Erinnerungspolitik in Albanien

Zweierlei Erinnerung

Unter Enver Hoxha diente die Erinnerung an den antifaschistischen Widerstand den Zielen des Regimes. Nun wird auch der Rettung der Juden gedacht.

Das Nationalmuseum in Tirana erstreckt sich über drei Stockwerke, auf denen die Geschichte Albaniens als eine des ungebrochenen kontinuierlichen Widerstands präsentiert wird. Bereits über dem Eingang des Museums stellt ein 440 Quadratmeter großes Wandmosaik im Stil des sozialistischen Realismus diese Erzählung bildlich dar. Von links nach rechts stehen dort im 2 000 Jahre währenden Kampf um die nationale Unabhängigkeit vereint: ein illyrischer Krieger, der sich gegen die griechische Kolonisierung behaupten musste, der Nationalheld Skanderbeg, der sich im 15. Jahrhundert den Osmanen widersetzte, der bürgerliche Nationalist, der Seite an Seite mit den bäuerlichen Unabhängigkeitskämpfern um 1900 die albanische Staatsgründung vorantrieb, und schließlich in der Mitte die ikonische Figur der Partisanenkämpferin, die die Arbeiter und Bauern im bewaffneten Kampf gegen den Faschismus anführt.

Der Partisanenkampf gegen die italienische und deutsche Besatzung zwischen 1939 und 1944 war unter der Herrschaft der aus der nationalen Befreiungsbewegung hervorgegangenen Partei der Arbeit Albaniens das zentrale Element der Staatsideologie. Dies zeigt sich nicht nur in der Ausstellung des Nationalmuseums, die 1981 eröffnet und seitdem nur geringfügig verändert und ergänzt wurde: Dem Partisanenkampf ist dort fast ein gesamtes Stockwerk gewidmet, wobei ein nicht unerheblicher Teil der Sammlung aus Fotos und Alltagsreliquien der Nationalhelden besteht. Der 29. November, der Tag der Befreiung vom Faschismus, ist bis heute albanischer Nationalfeiertag.

Auch im Rest des Landes sind bis heute überall Denkmäler und Monumente der Partisanenverehrung zu finden. Ein von der albanischen Regierung gesponsertes Forschungsprojekt aus dem Jahr 2014 erfasste 657 Denkmäler, die an den Partisanenkrieg in Albanien erinnern. Allerdings hat seit dem Sturz der Partei 1990 die Erinnerung an die Partisanen deutlich an Strahlkraft verloren.

Seit 1992 erkannte die Gedenkstätte Yad Vashem 75 Albaner als »Gerechte unter den Völkern« an.

»Die jungen Menschen heute glauben nicht mehr an den Mythos der Partisanen«, sagt der albanische Geschichtswissenschaftler Artan Hoxha, der an der Universität in Pittsburgh zu osteuropäischer Geschichte mit Schwerpunkt Albanien forscht, im Gespräch mit der Jungle World. »Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, als der Bevölkerung bewusst wurde, dass Albanien nicht, wie ihnen von der Regierung jahrzehntelang vorgegaukelt wurde, der Himmel auf Erden, sondern vielmehr das am wenigsten entwickelte Land weit und breit ist, stellte sich eine Ernüchterung ein, die alle Narrative der Kommunisten, auch die von den Partisanen, in Frage stellt, und einem starken Gefühl der Minderwertigkeit und der Kränkung Platz machte.« Dieses Minderwertigkeitsgefühl, das Artan Hoxha zufolge in der albanischen Bevölkerung sehr stark ausgeprägt ist, führt dazu, dass rückblickend die Fähigkeit der als zurückgebliebene Bergbauern verspotteten Vorfahren angezweifelt wird, das Land überhaupt von den faschistischen Besatzern zu befreien. Damit würden die Erzählungen von den heldenhaften Partisanen endgültig in den Bereich der Märchen verwiesen.

Man erinnert sich nun jedoch in Albanien einer anderen Geschichte aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, der lange nicht offiziell gedacht wurde: der Rettung der Juden in Albanien während des Holocaust. Zu Beginn der dreißiger Jahre gab es in Albanien höchstens 300 einheimische Juden. Nach 1933 kamen zunächst jüdische Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich nach Albanien, das bis 1939 als eines der letzten europäischen Länder überhaupt noch Visa für sie ausstellte. Später kamen weitere Flüchtlinge aus Griechenland, Jugoslawien und Mitteleuropa hinzu. Viele der Flüchtlinge kamen jedoch aufgrund der sich verschärfenden Lage nicht weiter und mussten in Albanien bleiben.

