Streit um die Berechnung des Mindestlohns

Zank um Brotkrumen

Die Mindestlohnkommission soll dieser Tage die Höhe der Lohnunter­grenze für 2017 festlegen. Beim nun entbrannten Streit um die Berechnungsgrundlage wird gerne vergessen, wieso ein gesetzlicher Mindestlohn überhaupt nötig wurde.

8,77 Euro oder 8,87 Euro? Über diese Frage streitet sich die von der Bundesregierung ernannte Mindestlohnkommission. Klar ist, dass sie ab dem 1. Januar der Mindestlohn zum ersten Mal seit seiner Einführung erhöhen wird. Das Gremium besteht aus dem Vorsitzenden Jan Zilius, jeweils drei Vertretern von Gewerkschaften und Arbeitgebern sowie zwei nichtstimmberechtigten Wissenschaftlern. Die Kommission muss diese Woche einen Vorschlag vorlegen, der anschließend von der Bundesregierung per Rechtsverordnung in Kraft gesetzt wird. Der Bundestag hat der Kommission bei der Berechnung der Lohnuntergrenze klare Vorgaben gemacht, die diese auch in ihrer Geschäftsordnung berücksichtigt hat. So gilt als Grundlage für die Berechnung der vom Statistischen Bundesamt ermittelte Tarifindex. Nur bei Vorliegen besonderer Umstände darf mit Zwei-Drittel-Mehrheit des Gremiums davon abgewichen werden. Je näher der Stichtag jedoch gerückt ist, desto mehr hat sich der Streit um die Berechnungsgrundlage und damit um die künftige Höhe des Mindestlohns verschärft. Die Arbeitgebervertreter bestehen auf einer Berechnung nach dem Tarifindex zum Stichtag 30. Juni, was eine Erhöhung des Mindestlohns um 27 Cent auf 8,77 Euro pro Stunde bedeuten würde. Die Gewerkschaften hingegen wollen auch die Lohnerhöhungen einfließen lassen, die bereits vereinbart wurden, jedoch erst nach dem 1. Juli wirksam werden. Das betrifft insbesondere die Tarifabschlüsse im öffentlichen Dienst und in der Metall- und Elektrobranche. Der Mindestlohn würde damit auf 8,87 Euro steigen.
»Für uns ist ganz klar: Tarifabschlüsse, die bis zum Stichtag 30. Juni bekannt sind, werden bei der Mindestlohnanpassung eingerechnet«, sagte der Vorsitzende der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU), Robert Feiger. Er vertritt gemeinsam mit dem Bundesvorstandsmitglied des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Stefan Körzell, und der Vorsitzenden der Gewerkschaft Nahrung-­Genuss-Gaststätten (NGG), Michaela Rosenberger, die Gewerkschaften in der Kommission. Die Vertreter der Arbeitgeberseite – Reinhard Göhner, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA), Valerie Holsboer vom Bundesverband der Systemgastronomie und der Geschäftsführer des Zentralhandwerksverbands, Karl-Sebastian Schulte – sehen dies natürlich anders. »Es finden in der Mindestlohnkommission keine Verhandlungen statt«, so Göhner. »Die Kommission wird sich – ob man das Mindestlohn­gesetz für richtig oder falsch hält – an das geltende Recht und die gesetzlichen Vorgaben halten.«
Noch weiter gehen die Forderungen von der Unternehmerseite nahestehenden Ökonomen. Sie starteten eine regelrechte Medienoffensive gegen eine Erhöhung des Mindestlohns. »Es muss verhindert werden, dass eine ­Erhöhung des Mindestlohns zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit führt. Davon wären vor allem Geringqualifizierte mit entsprechend niedriger Produktivität betroffen«, so der Vorsitzende des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Christoph Schmidt. Schmidt, zugleich Präsident des Rheinisch-Westfälischen Instituts für ­Wirtschaftsforschung, dessen Verwaltungsrat aus Vertretern einiger der ­bedeutendsten Unternehmen und Wirtschaftsverbände Nordrhein-Westfalens besteht, sieht mit einer Erhöhung außerdem die Integration von Flüchtlingen auf dem Arbeitsmarkt gefährdet. Für ihn ist bereits ein Mindestlohn von 8,50 Euro »eine sehr hohe Hürde«. Schmidt zur Seite steht auch Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Ein höherer Mindestlohn würde seiner Meinung nach »den Zugang von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt erschweren, auch wenn die Quali­fizierung von Flüchtlingen oberste Priorität haben sollte«.
