Die Stadt Frankfurt am Main benötigt ein Konzept gegen Obdachlosigkeit

Die Gefahr zu versinken

Nach Angaben des Sozialdezernats leben in Frankfurt rund 2700 Menschen, die keine Wohnung haben. Obdachlos sind sie deshalb nicht zwangsläufig.

Die Schlange ist 30 bis 40 Meter lang. Junge Frauen mit hohen Schuhen stehen neben Männern mit teuren Sneakers. Es herrscht eine gelöste Stimmung, doch einige sind nervös, man sieht ihnen an, dass sie nicht sicher sind, am Türsteher des angesagten Frankfurter Clubs vorbeizukommen. Drinnen kostet das Bier 4,50 Euro, Sitzplätze gibt es nur gegen Reservierung. Direkt neben den anstehenden Feierwütigen liegen Menschen vor der Glasfassade der Filiale einer großen Bekleidungskette. Sechs von ihnen haben hier, mitten auf der Zeil, einer der umsatzstärksten Einkaufsstraßen Deutschlands, in dieser Nacht ihr Lager aufgeschlagen. Mehrere Decken und Schlafsäcke sollen sie warmhalten. Doch wer schon mal bei frostigen Temperaturen draußen übernachtet hat, weiß: Die Kälte findet immer einen Weg. Dazu ist es laut und die Neonlichter scheinen grell. Trotzdem hat sie die Hoffnung hergetrieben, die Wartenden könnten etwas Kleingeld in den Pappbecher werfen. Für die meisten wird es bei der bloßen Hoffnung bleiben. Nicht weit entfernt liegen drei Menschen im Eingangsbereich eines anderen Geschäfts. Ein älterer Mann schnarcht, ein jüngerer Mann und eine Frau liegen dicht beieinander. Über ihnen an der Wand steht der Name des Ladens: »Kauf dich glücklich«.

Solche Szenen gibt es in jeder beliebigen deutschen Großstadt. In Frankfurt sind die Kontraste besonders stark. Während im Zentrum die Bankentürme stehen und Milliarden Euro hin- und herbewegt werden, liegen wenige Gehminuten entfernt Menschen in bitterer Kälte auf nacktem Beton. Bei ihnen kommt der Aufschwung, der sich an der Frankfurter Börse in diesem Jahr an immer neuen Rekorden des DAX ablesen ließ, nicht an.

 

Obdachlosigkeit

Keine Berührungspunkte. Clubgäste stehen Schlange neben Obdachlosen

Bild:
Marcel Richters

 

Wohnungsnot in Frankfurt

Die Mieten sind in Frankfurt teilweise extrem hoch. Der Bestand an Sozialwohnungen ist in den vergangenen Jahren deutlich gesunken, staatlich geförderte Wohnungen sind an private Investoren verkauft worden. Der Wohnungsmarkt der Stadt ist hart umkämpft, erst kürzlich wurde der Bau eines neuen Stadtteils beschlossen, um die Lage zu entspannen. Ob dort zumindest manche der insgesamt fast 3 000 Menschen eine Unterkunft finden, die dem Jugend- und Sozialamt in Frankfurt zufolge derzeit ohne festen Wohnsitz sind, ist fraglich. Die Frankfurter Nachbarschaftsinitiative NBO, die Gruppe Stadt für Alle, die Initiative Zukunft Bockenheim und die Aktionsgemeinschaft Westend fordern von der Stadt eine Kurskorrektur bei der Wohnungsbau- und Stadtentwicklungspolitik, um die Wohnungsnot zu lindern. Schon jetzt hätten Angaben der Stadt Frankfurt zufolge 49 Prozent der Frankfurter Anspruch auf eine Sozialwohnung.

Auch zahlreiche Studierende trifft die Wohnungsnot. In Frankfurt kommen derzeit nur sieben Prozent der Studierenden in einem Wohnheim unter. Der Rest muss bei den Eltern wohnen, pendeln oder sich auf den privaten Wohnungsmarkt etwas suchen.

Am Härtesten trifft es allerdings andere. Einige Obdachlose übernachten zeitweise in Notunterkünften. Zwar gibt es in einigen Unterkünften Einzelzimmer und feste Wände, aber auch Container werden inzwischen genutzt, um möglichst allen Menschen eine Nacht im Freien zu ersparen. Dort lassen sich Duschen und Toiletten nur mit einem Gang durch die Kälte erreichen.

Einer von den vielen Menschen in Frankfurt ohne festen Wohnsitz ist Edris*. In der Teestube »Jona« in der Nähe des Hauptbahnhofs erzählt er seine Geschichte. Das kleine Café ist an diesem Abend bis auf den letzten Platz gefüllt. Es herrscht eine familiäre Atmosphäre. Das liegt auch an Nadine Müller und ihrem Team. Die Sozialarbeiter dei Einrichtung der Projektgruppe Bahnhofsviertel e.V. sprechen alle Besucher mit Namen an.

