-Prozess

Die Freunde der Uwes

Im NSU-Verfahren haben sich die Beschuldigten Holger G. und Carsten S. geäußert. Ihre Darstellungen oszillieren zwischen einer Verharmlosung der eigenen Verantwortung und Selbstmitleid.

Der Blick ruhte auf dem Papier. »Ich bin entsetzt über das Ausmaß und das Leid, das diese Taten über die Opfer und ihre Familien gebracht haben«, sagte Holger G. am siebten Verhandlungstag im Landgericht München mit gepresstem Tonfall. Kurz vor 12 Uhr am 6. Juni war der mutmaßliche Unterstützer des NSU-Trios, das aus Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe bestand, der erste Angeklagte, der sich bei den Angehörigen der Opfer entschuldigte. »Dass die drei im Untergrund lebten, habe ich unterstützt. Dass ich dies getan habe, tut mir fürchterlich leid.«
Im fensterlosen Gerichtssaal A 101 könnte sich Carsten S. in dieser Verhandlungswoche ebenso an die Betroffenen der Morde, Bombenanschläge und Banküberfälle wenden. Die erste Möglichkeit für eine Entschuldigung hat S., der sich bisher neben Holger G. als einziger Angeklagter äußerte, am fünften und sechsten Verhandlungstag allerdings nicht genutzt. »Er hat den anwesenden Familienangehörigen noch nicht einmal ins Gesicht geblickt«, sagte Mehmet Daimagüler, der Rechtsbeistand von zwei Familien der NSU-Opfer, über die Aussagen von S. Thomas Bliwier, der Anwalt der Familie Yozgat, teilte nach der Erklärung von G. mit: »Für die Familie Yozgat ist jede Erklärung des Bedauerns halbherzig, wenn sie nicht einhergeht mit dem Bemühen, die Taten des NSU vollständig aufzuklären.« In ihren Ausführungen wiederholten G. und S. jedoch lediglich ihre Aussagen, auf denen die Anklage weitgehend beruht. Eine Ergänzung, einen Fakt, der weiterführen könnte, lieferten sie nicht. In ihren ein wenig weitergehenden Aussagen vor Gericht konzentrierten sich die beiden Angeklagten in der vorigen Prozesswoche vor allem auf sich selbst.
Dreimal musste G. im Saal mit der Verlesung seiner Erklärung beginnen. Zu schnell, zu leise hatte er gesprochen. »Lassen Sie sich Zeit, wir haben die Zeit«, sagte der Vorsitzende Richter Manfred Götzl. Doch der 39jährige Lagerist musste erst von der hinteren Anklagebank umgesetzt werden, mit einem neuen Mikrofon in die zweite Reihe. Auf G. dürfte diese Umplatzierung nicht gerade erleichternd gewirkt haben, schließlich saß er nun unmittelbar hinter der Hauptangeklagten Beate Zschäpe. In der Vernehmung hatte G. schon ausgesagt, den dreien wegen ihrer fast 20 Jahre währenden Freundschaft in den 13 Jahren Untergrundleben mehrfach geholfen zu haben. In Jena habe er Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe schätzen gelernt. Im »Nationalen Widerstand Jena« hätten sie »eine gewisse Autorität« genossen. Ihre Freundschaft habe ihn aufgewertet, las G. vor. Mit hörbarem Stolz führte er aus, dass sie, anders als andere Kameraden, »politisch« etwas bewegen wollten. »Wir sind nicht grölend und prügelnd durch die Straßen gelaufen.« Auch über »gewaltsame Aktionen« hätten sie gesprochen, aber er habe nicht geglaubt, dass Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe Gewalt ausüben könnten. Die Freundschaft habe sich für G. dadurch gefestigt, dass das Trio ihm beigestanden habe, nachdem er bei einer polizeilichen Vernehmung André K. identifiziert hatte. »Mach dir keinen Kopp«, sollen die beiden »Uwes« gesagt haben. Als 1998 K. Holger G., der zu dieser Zeit schon in der Region Hannover in Lauenau wohnte, mitgeteilt habe, dass die drei in den Untergrund gehen und seine Hilfe benötigen würden, habe für G. festgestanden, dass diese »Entscheidung« nicht in Frage zu stellen und Hilfe geboten sei.

