Ganz unten

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Lehrerin zu sein, ist ein schmutziger Job, das weiß jeder. Denn manchmal muss man ganz nach unten gehen, dorthin, wo man sonst nur die Makulatur der Menschheit findet, die aussortierten Überreste des Schulbetriebs, die Schmutzränder der Gesellschaft. Manchmal muss man in den Keller der Schule gehen.
Ein Kollege hat mich gebeten, ihn dorthin zu begleiten, er muss das Abschlusszeugnis einer ehemaligen Schülerin suchen und hat Angst, die schwere Metalltür könne hinter ihm zufallen, dann würde man sein abgenagtes Skelett vermutlich erst gegen Ende des Schuljahres finden, wenn auffällt, dass seine Noteneinträge fehlen. Als mich sein Ruf ereilt, komme ich aus einer Deutschstunde, in der ich versucht habe, einer Mittelstufenklasse das Erzählmuster der Heldenreise nahezubringen: Zu Beginn der Geschichte ist der Held (natürlich männlich) in seiner gewohnten Umgebung und irgendwie unglücklich, dann kommt ein Herold und fordert ihn auf, sich einem Abenteuer zu stellen. Der Held zögert, wird überzeugt, überschreitet die Schwelle zu einer fremden Welt, besteht Prüfungen, bezwingt Feinde, gewinnt neue Freunde sowie ein magisches Artefakt und ist nach seiner Rückkehr gewachsen und nun ein weiserer, besserer Mensch als zuvor.
Unglücklich bin ich ja sowieso meistens, und Schüler Mehmet versucht noch, mich mit Warnungen vor Spinnen groß wie Chihuahuas, pferdeähnlichen Ratten und hausgroßen Tetanusbakterien zurückzuhalten. Erst das tränenüberströmte Gesicht der Maid, äh, Schülerin, die ihr Abschlusszeugnis so dringend braucht, überzeugt mich, dem Ruf allen Gefahren zum Trotz zu folgen. Wir überschreiten gemeinsam die Schwelle zum Keller, die Tür knarrt, der Wind vor den brüchigen Fenstern singt ein fremdartiges Lied und die Glühbirnen flackern. Hinter der Tür: Papierstapel. Papierstapel vor Schränken, in denen sich mehr Papierstapel verbergen, Tische, die sich unter Papierstapeln biegen und so die unter ihnen liegenden Papierstapel zu erdrücken drohen. Keine zu fremde Welt also, in meinem Arbeitszimmer sieht’s genau so aus. Auch das weitere Abenteuer entspricht dem Schema der Heldenreise nur sehr bedingt: Freunde oder Mentoren sind hier nicht zu gewinnen, auch magische Artefakte nicht, will man nicht die Abiturzeugnisse von Menschen dazuzählen, die nach meinen Berechnungen in spätestens zwei Jahren in Rente gehen müssten. Der einzige Feind, dem wir hier begegnen, ist ein gehetzt aussehender Kunstlehrer, der, während wir uns durch die Berge von Papier und Akten wühlen, einen Karton voller verbogener Drähte, die er als Installationen bezeichnet, in eine Ecke entleert.
An der Prüfung, hier ein Abschlusszeugnis zu finden, scheitern wir natürlich. Die Maid weint weiter und auch ich bin traurig. Ich wär’ schon sehr gern gewachsen. Wenigstens ein bisschen.