Die albanische Kollaborationsregierung unter der italienischen Besatzung erließ zwar einige antijüdische Gesetze, diese wurden jedoch kaum angewandt. Die einheimischen und geflüchteten Juden konnten unbehelligt leben und ihre Religion ausüben, da der weitverbreitete europäische Antisemitismus in der traditionell multireligiösen albanischen Gesellschaft nie Fuß fassen konnte. Erst nach dem Einmarsch der Deutschen 1943 verschärfte sich die Lage: Die albanischen Behörden wurden aufgefordert, Listen mit den Namen sämtlicher Juden in Albanien zu erstellen. Obwohl die Behörden sich weigerten, der Aufforderung nachzukommen, waren die Juden zum Untertauchen gezwungen und wurden von der muslimischen und christlichen Bevölkerung aufgenommen, mit Kleidung, Nahrung und falschen Papieren ausgestattet sowie versteckt. So kam es, dass bis auf zwei Familien, die deportiert wurden, alle 3 000 in Albanien lebenden Juden das Ende des Krieges erlebten.
Die Grundlage dieses außergewöhnlichen Handelns ist ein jahrhundertealtes Gewohnheitsrecht, der Kanun, der auch das Gastrecht regelt und es verbietet, Gäste auszuliefern. Die albanische Bevölkerung sah sich durch ihren Ehrenkodex an die Besa, den Schwur, gebunden, der sie als Gastgeber dazu verpflichtete, ihren Gästen zu helfen, auch wenn es ihr eigenes Leben gefährdete. »Eher würde ich meinen eigenen Sohn ausliefern, als die Besa zu brechen«, wird ein Albaner in dem Film »Besa. The Promise« (2012) zitiert, in dem Norman Gershman die Geschichte der Judenrettung dokumentiert.

Seit 1992 erkannte die Gedenkstätte Yad Vashem 75 Albaner als »Gerechte unter den Völkern« an, weil sie den Juden während des Holocaust Schutz geboten hatten. Dass dies erst nach dem Zusammenbruch des stalinistischen Regimes möglich war, lag zum einen daran, dass vorher keine diplomatischen Beziehungen des abgeschotteten Landes mit Israel bestanden. Zum anderen galt der nationale Gedenkdiskurs ausschließlich den »Märtyrern« und »Nationalhelden« der eigenen Bewegung.

Der Historiker Hoxha weist jedoch darauf hin, dass die Rückbesinnung auf die Rettung der Juden auch strategische und außenpolitische Gründe hat: »Seit Jahren bemüht sich Albanien um die Aufnahme in die EU. Mit Hilfe dieser Erzählung versucht man daher auch zu beweisen, dass die Albaner wahrhaftige und rechtmäßige Mitglieder der europäischen Gemeinschaft sind. Sie haben hierzu zwei Dinge zu bieten: erstens die religiöse Toleranz und zweitens die Tatsache, dass sie gewissermaßen die Fahne des Humanismus hochgehalten haben zu einer Zeit, als der Rest Europas dies nicht tat.« Dass Albanien das einzige europäische Land war, in dem am Ende des Zweiten Weltkriegs mehr Juden lebten als zu dessen Beginn, ist schon beinahe zu einem Slogan geworden, der von albanischen Historikern und Politikern gerne angeführt wird.

Doch auch in der Gesellschaft erfüllt die Besinnung auf die Rettung der Juden eine Funktion. Dass es ausgerechnet ein vormoderner Verhaltenskodex war, der es den Albanern verbot, die Juden auszuliefern, biete angesichts des gegenwärtigen albanischen Minderwertigkeitsgefühls einen Trost, so Artan Hoxha. »Wir mögen vielleicht arm sein und unsere Werte rückschrittlich, doch genau diese Werte führten uns zu humanem Verhalten zu einer Zeit, in der das fortschrittliche Europa die Juden ermordete.«

Ob die Erinnerung an die Judenrettung in der Zukunft in Albanien jedoch eine ähnliche Wirkung entfalten wird wie vormals der Mythos der Partisanen, bleibt zu bezweifeln. Im Nationalmuseum erinnert bislang nur eine kleine, nachträglich angebrachte Tafel an dieses Kapitel der albanischen Geschichte.