Welches Ziel hat die türkische Militäroffensive und wer profitiert davon?

Erdoğans Korridor

Der türkische Präsident Erdoğan hat angekündigt, den Militärangriff in Afrin mit Hilfe der Freien Syrischen Armee (FSA) fortzusetzen. Die kurdischen »Terroristen« in der Region müssten »ausgerottet« werden.

»Wir sind nach Afrin gekommen, um gegen den türkischen, faschistischen Staat zu kämpfen.« Der YPG-Kämpfer spricht Englisch mit starkem franzö­sischem Akzent. Gemeinsam mit sieben teils vermummten Männern blickt er in die Kamera, reckt die rechte Faust in den verregneten Januarhimmel Nordsyriens und ruft: »Wir werden niemals aufgeben. Biji Rojava!«

Das Propagandavideo wurde am Freitag vergangener Woche vom YPG Press Office ins Internet gestellt. Sechs Tage zuvor hatte die Türkei im Rahmen der »Operation Olivenzweig« begonnen, die kurdischen Gebiete im Norden ­Syriens unter Feuer zu nehmen.

Die Darstellung des Konflikts im zweieinhalbminütigen Clip der Propagandaabteilung der Volksverteidigungsein­heiten (YPG) ist eindeutig: Eine internationale Kämpferschar verteidigt das demokratische Experiment in Rojava gegen die hochgerüstete Armee des ­türkischen Despoten Recep Tayyip Erdoğan.

Auf den Schlachtfeldern entlang der türkisch-syrischen Grenze stellt sich die Situation etwas anders dar. Tatsächlich kämpfen hier in den letzten Januartagen kurdische YPG-Kämpfer aus der Türkei und aus Syrien gegen mehrheitlich arabische Milizen der Freien Syrischen Armee (FSA). Der türkischen Nachrichtenagentur Anadolu zufolge befinden sich 8 000 bewaffnete YPG-Kämpfer in Afrin, ausgerüstet mit US-Waffen, erbeuteten syrischen Panzern, Artillerie sowie Panzerabwehrraketen.

Die Offensive gegen die YPG wird von der türkischen Luftwaffe und Artillerie unterstützt. Angeführt wird die Bodenoffensive jedoch von rund 10 000 Kämpfern der FSA, die gegen das Assad-Regime kämpften, nun jedoch zur Speerspitze der türkischen Sache in Syrien gemacht wurden.

Ziel der türkischen Militäroffensive ist die Errichtung eines 20 Kilometer ­breiten Korridors entlang der türkischen Grenze zu Syrien.

Bislang standen ­diese Gebiete unter der Kontrolle der Demokratischen Kräfte Syriens (SDF), ­einer Allianz verschiedener Milizen, die von der kurdischen YPG dominiert wird. Noch im Januar hatten die USA angekündigt, eine Grenztruppe von 30 000 Mann unter Beteiligung der SDF aufzubauen. Hochgerüstete kurdische Truppen an der Grenze zur Türkei? Für Erdoğan eine Horrorvorstellung.

 

Mehr als 10 000 Kämpfer stellte die FSA jetzt unter türkisches Kommando – Hunderte von ihnen sollen in den ­vergangenen Monaten in Flüchtlingslagern auf türkischem Boden rekrutiert worden sein.

 

»Ein Land, das wir unseren Verbündeten nennen (die USA, Anm. d. Autors) baut eine Terrorarmee an unseren Grenzen auf«, urteilte der türkische Präsident. Seine Folgerung: »Wir müssen sie strangulieren, bevor sie überhaupt geboren wird.«

Dass die Türkei früher oder später im Norden Syriens intervenieren würde, war absehbar. In der Tat befinden sich in den Reihen der YPG zahlreiche Kämpfer der kurdischen PKK, die seit Jahrzehnten einen blutigen Kampf in der Türkei führt. Rund die Hälfte der in Syrien getöteten YPG-Kämpfer sind ­einem Bericht des Think Tanks Atlantic Council zufolge Kurden aus der Türkei. 2014 und 2015 wurden sie vom türkischen Grenzschutz geradezu nach ­Syrien durchgewinkt, um dort gegen den Islamischen Staat (IS) zu kämpfen.

