Niq Mhlongo im Gespräch über die Probleme der jungen Generation Südafrikas

»Wenn man von Rassismus spricht, fragen sie: ›Hä‹?«

Interview Von Kathrin Ohlmann

Der südafrikanische Autor Niq Mhlongo gilt als eine der wichtigen Stimmen der Post-Apartheids-Ära. Der in Soweto aufgewachsene Mhlongo studierte als einer der ersten Schwarzen an der prestigeträchtigen Wits University in Johannesburg. In den African National Congress (ANC) setzt er keine Hoffnungen mehr, aber die junge Generation Südafrikas sieht er für die Zukunft gut vorbereitet. Mhlongo hat drei Romane veröffentlicht, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden, und verbrachte in diesem Jahr als Artist in Residence der Akademie der Künste der Welt einen Monat in Köln.

Was bedeutete es, im Soweto der siebziger Jahre aufzuwachsen?
Ich bin in Armut aufgewachsen, obwohl es uns nach damaligen Maßstäben im Vergleich zu anderen Familien in Südafrika gut ging. Soweto entstand als segregierte Township 1954 unter dem Apartheidregime und man bekam dort nur ein Haus, wenn man für die Regierung arbeitete. Mein Vater arbeitete bei der Eisenbahn. Wir waren zehn Geschwister, ich bin als Achter geboren und habe noch eine jüngere Schwester und ­einen jüngeren Bruder.

Waren Ihre Eltern politische Menschen?
Mein Vater war ein wenig politisch, aber meine Eltern waren kaum gebildet und es gab diese Angst, dass mein Vater seinen Job verlieren würde, falls man sich kritisch äußert. Die Eltern befürchteten, aufs Land geschickt zu werden, wo sie nie voher gelebt hatten. Es war also schwierig, politisch zu sein. Wir sind damit aufgewachsen, dass Leute um uns herum ständig verhaftet wurden, weil sie verdächtigt wurden, politisch ­aktiv zu sein. Manche von ihnen kamen zurück, über andere hörte man etwas am nächsten Morgen: »Der wurde im Gefängnis getötet«, »Der ist aus dem 19. Stock des Gefängnisses gefallen«. Man wusste, dass jemand an einem Tag noch vor seinem Haus gesessen hatte und am nächsten Tag verschwunden sein konnte und einfach nicht mehr zurückkam. Von denen, die nicht zurückkamen, wussten wir, dass sie entweder tot oder ins Exil gegangen waren (in die Ausbildungscamps der Guerillas in den Nachbarländern, K.O.). So war das in den Achtzigern.
Wir hatten keinerlei Vergleichsmöglichkeiten für unsere Lebens­situation, denn man weiß ja nicht, wie die anderen leben, wenn man nicht aus seinem Viertel rauskommt. Wir kannten keine Weißen und sahen nie weiße Menschen, außer all die weißen Polizisten, die mit ihren Gewehren und Hunden nach Soweto kamen. Wir wussten, wir mussten uns benehmen, wenn die kamen, und uns verbeugen. Das war beängstigend, da sie jederzeit die Hunde auf uns loslassen konnten.

»Mein Bruder sagte, ich solle mich an der Wits University in Johannesburg bewerben, die bis dahin nur für Weiße zugänglich war. Ich fiel aus allen Wolken: Ich kann an der Wits studieren?«

Haben Sie Erinnerungen an den Aufstand in Soweto 1976?
Nein, da war ich als Dreijähriger noch zu jung. Was ich darüber weiß, habe ich aus Büchern gelernt. Aber ich erinnere mich an das, was passierte, als der Ausnahmezustand ausgerufen wurde. Es wurde ständig boykottiert, Busse, weiße Läden und der gesamte Transport; wir hatten nichts zu essen, denn mein Bruder und mein Vater arbeiteten bei der Bahn, dem größte Arbeitgeber damals. Der Transportstreik hat uns direkt betroffen. Als sie für einen besseren Lohn streikten, wurde die Lohnzahlung bis auf Weiteres ausgesetzt. Wir waren abhängig von unseren Verwandten auf dem Land, die uns etwas von dem brachten, was sie selber anbauten.
Ich hatte große Angst. Während des Aufnahmezustands verlässt ja niemand das Haus. Die Straßen sind abgesperrt und die Polizei ist überall. Die Bewohner verbarrikadieren die Straßen, die Polizei räumt die Barrikaden wieder. Wenn man dich draußen findet, weil du da bist, um zu sehen, was los ist, denken sie, du bist ein Informant und schnappen dich, du wirst geschlagen oder verhaftet. Wenn du nichts weißt, töten sie dich vielleicht, aber die Leute im Viertel beobachten das ganz genau und es kann sein, dass du dann bei der Rückkehr verdächtigt wirst, ein Spion zu sein und umgebracht wirst.