Wer keinen Namen hat oder ihn nicht sagen möchte, bekommt einen. Jeder kann reinkommen, der Kaffee kostet 30 Cent, ein eher symbolischer Betrag. Edris weiß nicht genau, wo er geboren wurde. Sein Vater sagt Bagdad, seine Mutter Teheran. Er feiert an dem Tag Geburtstag, an dem er die iranische Staatsbürgerschaft erhielt. Das war Ende der sechziger Jahre. Edris erinnert sich genau an den Tag, als er Mitte der Achtziger nach Deutschland kam. »Mathe war in der Schule mein Lieblingsfach«, erzählt er. Zurzeit lebt er in einer Unterkunft. Die Zeit auf der Straße sei eine Prüfung für ihn gewesen: »Ich dachte, dass sei eben mein Schicksal. Da muss ich durch, bis ich eine warme Wohnung bekomme.« Das Schlafen im Freien hat ihn sehr bedrückt: »Es war kalt, der Boden war hart. Ich habe sehr schlecht geschlafen.« In der letzten Notunterkunft konnte er nicht bleiben: »Die wollten da, dass ich deale. Und sie haben mich geschlagen. Die mögen Typen wie mich da nicht. Warum mögen die Typen wie mich da nicht?« Edris ist ein freundlicher Kerl, ein bisschen rundlich. Früher hat er mal in Dortmund gelebt, da musste er auch dealen. In Deutschland will Edris nicht bleiben. Lieber irgendwann nach Australien auswandern: »In Deutschland findet man so schlecht Anschluss und es ist kalt.« In einem wärmeren Land wäre es vielleicht auch nicht mehr so schlimm, wenn ihm seine Isomatte geklaut würde. Das ist ihm schon zwei Mal passiert.

 

Frankfurt
Bild:
Marcel Richters

 

Ähnlich erging es Markus*. Auch er wurde schon beklaut. Seine persönliche Geschichte will er für sich behalten, Politik ist ihm wichtiger. Am Rande erwähnt er das Leben in der Kleinstadt und des Zerwürfnis mit seinen Eltern. Nach Frankfurt kam er 2013 während der Blockupy-Proteste, dann ist er geblieben. Er möchte dazu beitragen, dass sich Obdachlose besser selbst organisieren: »Ich glaube, mit Vernetzung kann man viel erreichen. Aber wenn Du hier in Frankfurt 100 Leute fragst, interessiert sich vielleicht einer für das Thema.«

Trotzdem versucht er es weiter, war schon bei einer Konferenz der Selbstvertretung Vereinter Wohnungsloser.

Für ihn zählen die »Makrostrukturen« in der Gesellschaft, wie er sagt. Daher nimmt er auch an den Diskussionen einer Gruppe teil, die sich mit Marxismus beschäftigt. Und er schaut manchmal den Youtube-Kanal des Verschwörungsideologen Ken Jebsen. Kultur helfe ihm, mit seiner Lage klarzukommen: »Durch kostenlose Veranstaltungen kommt man aus seiner Wohnungslosigkeit raus.« Er wolle in dieser Situation nicht »vollständig versinken«.

 

Wer seine Wohnung verloren hat, gilt als Ärgernis

Dabei ist die Gefahr zu versinken groß. Denn viele Städte und Gemeinden sind offenbar nicht bereit, sich gezielt um Menschen ohne festem Wohnsitz zu kümmern. Wer erstmal seine Wohnung verloren hat, gilt eher als Ärgernis. Das zeigen auch die Gesetzgebung und das Handeln des städtischen Ordnungsamts in Frankfurt. An Treffpunkten Obdachloser in der Innenstadt wird immer häufiger kontrolliert, erst im Sommer wurde die Grünflächenverordnung verschärft. Seither ist es verboten, auf Grünflächen zu »lagern« oder zu übernachten.

 

Seit September besteht auch in Frankfurt eine Gruppe der Bewegung »Solidarity City«, die sich an die sanctuary cities in den USA und Kanada anlehnt und sich explizit auch auf Obdachlose bezieht.

 

Definiert ist der Begriff des Lagerns allerdings nicht. So könnte auch bei einem einfachen Picknick die Strafe von 50 Euro fällig werden. Doch die Stadtregierung aus CDU, SPD und Grünen hatte wohl eher Obdachlose im Sinn. Das Ordnungsamt erteilt Platzverweise, wenn Obdachlose angetroffen werden, wie der Sprecher des Amts, Ralf Rohr, mitteilt. Hinweise auf verfügbare Notunterkünfte werden ihm zufolge oft ignoriert.

Vielleicht liegt das daran, dass die Grünanlagen nachts noch einen letzten Rest von Ruhe bieten. Diese Annahme bestätigt die zufällige Begegnung mit einem jungen Mann, der lieber alleine am Main als in einer Unterkunft schläft. Die im Winter für Übernachtungen geöffnete Mittelebene der zentralen U-Bahn-Station an der Hauptwache ist die ganze Nacht beleuchtet, Fahrgäste und Sicherheitsleute streunen umher. Außerdem sei ihm das zu »asozial«. Er präzisiert: »Naja, die Leute dort.« Auch wenn er es nicht sagen will, ist klar, was er meint: Zwei Drittel der Obdachlosen in Frankfurt kommen aus Ost- und Südosteuropa. In der Hierarchie der Straße stehen sie ganz unten. Das bestätigt auch ein Mitarbeiter, der seit zwei Jahren in Frankfurt in der Obdachlosenhilfe tätig ist. »Wir haben heutzutage nicht mehr dieses Klischee von den schrulligen alten Männern mit mehr oder weniger selbstgewähltem Schicksal, sondern eine durchmischte Szene. Und dabei sind viele, die da raus wollen.«

Doch für viele ist der Weg raus aus der Obdachlosigkeit allein nur schwer zu schaffen. Sie kämpfen gegen ständige Diskriminierung und anhaltenden Verdrängungsdruck. Aber es gibt Versuche, das zu ändern. Seit September besteht auch in Frankfurt eine Gruppe der Bewegung »Solidarity City«, die sich an die sanctuary cities in den USA und Kanada anlehnt und sich explizit auch auf Obdachlose bezieht. Die Initiative fordert, dass allen Menschen, die in der Stadt leben, die gleichen Rechte zugestanden werden, etwa eine menschenwürdige Unterkunft, Gesundheitsversorgung und Bildung. Vielleicht lässt sich das nordamerikanische Modell auch auf hiesige Verhältnisse übertragen.

 

*Namen von der Redaktion geändert