Die Debatte erinnert frappierend an die Diskussionen, die vor Einführung des Mindestlohns geführt wurden. Auch hier warnten Unternehmen, wirtschafts­nahe Institute und Wirtschaftsverbände vor den Auswirkungen der Lohnuntergrenze. Vom Mythos des Jobkillers und Bürokratiemonsters ist nicht viel übriggeblieben. Etwa 3,7 Millionen Menschen profitieren dank der Einführung des Mindestlohns von höheren Löhnen. Alleine im Osten Deutschlands stiegen diese um fast acht Prozent. Zugleich nahm die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten im vergangenen Jahr um 2,2 Prozent zu. Ein Teil diese Aufstiegs geht auf die Umwandlung sogenannter Minijobs in reguläre Stellen zurück. Im vergangenen Jahr sank die Zahl derjenigen, die ausschließlich geringfügig beschäftigt sind, um 3,9 Prozent. Kein Wunder also, dass die DGB-Gewerkschaften, auf deren Initiative die Einführung der Lohnuntergrenze maßgeblich zurückgeht, den Mindestlohn schon jetzt als Erfolg feiern. Zum einjährigen Jubiläum Anfang des Jahres gab es nicht nur verrückte Geburtstagsvideos und eine aufwendige Lasershow an der DGB-Zentrale in Berlin, sondern auch viele lobende Worte. Von »einem arbeitsmarktpolitischen Meilenstein« und einer »echten Erfolgsgeschichte« ist in den Veröffentlichungen des DGB und seiner Mitgliedsgewerkschaften die Rede.
Dabei wird gerne vergessen, dass die Notwendigkeit einer gesetzlichen Festlegung der Lohnuntergrenze nicht gerade für erfolgreiche gewerkschaftliche Arbeit spricht – eher im Gegenteil. Die Einführung wurde notwendig, nachdem sich die Zahl der Niedriglohnbezieher drastisch erhöht hatte und in immer mehr Bereichen die ­Tarifbindung schwand. Inzwischen fallen gerade einmal 50 Prozent der Beschäftigten unter einen Tarifvertrag.
Beiden Entwicklungen haben sich die Gewerkschaften kaum entgegengestellt. Die Arbeitsmarktreformen unter Rot-Grün, die das Anwachsen des Niedriglohnsektors und der Leiharbeitsbranche ermöglichten, wurden von ihnen größtenteils mitgetragen. Der wachsenden Unfähigkeit, angemessene Löhne zu erstreiten, folgte auch ein Mitglieder- und Bedeutungsverlust der Gewerkschaften. In den vergangenen zehn Jahren verlor der DGB fast 700 000 Mitglieder. Der Eingriff der Bundesregierung in die Tarifautonomie wurde also vor allem deshalb notwendig, weil die ­Gewerkschaften nicht mehr dazu in der Lage waren, tatsächlich das Gros der Beschäftigten zu vertreten. Der Mindestlohn ist damit kein Ausdruck von Stärke, sondern Resultat gewerkschaftlicher Schwäche.
Dies zeigt sich auch bei der Auseinandersetzung um die am 1. Januar ­anstehende Erhöhung des Mindestlohns, bei der die Gewerkschaften um zehn Cent mehr ringen, als die Ar­beitgeberverbände ihnen zugestehen wollen. Das sind auf den Monat gerechnet bei einer Vollzeitstelle weniger als 20 Euro. Die machen sich für einen Geringverdiener zwar bemerkbar, die Möglichkeit zur gesellschaftlichen Teilhabe oder einen Schutz vor Alters­armut bieten sie jedoch nicht. Wie die Bundesregierung kürzlich auf eine Anfrage der Linkspartei mitteilte, benötigt man – bei 45 Beitragsjahren – für eine Rente oberhalb der Grundsicherung einen Stundenlohn von mindestens 11,68 Euro. Die Chancen, den Streit über die künftige Höhe der Lohnuntergrenze bald innerhalb der Mindestlohnkommission beizulegen, stehen übrigens gut. Letztlich liegt es beim Kommissionsvorsitzenden Jan Zilius, einen Vorschlag vorzulegen. Der Jurist mit SPD-Parteibuch ist die Verkörperung der in Deutschland geschätzten Sozialpartnerschaft zwischen Lohnabhängigen und Unternehmen. Er war nicht nur Arbeitsdirektor beim Energiekonzern RWE, sondern zuvor auch jahrelang in der Rechtsabteilung der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) tätig und wurde von Arbeitgebern und Gewerkschaften einvernehmlich als Kommissionsvorsitzender vorgeschlagen.