Wann sind Sie mit dem African National Congress (ANC) in Berührung gekommen?
Sobald ich lesen gelernt hatte, begann ich, mich mit dem ANC zu beschäftigen. In meinen Kreisen war aber der Pan Africanist Congress (PAC) beliebter als der ANC und jeder wollte Teil davon sein. Die Partei propagierte die Ideen von Kwame Nkru­mah (dem ersten Präsidenten Ghanas und Vertreter des Panafrikanismus, K.O.) für ganz Afrika, während der ANC sich nur als Partei Südafrikas sah, die Weißen, Indern und Coloureds erlaubte, uns weiterhin ­auszubeuten. Der PAC ist wirklich schwarz und es geht darum, dass wir unser Land zurückbekommen, und alles andere sollte dann folgen. Ich wuchs mit dieser Partei auf, die wie alle anderen Parteien verboten war. Wenn man nur mit einem Foto von Mandela gefunden wurde, kam man ins Gefängnis. Es war gefährlich. Wir hatten viele Bücher zu Hause, die meine Brüder mitbrachten, als sie studierten. Es war unklar, was verboten war und was nicht. »Things Fall Apart« von Chinua Achebe war verboten, genauso wie Karl Marx, Robert Sobukwe (der Gründer des PAC, K. O.), Steve Biko. Wenn du diese Autoren lesen wolltest, musstest du das dort tun, wo dich niemand sehen konnte, weil man nicht wusste, wem man trauen konnte.

Wie haben Sie das Ende der Apartheid Anfang der Neunziger erlebt?
Ende der Achtziger gab es bereits diese Aufbruchstimmung, dann wurde Mandela 1990 aus dem Gefängnis entlassen und die Apartheid offiziell beendet. Vorher fühlest du, dass dein Leben nicht offen ist, dass es abgeschottet ist, aber du kannst dir nicht vorstellen, wie es anders sein könnte. Für mich eröffneten sich Anfang der Neunziger neue Perspektiven: Mein Bruder sagte, ich solle mich an der Wits University in Johannesburg bewerben, die bis dahin nur für Weiße zugänglich war. Ich fiel aus allen Wolken: Ich kann an der Wits studieren? Ich bewarb mich und wurde zugelassen. Ich hatte also die Wahl, wohin ich gehen wollte zum Studieren, während meine älteren Brüder vorher nur an schlecht ausgestatteten Unis für schwarze Studenten gehen konnten.

Wie waren die ersten freien Wahlen 1994 für Sie?
Es war aufregend für mich, ich wurde zu der Zeit 21, und ich dachte, das ist mein Recht! Zu Zeiten der Apartheid hätte ich eh nicht wählen gehen können, weil ich zu jung war. Ich las viel über andere afrikanische Länder, Wahlen in Ghana, Unabhängigkeit in Nigeria und den nigerianischen Musiker Fela Kuti.

Was haben Sie studiert?
Ich habe mich für Politik und afrikanische Literatur eingeschrieben. Als ich mir die Literaturliste der beiden Fächer angeschaut habe, stellte ich fest, dass ich alle Bücher schon gelesen hatte. Da wusste ich, dass ich es schaffen würde. Ich ging zur Uni, habe alles gemacht und nebenher viel gefeiert.