3 000 D-Mark soll er ihnen geliehen und seinen Reisepass zur Verfügung gestellt haben, den Böhnhardt nutzen konnte. Im Jahr 2000 oder 2001 habe G. ihnen erneut mit der Lieferung einer Waffe geholfen. »Ich war zu Besuch bei Wohlleben in Jena und am letzten oder vorletzten Tag fragte Ralf mich, ob ich den dreien was nach Zwickau bringen könne«, trug G. vor. Ralf Wohl­leben, der beschuldigt wird, eine der Mordwaffen geliefert zu haben, habe aus seinem Schlafzimmer einen Stoffbeutel geholt. Erst im Zug will G. nachgeschaut haben, was im Beutel war: »Ich war geschockt.« In Zwickau soll ihn »Beate« abgeholt, und zu ihrer Wohnung in der Polenzstraße gebracht haben. »Dort hat einer der Uwes die Waffe herausgeholt und durchgeladen. Ich sagte: »Was soll der Scheiß?« behauptete G. und betonte, Zschäpe sei dabei gewesen. Aus alter Verbundenheit, sagte G. habe er dem Trio später seinen Führerschein und seine ADAC-Karte überlassen.
Mit dem Führerschein wurden mehrere Wohnmobile angemietet, darunter diejenigen, die der NSU bei sechs Morden und einem Bombenschlag genutzt haben soll. Für »Beate« habe er eine Krankenversicherungskarte besorgt. In den kommenden Jahren habe G., das Trio immer wieder getroffen. Ein Leben im Untergrund, das wollte G. richtigstellen, bedeutete nicht, sich im Geheimen zu treffen. In der Region Hannover seien sie unterwegs gewesen, man habe in Restaurants gegessen, Bier getrunken oder Billard gespielt. Als er ihnen bei einem dieser Treffen mitgeteilt habe, er sei nicht mehr »aktiv« in der Szene, habe das nicht für Aufregung gesorgt. Vor diesem Geständnis hatte er sich Sorgen gemacht, dass ihre Freundschaft enden würde, doch die hielt.
Erst am 19. Mai 2011 sei er skeptisch geworden, teilte G. vor Gericht mit. An diesem Tag sollen die Freunde überraschend vor seiner Tür gestanden haben, sie benötigten erneut einen Reisepass für Böhnhardt. Zschäpe soll einen Kuchen gebacken haben. G. sagte vor Gericht aus, er habe gezögert. Während Böhnhardt an seine »menschliche Seite« appelliert habe, habe Mundlos ihm vorgehalten, er könne nicht kneifen. G. sagte, er habe das als Drohung empfunden, gemeinsam mit Zschäpe habe er schließlich den Reisepass beantragt. Mehrmals betonte G. in seiner Erklärung für das Gericht, er habe nichts von den Taten des NSU gewusst. »Es fällt mir bis heute schwer, das Bild damit in Einklang zu bringen, das ich von ihnen hatte«, sagte er und verstummte. Für Nachfragen stand G. nicht zur Verfügung. Während G. seine Erklärung vorlas, blickte Wohlleben, der von G. belastet wird, häufiger in dessen Richtung. Nur als G. seinen Entschuldigungsversuch vortrug, grinste er. Ebenso wie der weitere Angeklagte Andre E., der bis zum Auffliegen des NSU engsten Kontakt zum Trio hielt, ist Wohlleben bis heute in der Szene fest verankert. Lässig, den Kopf mit dem Arm auf der Anklagebank abgestützt, hörte Andre E. auch Carsten S. zu, als er vorige Woche vor Gericht aussagte.
Am fünften Verhandlungstag hatte der 33jährige Sozialarbeiter um 15.45 Uhr begonnen zu erzählen. Auch er musste unmittelbar hinter Zschäpe sitzen, die schweigend die Verhandlungstage verfolgte. Stockend, mit brüchiger Stimme, teilte S. mit, er sei im Alter von 16 Jahren in die rechte Szene von Jena gekommen. Seit seinem 13. Lebensjahr sei er sich seiner Homosexualität bewusst gewesen, anfänglich habe er das jedoch verdrängt. Carsten S., der wegen Beihilfe zu neun Morden angeklagt ist, machte in der rechtsextremen Szene schnell Karriere. 1999 wurde er unter Ralf Wohlleben stellvertretender Kreisvorsitzender der NPD und 2000 stellvertretender Bundesgeschäftsführer der NPD-Jugendorganisation »Junge Nationaldemokraten«.

