Das neue Album von Doctorella

Verborgene Könnerschaft

Doctorellas neues Album »Ich will alles von dir wissen« bleibt hinter den Fähigkeiten der Bandmitglieder zurück.

Als Kerstin Grether 13 Jahre alt war, hatte sie genügend Artikel in englischen Zeitschriften wie dem New Musical Express oder dem Melody Maker gelesen, um selber einen zu entwerfen. Bald darauf erfand sie zusammen mit ihrer Zwillingsschwester Sandra Grether das Fanzine Straight, dessen erste Ausgaben noch in ihren süddeutschen Kinderzimmern entstanden. Die enthielten Texte von Autorinnen, denen Popmusik das Herz entzündete, den Verstand schärfte sowie genug Selbstbewusstsein gab, um direkt nach der Schule nach Köln zu ziehen und in dem damals dort ansässigen Magazin Spex zu veröffentlichen. Die Interviews, die sie führten, ihre Plattenrezensionen und Bandporträts konnten Leserinnen und Leser in den neunziger Jahren mit so freudig aufmüpfiger Energie versorgen wie das zur selben Zeit Courtney Love und ihrer Band Hole bei Hörerinnen und Hörern gelang.
Die Grethers wurden dafür von den einen bewundert, bei anderen weckten sie aus demselben Grund Gereiztheiten. Schließlich erlaubten sie sich dasselbe wie Männer, sie ­redeten laut in der Öffentlichkeit und behielten dabei ihren Heimatdialekt, sie schrieben über Musik und das auch noch viel zu gut. Um Angriffe nicht länger einfach hinnehmen zu müssen, verteilten sie untereinander die Rollen. Sandra Grether wurde die Kommunikatorin nach außen, Kerstin Grether die Strategin. Sandra Grether fungiert seitdem manchmal auch als Übersetzerin ihrer noch tollkühneren, aber auch verletzlicheren Schwester.
Bald entdeckte Sandra Grether, dass sie beim Singen so viel Kraft in ihre Stimme legen kann wie Henry Rollins. Darauf gründete sie die Band Parole Trixi und nahm ihre erste Platte auf. Kerstin Grether wurde Schriftstellerin und schloss gerade ihren dritten Roman ab. Die eine ging auf Tour, die andere unternahm Lesereisen, was immer öfter auch hieß, dass sie zusammen losfuhren.
Als sie zu Beginn des Jahrtausends nach Berlin zogen und sich zusammen Doctorella ausdachten, fanden Mitglieder verschiedenster Jungskapellen kaum etwas aufregender, als mitspielen zu dürfen. Die Zwillinge hatten nichts dagegen, bis sie sich entschieden, die volle Kontrolle zu übernehmen. Das Ergebnis hieß »Drogen und Psychologen« und jeder, der dieses Debüt hörte, vom Praktikanten eines Lokalblatts bis zur Redaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, fühlte sich verstanden und als Mensch erhöht.
Doch Doctorella hatten auf mehr gehofft. Es ging ihnen nicht bloß um schwärmerische Besprechungen, sondern auch um hohe Chart-Platzierungen. Als »Drogen und Psychologen« die nicht erreichte, brach bei den Grethers hektischer Aktivismus aus. Die gesamte Band wurde erneut komplett ausgewechselt, Liebesgeschichten beendet und Gesangsunterricht genommen. Zusätzlich fassten Kerstin und Sandra Grether einen Plan: Wenn sie eine gute Platte gemacht hatten, von der sie nur wenige Exemplare loswurden, dann würden sie als nächstes eine schlechte Platte rausbringen, die sich dafür verkaufen würde wie geschnitten Brot.
Leider haben Doctorella diesen Plan auf dem neuen Album »Ich will alles von dir wissen« auch umgesetzt. Das zeigt sich schon in dem übersichtlichen Personal, welches in den Liedern auftritt. Kerstin Grether oder Sandra Grether singen immer wieder eine oder einen »du« an, sie haben ausschließlich »dir« etwas zu sagen und denken wieder und wieder über »dich« nach. Dass »du« ganz sicher nicht irgendjemand für sie sein sollst, zeigen auch die durchweg romantischen Orte, an denen ihr euch nahekommt. In ihren Songs treffen Doctorella »dich« im »Park« und »hinter kleinen Flüssen«. Sie begegnen dir im »Nachtcafé« und in der »Nachtbahn«. Schließlich lauft ihr euch beim Spaziergang durch »Erdbeerfelder« oder in »Rom« über den Weg, es sei denn, ihr fliegt gerade gemeinsam in einem »Heißluftballon« davon.