Anschließend haben Sie Jura studiert. Ein Jurastudent ist auch der Protagonist Ihres Romans »After Tears«. Es geht um einen Studenten, der sein Studium nicht abschließt, aber zu seiner Familie zurückkommt und so tut, als habe er einen Abschluss und eine eigene Kanzlei aufmacht. Ist die Geschichte autobiographisch?
Es ist mehr ein Was-wäre-wenn-Szenario, aber ich habe tatsächlich Jura studiert und es dann abgebrochen, um mich auf mein Schreiben zu konzentrieren. Es ging mir in dem Roman darum, zu zeigen, welche Herausforderungen Studenten aus armen Verhältnissen an der Uni meistern müssen. Wir wurden nie richtig auf eine höhere Bildung vorbereitet, hatten kein Vertrauen in die Institutionen. Ich kam aus einer Bantu-Einrichtung (schlecht ausgestattete Schulen für ausschließlich schwarze Südafrikaner unter dem Apartheid­regime, K.O.).
Das Problem ist, dass du dann in einer höheren Bildungseinrichtung bist, die vorher nur Weißen vorbehalten war, und es ist das erste Mal, dass du von einem weißen Professor unterrichtet wirst. Manche Dozenten kommen aus Amerika oder Irland und sprechen ein Englisch, dem du nicht folgen kannst. Es ist das erste Mal, dass du als schwarze Person begreifst, dass Dinge kulturell anders sein können. In meiner Kultur darf man einer älteren Person nicht in die Augen schauen, wenn sie spricht. Aber diese Person, die da an der Uni vor dir steht, ist ein irischer Dozent und du musst ihm in die Augen und auf die Lippen schauen, ­damit du verstehst, was er sagt. In meiner Kultur darf man eine Respektsperson nicht mit Namen anreden, aber dann sagt der Professor plötzlich: »Hi, ich bin John.« Und ich denk nur: What the fuck, das geht doch nicht. Das ist dann schon erstmal ein Problem.

Die neue Studentengeneration hat diese Probleme nicht mehr?
Die heutige Generation junger Südafrikaner muss sich auf ganz anderen Gebieten bewähren. Sie kämpfen nicht mehr gegen ein weißes Süd­afrika, denn das Weißsein schwindet mehr und mehr in unserem Land, und auch das Schwarzweiße – wir nennen es die Zebra-Farben – verblasst. Es geht jetzt um Arbeitslosigkeit, Inflation, Wohnungsnot, Bildungsnotstand, Homophobie, Rassismus, HIV und Xenophobie. Darüber schreibe ich.
Manche Probleme sind nicht in den Kategorien schwarz und weiß zu fassen, HIV zum Beispiel betrifft jeden, auch Weiße. Die Arbeitslosigkeit betrifft alle, sogar Weiße. Die Homophobie ebenfalls. Die junge Genera­tion hält mehr zusammen, weil sie alle die selben Probleme haben, unabhängig von ihrer Hautfarbe, Sprache oder Ethnizität. Es gibt Probleme, die ausschließlich Schwarze haben, wie die Wohnungsnot, von der zumeist schwarze Personen betroffen sind. Die Kriminalität zum Beispiel betrifft alle. Egal ob du in den Vororten lebst oder woanders, du wirst überfallen und ausgeraubt.

»Manche Probleme sind nicht in den Kategorien schwarz und weiß zu fassen, HIV zum Beispiel betrifft jeden, auch Weiße. Die Arbeitslosigkeit betrifft alle, sogar Weiße. Die Homophobie ebenfalls. Die junge Generation hält mehr zusammen, weil sie alle die selben Probleme haben.«

Sehen Sie sich als Stimme einer ganzen Generation?
Viele schreiben inzwischen über diese Generation, dennoch heißt es oft, dass ich für sie spreche, was ich eigentlich nicht so sagen würden. Ich bin nur einer von vielen und ich verdanke meine Bekannntheit vielleicht auch einem tragischen Umstand: Ein junger schwarzer Schriftsteller meiner Generation war Phaswane Mpe, Autor von »Welcome to Our Hillbrow«. Er war auch mein Dozent an der Wits. Im Dezember 2004 ist er mit nur 34 Jahren plötzlich gestorben. Eine andere wichtige Stimme war Kabelo »Sello« Duiker, der im Januar 2005 Selbstmord beging. Die beiden tourten lange vor mir durch Europa; beide sind innerhalb eines Monats gestorben. Dann kam die New York Times nach Südafrika und brauchte einen Schriftsteller der neuen Generation, sie verfassten eine fünfseitige Geschichte über mich, den neuen Autor. Dann dachte ich, alles klar, dann werde ich wohl von jetzt an schreiben.

