Die Protestbewegung in Thailand

Protestieren bis zum Putsch

Mit der Blockade von Ministerien will in Thailand eine reaktionär-royalistische Bewegung eine Staatskrise provozieren.

Die neue Protestbewegung in Thailand wird radikaler und gewalttätiger. Nach großen Demons­trationen am Demokratiedenkmal im Zentrum Bangkoks mit über 100 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern hat die »Zivile Bewegung für Demokratie« angefangen, Ministerien zu besetzen. Inzwischen prägen Straßenkämpfe mit der Polizei das Bild der Hauptstadt, und es sind vier Tote zu beklagen. Das Ziel der Protestbewegung ist die »Ausmerzung des Thaksin-Regimes«. Damit gemeint ist die Regierung von Yingluck Shinawatra mit ihren Verbindungen zu Yinglucks Bruder, dem 2006 durch einen Putsch gestürzten und nach wie vor einflussreichen ehemaligen Ministerpräsident Thaksin Shinawatra.
Die Parolen ähneln denen der »Gelbhemden« der People’s Alliance for Democracy (PAD), die mit ihren Protesten 2006 und 2008 zur Absetzung von Thaksin und seinem Nachfolger beitrugen. Doch die PAD ist inzwischen diskreditiert und ohne Ausstrahlungskraft. Statt gelb trägt die neue Bewegung deshalb die Nationalfarben Thailands. Wegen des ohrenbetäubenden Einsatzes von Trillerpfeifen wird sie auch die Trillerpfeifenbewegung genannt. Doch die neue Verpackung und das Pfeifkonzert können über die alten Inhalte nicht hinwegtäuschen: Die Kritik am Einfluss des Thaksin-Clans hat eine royalistische, nationalistische und antidemokratische Tendenz.
Der neue Anführer der Bewegung ist Suthep Thaugsuban, ein Großgrundbesitzer aus dem Süden Thailands. Suthep ist ein altbekannter Poli­tiker der Demokratischen Partei, der 1994 als stellvertretender Landwirtschaftsminister zurücktreten musste, nachdem er im Rahmen einer Landreform Besitztitel an gut betuchte Freunde vergeben hatte. Zuletzt war er stellvertretender Ministerpräsident unter Abhisit Vejjajiva und verantwortlich für das blutige Vorgehen der Armee im Mai 2010 gegen die Rothemden – die Thaksin und seine Nachfolger unterstützten –, als über 90 Personen erschossen wurden. Suthep fordert ein »Volkskommitee« mit ernannten »Volksvertretern« an Stelle der parlamentarischen Demokratie.