Doch auch an den einladendsten Plätzen lauert weiter die Gefahr, für gut gemeinte Worte nicht die richtige Form zu finden. Um sie zu bannen, hat die Band eine grauenvolle, fatale Entscheidung getroffen: Doctorella wollen keine Sprache, sondern Halt und Sicherheit bietende Endreime. Etwa diesen: »Ja, und was ich dir noch sagen wollt’, mein Schatz/Für dich war ich doch auch nur ein Ersatz«. Oder jenen: »Die Zeitung von morgen ist schon ausdiskutiert, und ich hab deine Küsse abonniert«. Oder so einen: »Ein bisschen schlottern mir noch die Knie, sieht man nicht auf’m Selfie«.
Dazu zeigen Doctorella gern einen Hang zur Dramatik. Willst »du« etwa erfahren, wo sich die Band gerade aufhält, wird in der eigenen Großartigkeit geschwelgt: »Am Ende einer großen rastlosen Reise.« Erkundigst »du« dich, wie es Doctorella seit dem letzten Treffen mit »dir« ergangen ist, geht die Musik in lyrischen Flammen auf: »Tausend wilde Geigen treiben mich seither durch die Nacht.«
Mit solchen Zeilen erzählt die Band von ihren Abenteuern vor, während und nach der Öffnung einer Beziehungskiste. Was sich dabei allerdings nicht zeigt, ist die Könnerschaft der Grethers. Von 572 Fähigkeiten, die sie hätten nutzen können, bevor sie für die Aufnahmen ins Studio gingen, erschienen ihnen plötzlich nur noch die drei, vier kitschigsten brauchbar. Als hätten sie ihre eigene Begabung für einen Teufel gehalten, den sie unbedingt austreiben mussten. »Ich will alles von dir wissen« wirkt entsprechend, als hätten sich Kerstin und Sandra Grether einem Ausdrucksmöglichkeiten-Exorzismus unterzogen.
Danach waren sie bereit für einen neuen textlichen Ansatz. Sie einigten sich mit Gitte Hænning, Trude Herr und Wencke Myhre darauf, dass sie keine Schokolade, sondern lieber einen Cowboy als Mann haben wollten, um mit ihm in einem knallroten Gummiboot durchs Abendrot zu fahren. Am Horizont erwarteten sie der Bassist Fabrizio Steinbach, der Schlagzeuger Flavio Steinbach und der Gitarrist Sascha Rohrberg. Die drei erfahrenen Musiker mit den für die Indie-Szene typischen Bärten, den malerisch zotteligen Haaren und Sportschuhen an den Füßen sowie manche Gäste und sogar ein paar frühere Bandmitglieder unterstützten die Grethers bei der Umsetzung ihrer Songideen. So lassen sie in einem Stück eine Trompete traurig tönen und in einem anderen hübsche Kirchenglocken bimmeln. Hier liefert sich Rohrberg einen freudigen Schlagabtausch mit einem Bläsersatz, und dort steuert die Musikerin und Journalistin Jacqueline Blouin einen Harmoniegesang bei. Die Band ergänzt etliche Lieder mit gesungenen »Uhuhuhus«, »Ahahas« oder »Uhnanaas«. Diese Hintergrundchöre hören sich an, als kämen Doctorella aus dem Staunen über sich selbst gar nicht mehr heraus: Uh! Ah! Na, sind wir nicht toll!?
Solche eitlen Bemühungen ergeben zwölf Zumutungen von Stücken. Doctorella wollen ihr Publikum textlich mit Absicht weitestmöglich ­unterfordern und gleichzeitig musikalisch an einem großen Rad drehen. Das Ergebnis sollte offenbar klingen, als wäre Ildikó von Kürthy von Phil Spector produziert worden.
Mit »Ich will alles von dir wissen« beweisen Doctorella, dass sie eine Menge Aufwand betreiben können. Aber Kerstin Grether und Sandra Grether sind Genies, die viel mehr können. Bloß haben sie sich dieses Mal damit begnügt, Damenlyrik vom Reißbrett zu vertonen.
Doctorella: Ich will alles von dir wissen (Zickzack/Indigo)