Das brasilianische Parlament hat erneut gegen die Suspendierung von Präsident Michel Temer gestimmt.

Weißwäscher im Parlament

Das brasilianische Parlament hat erneut gegen die Suspendierung von Präsident Michel Temer gestimmt.

»Lasst den Mann seine Arbeit machen!« rief der Abgeordnete aus dem Bundesstaat Pará, Wladimir Costa, Mitte voriger Woche im brasilianischen Abgeordnetenhaus der Opposition zu. Costa wollte Präsident Michel Temer verteidigen, gegen den eine Anklage wegen Korruption, Behinderung der Justiz und Bildung einer kriminellen Vereinigung vorliegt. Die Kammer des Parlaments hatte darüber zu entscheiden, ob ein Verfahren vor dem Obersten Gerichtshof zugelassen wird.

Am Ende des Tages hatte es Temer erneut geschafft, einer Strafverfolgung zu entkommen, auch wenn es diesmal knapper war. Die 29 Abgeordneten stimmten mit 251 zu 233 Stimmen dagegen, die Anklage zuzulassen. Die 29 Abgeordneten, die sich enthielten oder abwesend waren, eingerechnet, konnte Temer nicht einmal die absolute Mehrheit für sich gewinnen. Das Ergebnis ist damit schlechter für Temer als das vom 2. August. Bereits damals hatte das Parlament mit 263 zu 227 Stimmen dagegen votiert, eine andere Klage wegen Korruption gegen den Präsidenten zuzulassen. Um das Verfahren zu eröffnen, wäre eine Zweidrittelmehrheit notwendig gewesen. In dem Fall hätte Temer zunächst für 180 Tage sein Mandat – und damit seine Immunität – verloren; würde er schuldig gesprochen, endgültig.

Die Klage gegen Temer war eine der letzten, die der ehemalige Generalbundesstaatsanwalt Rodrigo Janot eingeleitet hatte, bevor sein Mandat am 17. September endete. Neben dem Präsidenten waren auch der Kabinettschef Eliseu Padilha und verschiedene Abgeordnete der konservativen Partei PMDB angeklagt. Die Verfahrenseröffnung hat das Parlament zwar untersagt, doch die Klagen bleiben anhängig. Nach Ende der Legislaturperiode am 31. Dezember 2018 werden sie weiter bearbeitet.
Hintergrund ist der Korruptionsskandal, den die brasilianische Bundespolizei und die Generalbundesstaatsanwaltschaft im Rahmen der Operation »Lava Jato« (Autowaschanlage) untersuchen. Dabei geht es um Schmiergeldzahlungen von Baufirmen und Agrarunternehmen an Politiker aller Parteien, um an öffentliche Aufträge oder günstige Staatskredite zu gelangen. Der brasilianische Baukonzern Odebrecht hat zugegeben, insgesamt 788 Millionen Dollar Schmiergeld in zwölf Ländern Afrikas und Lateinamerikas gezahlt zu haben. Die Staatsanwaltschaft warf nun Temer und seinen Verbündeten vor, Schweigegelder gezahlt zu haben, um die Untersuchungen der Justiz zu behindern.

Michel Temer versucht derweil, sich als Opfer einer Verschwörung darzustellen. Alle Anschuldigungen gegen ihn seien unglaubwürdig, da diese auf Aussagen verurteilter Verbrecher basierten, die im Rahmen von Kronzeugenregelungen gemacht wurden. Zuletzt hatte der verurteilte doleiro (Geldwechsler ohne Lizenz) Lúcio Funaro ausgesagt, er habe die Schmiergeldzahlungen zwischen Unternehmen, Temer und dessen Vertrauten vermittelt.

Auch wenn der Präsident der Strafverfolgung entgangen ist, belastet die Affäre seine restliche Amtszeit erheblich. Temers Regierung ist mittlerweile die unbeliebteste seit dem Ende der Militärdiktatur im Jahr 1985. Dem Umfrageinstitut Datafolha zufolge bewerten lediglich fünf Prozent der Befragten die Regierung mit »gut«, hingegen 73 Prozent mit »sehr schlecht«.
Umso stärker hängt die Regierung vom Parlament ab. Die Tageszeitung Estado de São Paulo schrieb in einem Editorial, dass sich die Macht im Staat von der Exekutive zur Legislative verschoben habe, was für das Präsidialsystem Brasiliens sehr ungewöhnlich sei.

Die Zustimmung des Parlaments ließ sich die Regierung einiges kosten. Estado de São Paulo rechnete aus, dass die Zugeständnisse Temers an Abgeordnete, mit denen er die Parlamentsmehrheit auf Regierungskurs hielt, den Staatshaushalt umgerechnet etwa 837 Millionen Euro kosteten. Dabei ging es vor allem um steuerliche Vergünstigungen für bestimmte Branchen und die Herabsetzung von Strafzahlungen für Umweltverbrechen – woran insbesondere die mächtige Agrarlobby interessiert war.
In deren Interesse war auch die sicherlich umstrittenste Entscheidung der Regierung, die diese am 16. Oktober traf. In einer Regierungsdirektive wurde die Definition für sklavereiähnliche ­Arbeitsverhältnisse abgeschwächt. Vorher galt es als Sklavenarbeit, wenn Arbeiter unter menschenunwürdigen Bedingungen wohnen und arbeiten, in Schuldknechtschaft gehalten werden oder wenn sie mit Gewalt am Verlassen des Arbeitsplatzes gehindert werden. Mit der Novelle gilt nur noch der letzte Punkt als konstitutiv für Sklaverei.

»Mit dieser Novelle kann praktisch kein sklavereiähnliches Arbeitsverhältnis mehr nachgewiesen werden«, sagte Maurício Torres, ein Geograph und ­Sozialwissenschaftler aus Santarém in Bundesstaat Pará, der Jungle World. Insbesondere in dieser Region in Amazonien ist die moderne Sklaverei alltäglich. Meist sind es spezialisierte Banden, die Sklavenarbeit und illegale Waldrodung für Agrarunternehmen anbieten. »Ich habe noch keine Regenwaldrodung gesehen, bei der es nicht zum Einsatz von Sklaven kam«, sagt Torres.

Die Gesetze gegen Sklavenarbeit aufzuweichen, ist eine alte Forderung der bancada ruralista, der parteiübergreifenden Fraktion von Abgeordneten, die die Interessen des Agrarbusiness vertritt. Viele Abgeordnete besitzen selbst riesige Farmen und wollen nicht auf den »schmutzigen Listen« auftauchen, in denen das Arbeitsministerium die Namen der Unternehmen veröffentlicht, die von Sklaverei profitiert haben.

Der zuständige Staatsanwalt Deltan Dallagnol sagte im Interview mit ­Estado de São Paulo, dass »Lava Jato« das Ziel habe, »sehr mächtige Menschen unter das Gesetz zu stellen. Es gibt nur ein Problem: Sie machen die Gesetze.« So kann sich Wladimir Costa sicher sein, dass der Präsident und das Parlament ihre Arbeit machen. Und die besteht derzeit vor allem darin, ihre eigene Straflosigkeit zu garantieren.