Anlass der neuen Protestwelle war ein Amnestiegesetz der Regierung, das alle Anklagen wegen politisch motivierter Straftaten während der Auseinandersetzungen der vergangenen Jahre annullieren sollte. Das Gesetz war eigentlich als Teil einer Versöhnungspolitik gedacht und sollte in der ursprünglichen Fassung für Aktivisten an der Basis gelten – und zwar sowohl für Rot- wie Gelbhemden. Für die Rothemdbewegung entsprach das Gesetz einer ihrer Hauptforderungen, da viele, die 2010 aktiv waren, nach wie vor in den Gefängnissen sitzen.
Doch nach der ersten Lesung im Parlament wurde der Gesetzentwurf so geändert, dass er auch für die politisch Verantwortlichen gelten sollte. Die sehr schwammige, aber umfassende Formulierung in dem neuen Gesetzentwurf könnte so ausgelegt werden, dass diejenigen, die für den Putsch 2006 oder für das blutige Vorgehen der Armee gegen die Rothemden verantwortlich waren, in den Genuss der Amnestie kämen. Ebenso könnte sich aber auch Thaksin auf das Gesetz berufen, um die gegen ihn verhängten Strafen und anhängigen Prozesse aufzuheben.
Das Amnestiegesetz bereitete damit die Rückkehr Thaksins nach Thailand vor. Genau das hat die Gemüter der Gegnerinnen und Gegner Thaksins erhitzt und die neue Protestbewegung hervorgebracht. Ursprünglich ging es bei den Protesten darum, die Abstimmung über das Gesetz im Senat zu beeinflussen. Das thailändische Oberhaus hat am 11. November geschlossen gegen das Amnestiegesetz gestimmt. Auch die ­Regierung von Yingluck Shinawatra hat angekündigt, die Initiative zu überdenken. Warum dann die Eskalation?
Als Yingluck Shinawatra 2011 die Wahl gewann, war das royalistische Establishment schockiert. Putsch, Parteiverbote, Medienzensur, Zerschlagung der Rothemdbewegung und Verhaftung ­ihrer führenden Mitglieder reichten nicht aus, um die Wahl für sich und die Demokratische Partei um Abhisit und Suthep zu entscheiden. Seitdem betrieb Yingluck gezielt eine Versöhnungspolitik, um einen Deal mit der Allianz von Königshaus, Militär und führenden Staatsbeamten zu erreichen. Sie betonte stets ihre Loyalität zum König und traf sich medienwirksam mit dem verhassten Prem Tinsulanonda, der bei den Royalisten noch immer sehr viel Einfluss hat.
Um diesen Kurs durchzusetzen, hat Yingluck die eigene Basis, die Rothemden, demobilisiert. bis heute lässt sie etliche Rothemden im Gefängnis. Anstatt die republikanische Gesinnung unter den Rothemden aufzugreifen, um die Macht der Royalisten einzuschränken, bleibt der Artikel 112 der Verfassung über Majestätsbeleidigung unangetastet und wird nach wie vor benutzt, um Diskussionen im Netz zu zensieren. Am schlimmsten ist aber die Vorstellung, dass die Verantwortlichen für das Massaker gegen die Rothemden, Abhisit und Suthep, von der Amnestie profitieren könnten. Viele Rothemden fühlen sich von Yingluck verraten.
Doch dieses Vorgehen entspricht dem Populismus des Thaksin-Clans. Dessen Mitglieder appellieren mit progressiven Programmen an die Armen, um ihre eigene Macht als Superreiche auszubauen, und benutzen die Rothemdbewegung als Manövriermasse, um ihre Verhandlungsposition gegenüber der alteingesessenen Elite zu verbessern. Hinzu kommt, dass das wirtschaftspolitische Projekt von Thaksin und Yingluck – Kapitalismus mit flankierendem Keynesianismus – nach wie vor zu sozialen Konflikten führt. Das Rezept für die Landwirtschaft, aus Subsistenzbauern kapitalistische Unternehmer zu machen, hat auf Kosten migrantischer Arbeitskräfte viel Wohlstand in die ländlichen Regionen gebracht. Es macht Bäuerinnen und Bauern aber auch von den Preisschwankungen auf dem Weltmarkt abhängig. Um die Reisbauern davor zu schützen, hat Yingluck ein Preisgarantiesystem eingeführt und Reis zu festen Preisen aufgekauft. Kautschukbauern, die ähnliche Preisgarantien forderten, blockierten jüngst im Süden des Landes tagelang die Straßen.