Wie wirkt sich die Wirtschaftskrise im Alltag aus?
Schon vor der Wirtschaftskrise hatten wir eine hohe Arbeitslosigkeit, die Kreditwürdigkeit ist noch schlechter geworden. Das hat eine gute und eine schlechte Seite: Das Gute ist, dass es viele Leute wachgerüttelt und ein neues Bewusstsein für ihre Rechte geschaffen hat. Die Kommunalwahlen im vorigen Jahr sind ein gutes Beispiel dafür. Die Regierungspartei ANC ist korrupt, weil unser Präsident korrupt ist. Der ANC hat voriges Jahr die meisten Stadtbezirke in Johannesburg verloren. Schlecht ist, dass alles jeden Tag teurer wird. Ich kenne Hunderte von Leuten, Freunde und Familie, die arbeitslos sind. ­Einige Freunde haben ihre Häuser verloren, einige haben ihre Autos verloren und ein paar haben sogar die Hoffnung verloren.
Das alles passiert jeden Tag. Jeden Morgen wacht man auf und schon wieder ist jemand arbeitslos, man wacht auf und ein weiteres Unternehmen verlässt das Land. Ich mache mir gerade Sorgen, denn ich habe einen Opel von General Motors und die haben gerade angekündigt, dass sie Südafrika Ende August verlassen werden. General Motors beschäftigt 1 500 Leute in Südafrika, wo werden die alle Arbeit finden?

Wollen die Leute, dass der ANC abdankt?
Ich kann nicht für alle Leute sprechen, das wäre eine krasse Verallgemeinerung, aber Leute, die den ANC gewählt haben, entscheiden sich jetzt in großer Zahl für andere Parteien. Es gibt zum Beispiel eine neue Partei, die sich 2014 gegründet hat, die Economic Freedom Fighters (EFF), die haben sich vom ANC abgespalten und deren Jugendorganisa­tion ist praktisch die Jugend vom ANC, die die Partei wegen Korruption verlassen hat. Gleich nach der Gründung der EFF hatten sie einen Wähleranteil von acht bis zehn Prozent. Dann gibt es noch die Democratic Alliance (DA), die zuerst als eine weiße Partei gesehen wurde, die aber nun viele schwarze Wähler angezogen hat und von Schwarzen geleitet wird.
Der ANC hatte 64 Prozent Wähleranteil, eine überwältigende Mehrheit, aber zur Zeit sind es nur noch ungefähr 54 Prozent und es wird vorhergesagt, dass sie 2019 bei den Wahlen nicht mehr gewinnen werden. Die meisten Südafrikaner, besonders die Mittelschicht, sehen die Partei nun als irrelevant an. Wie es zur Zeit läuft, lohnt es sich nicht, zur Uni zu gehen und zu studieren, es lohnt sich nur, Mitglied in der Partei zu werden. Die Leute fangen an, das zu begreifen. Wir müssen abwarten, was bei den Wahlen 2019 passiert, aber in den Kommunalwahlen hat der ANC viel verloren. Und sie verlieren weiterhin, denn jeden Tag kommen neue Skandale ans Licht.
Bei den Protesten gegen die Regierung im April sagte Zuma dass alle, die wollen, dass er abtritt, Rassisten seien … Er weiß tatsächlich einfach nicht mehr, was er noch sagen soll. Die Partei zerstört sich gerade selbst. Viele Leute treten aus und kehren der Partei den Rücken, und das sind auch die Veteranen, die teilweise mit Mandela im Gefängnis waren. Einer von ihnen hat kurz vor seinem Tod gesagt, dass er auf keinen Fall möchte, dass Zuma zu seiner Beerdigung kommt, und das hat er dann auch nicht getan. Zuma sagt diese Dinge um den Anteil der Bevölkerung, die keinen Zugang zu Bildung haben und den ANC immer noch lieben, davon zu überzeugen, dass alles noch mit rechten Dingen zugeht. Sobald er zugibt, dass sie an Macht verlieren, werden die Leute sagen, dass er zurücktreten muss.

Wie stark ist der Rassismus im heutigen Südafrika?
Es gibt viel Rassismus, aber nicht jede weiße Person im Land ist automatisch rassistisch, obwohl die Mehrzahl der älteren Generation in den alten rassistischen Denkmustern hängengeblieben ist, weil ihnen erzählt wurde, dass Schwarze ihnen generell unterlegen sind. Aber Leute wie ich, die an eine weiße Uni gegangen sind, in den gleichen Häusern und Wohnheimen gelebt haben, mit anderen weißen Studenten gefeiert haben und schon lange Englisch sprechen und schreiben, das ist was anderes. Nach uns kommt die Generation, die wir die »frei Geborenen« nennen, die um 1985 geboren wurden und nichts mehr von der Apartheid mitbekommen haben. Sie sind im Kindergarten mit weißen, indischen und schwarzen Kindern aufgewachsen. Wenn man von Rassismus spricht, fragen diese jungen Leute: »Hä?« Sie wissen nichts davon. Das ist die zukünftige Genera­tion Südafrikas.