Nach dem Abtauchen von Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe habe André K. ihn gefragt, ob er telefonisch Kontakt zu ihnen halten könne. Das Trio habe auf die Mailbox eines Handys gesprochen und ihn instruiert, an welcher Telefonzelle es ihn anrufen würde, sagte er. Einmal sei auch Zschäpe am Apparat gewesen. Etwa im März 2000 hätten »die Uwes« eine Handfeuerwaffe und Munition verlangt. S. zufolge fragte er bei Wohlleben nach, der ihn zu Andreas S. geschickt haben soll. Knapp eine Woche später soll S. eine tschechische Ćeská 83 mit Schalldämpfer – die spätere Tatwaffe bei neun Morden – gehabt haben. Nachdem Wohlleben seine Zustimmung gegeben hätte, will S. die Waffe im Beisein von Zschäpe in einem Abbruchhaus übergeben haben. Mehrmals fragte Götzl nach, denn S. antwortete ungenau und zögerlich. Als der Vorsitzende Richter wissen wollte, ob er bei der Übergabe keine Fragen gehabt habe, antwortete der Beschuldigte, er habe »ein positives Gefühl gehabt, dass die drei in Ordnung waren«. Am sechsten Verhandlungstag versuchte Götzl erneut, Genaueres von S. zu erfahren. Doch angebliche Erinnerungslücken dominierten. So recht wollte oder konnte S. über seine rechtsextreme Vergangenheit nicht reden. In einer Holzhütte habe er mit Kameraden einmal zwei verprügelt, die sie als »Nazis« beschimpft hätten. Er selbst habe bei dem Angriff auch zugetreten, räumte er ein. S. berichtete davon, wie sie Dönerbuden umgeworfen hätten.

»Warum eine Dönerbude?« wollte Götzl wissen. »Das war ein gewisses Feindbild für uns«, sagte S., zögernd fügte er hinzu: »Wenn da eine Bockwurstbude gestanden hätte, hätten wir das wohl nicht gemacht.« Auf »Deutschtümelei«, den »Hass auf Migranten«, die »multikulturelle Gesellschaft« und das »Finanzkapital« kommt Carsten S. erst später zu sprechen. Nicht ohne zu betonen, ihn habe aber vor allem »die Gemeinschaft« angezogen. 2000 verließ er die Szene. Wohlleben soll den letzten Anstoß mit einer homosexuellenfeindlichen Äußerung gegeben haben. Nicht nur den Prozessbeteiligten erschien die Zurückhaltung von S., wenn es um seine ­eigene Rolle in der rechten Szene gin, auffällig. Für einen Kader, dem auch die vertrauensvolle Kontakthaltung zu den Untergetauchten übertragen worden sein soll, lieferte er eine gewagte Selbstdarstellung. »Bei ihm hörte sich seine Nazimilitanz stellenweise wie ein harmloser Abenteuerausflug an«, sagte Daimagüler. Die Schilderungen seien von »Selbstmitleid« geprägt, findet Bliwier. Beide Anwälte gehen davon aus, dass die Aussagen bisher »reine Schutzbehauptungen« waren. Relativ gelassen präsentierte sich Bundesanwalt Herbert Diemer nach den Einlassungen der beiden Angeklagten. Die Beweisführung für die Anklage sei nicht gefährdet. Die Bundesanwaltschaft verfolgt die Strategie, dass die redewilligen Angeklagten die schweigende Hauptangeklagte Beate Zschäpe und die beiden anderen angeklagten mutmaßlichen Unterstützer im Prozess glaubhaft belasten.
Am achten Verhandlungstag räumte Carsten S. zwar ein, schon frühzeitig Hinweise auf die Gewaltverbrechen des NSU erhalten zu haben. Bei einem Treffen hätten Böhnhardt und Mundlos auf eine Tat in Nürnberg angespielt. »Da haben die gesagt, dass die in Nürnberg in einem Laden eine Taschenlampe hingestellt haben«, sagte S. unter Tränen. Er habe damals – um die Jahrtausendwende – nicht gewusst, was damit gemeint gewesen sei. Doch er fügte hinzu: »Dann kam Frau Zschäpe und sie sagten ›psst‹, damit Frau Zschäpe das nicht mitbekommt.« Diese Aussage könnte Zschäpe deutlich entlasten.
Später habe Wohlleben die Bemerkung fallen lassen, so S., dass »die jemanden angeschossen« hätten. Bei dem Telefonat habe Wohlleben gelacht.