Auch Verhandlungen mit der EU über ein Freihandelsabkommen führten zu neuen Protesten. Das Abkommen verspricht neue Absatzmärkte für die Konzerne des Thaksin-Lagers, würde aber auch ein verschärftes Patentrecht mit sich bringen, unter anderem für antiretrovirale Medikamente, die für die vielen HIV-Positiven in Thailand lebenswichtig sind. Die Freihandelspolitik untergräbt damit eine der wichtigsten sozialen Errungenschaften des Thaksin-Regimes: das steuerfinanzierte Gesundheitssystem für alle.
Die Unzufriedenheit mit der Regierung Ying­lucks und die Empörung über eine mögliche Rückkehr Thaksins haben dessen Gegner geschickt ausgenutzt. Suthep und die Demokraten eskalieren die Situation aber auch deshalb, weil das Scheitern des Amnestiegesetzes sie in Gefahr bringt. Ende Oktober wurden sowohl Abhisit als auch Suthep wegen ihrer Verantwortung für den Einsatz des Militärs gegen Zivilisten offiziell des Mordes angeklagt. Dies war ein Druckmittel, damit sie die Amnestie für Thaksin akzeptieren. Wenn es aber keine Amnestie gibt, könnten die Lieblinge des Establishments womöglich wegen Mordes verurteilt werden.
Suthep spekuliert jetzt darauf, dass ein großer Teil des Staatsapparats gegen die Regierung Yinglucks ist, und wähnt sich auf der Siegesstraße. Dafür spricht auch, dass das Verfassungs­gericht wieder einmal eine Initiative der Regierung als verfassungswidrig aufhob. Das Parlament hatte eine Änderung der Verfassung beschlossen, um die Ernennung der Hälfte des ­Senats durch die freie Wahl des ganzen Senats zu ersetzen. Zwar wurde der Antrag der Demokraten, die Regierung wegen Versuchs der Abschaffung der Monarchie gleich einzusperren, abgelehnt, doch die Justiz hat mit dieser Entscheidung die Grenzen der demokratischen Reform des Royalismus klar aufgezeigt.
Die schrillen Töne von Suthep (»keine Verhandlungen«, »Ausmerzung des Thaksin-Regimes«, »Machtabgabe in zwei Tagen«) und die ­gewaltsamen Proteste sollen nun eine Staatskrise provozieren, die ein erneutes Eingreifen der Armee rechtfertigen soll. Mit der Besetzung der Ministerien soll die Regierung von den eher »gelben« Staatsbeamten getrennt und ihre Handlungsfähigkeit eingeschränkt werden. Relativ wenige Demonstranten (pro Ministerium jeweils nur einige hundert oder tausend) können Ministerien besetzen und werden von der Polizei nicht aufgehalten, am Dienstag entfernten Polizisten ­sogar die Stacheldrahtsperren. Dies zeigt, dass die Regierung bei härterem Durchgreifen eine ­Intervention der Armee befürchtet. Genau das sollen Angriffe auf die Polizei und Gewalt gegen Rothemdaktivisten herbeiführen. Inzwischen hat Suthep eine Audienz mit Yingluck und Generälen abgehalten, um seine Forderung nach einer Machtübergabe innerhalb von zwei Tagen zu unterstreichen.

Das antidemokratische Programm der neuen Protestbewegung und die Demobilisierung durch Yingluck stellen die Rothemdbewegung vor neue Herausforderungen. Zunächst wollten die Rot­hemden die Regierung unterstützen und mobilisierten ihrerseits Tausende nach Bangkok. Nach den jüngsten Übergriffen gegen Rothemden und mehreren Toten wurde die Dauerkundgebung im Rajamangala-Stadion jedoch aufgelöst, um eine Eskalation zu vermeiden.
Gleichzeitig werden diejenigen bei den Rot­hemden stärker, die sich von Thaksin und der Regierungspartei Phuea Thai emanzipieren wollen. Sie kritisieren, dass die Mitglieder der Basis geopfert würden, um den Interessen des Shinawatra-Clans zu dienen. Tausende folgten im November dem Aufruf einer Fraktion um Sombat Boonngamanong, um gegen eine Amnestie für die Verantwortlichen der Morde von 2010 zu protestieren. Sombat spricht nun davon, eine eigene Rothemdpartei zu gründen. Das könnte ein Schritt in Richtung einer basisdemokratischen und republikanischen Bewegung sein, die sich unabhängig vom Thaksin-Clan gegen die Monarchie und für demokratische Reformen positioniert.