Nach der Niederlage des Kalifats in Raqqa ist es nicht unwahrscheinlich, dass sich die kampferprobten Einheiten neue Angriffsziele suchen.

Die Türkei konnte nun die marode FSA für ihre Kampagne in Afrin gewinnen. Die Rebellen waren über Jahre der stärkste militärische Widersacher des Assad-Regimes im Norden Syriens. Doch mittlerweile ist die FSA in einem erbärmlichen Zustand. Von allen internationalen Verbündeten verlassen und intern zersplittert, steht sie kurz vor der Niederlage. Das ursprüngliche Ziel, den syrischen Diktator Bashar al-­Assad aus dem Land zu vertreiben, ist in ­unerreichbare Ferne gerückt. Die Allianz mit der Türkei und der Kampf für ­deren Interessen ist für die Kommandeure der einzige Weg, um das eigene Überleben zu sichern. »Die Syrer haben keinen Einfluss mehr auf die Entscheidungen, die in Syrien getroffen werden«, sagte im Januar ein FSA-Kommandeur im Gespräch mit dem britischen Guardian. »Es wird eine internationale Schlacht. Weder das Regime noch die Opposition haben etwas zu sagen. Aber wir haben niemand anderen als die Türkei.«

Mehr als 10 000 Kämpfer stellte die FSA jetzt unter türkisches Kommando – Hunderte von ihnen sollen in den ­vergangenen Monaten in Flüchtlingslagern auf türkischem Boden rekrutiert worden sein. Ein Propagandacoup, der suggerieren soll, dass es sich hier nicht nur um eine türkische Intervention handele. Auf den Uniformen und Militärfahrzeugen der FSA prangt nun ­neben der Flagge Syriens auch der weiße Halbmond des Sponsors aus dem Norden.

Die Türkei konnte den Konflikt zwischen FSA und den kurdischen Milizen nutzen, die sich seit Jahren feindselig gegenüberstehen.

 

Die »Operation ­Olienzweig« ist mit Russland und dem Iran koordiniert

 

Seit Beginn des Aufstandes in Syrien im Jahr 2011 blieben die Kurdengebiete weitgehend unbehelligt vom Terror des Assad-Regimes. Dessen Truppen zogen sich kampflos zurück. Die Gebiete wurden unter eine protostaatliche Selbstverwaltung gestellt.

Gelegentlich paktierten die Kurden auch mit der syrischen Armee, wie im Jahr 2016 bei der Belagerung Aleppos. Die YPG (schon unter dem Namen SDF – Demokratische Kräfte ­Syriens – firmierend) eroberte die letzte Nachschublinie der eingeschlossenen Rebellen und besiegelte damit deren Schicksal. Im November 2017 kam es zum offenen Konflikt zwischen FSA und SDF in der nordsyrischen Stadt Manbij. Wie die Nachrichtenseite Al-Monitor berichtet, sorgten Zwangsrekrutierungen der SDF in der Stadt für Unmut in der Bevölkerung. Lokale Angehörige der FSA organisierten Proteste gegen die Praxis und wurden kurzerhand verhaftet.

Im jüngsten militärischen Konflikt in Nordsyrien kamen der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte zufolge etwa 28 Zivilisten und rund 90 Kämpfer ums Leben. Doch zum Jahresbeginn 2018 haben sich die Konfliktlinien in Syrien deutlich verschoben. Bislang fanden die Gefechte grob ­gesagt an zwei Fronten statt: das Assad-Regime gegen Rebellen und eine breite Allianz aus Kurden und die Rebellen gegen den Islamischen Staat. Das Kalifat ist nunmehr Geschichte und Assads Armee hat zumindest westlich des ­Euphrat kaum mehr Kontrahenten. Die Fortdauer des Bürgerkriegs resultiert aus einem verstärkten Engagement ausländischer Truppen – in diesem Fall der türkischen – und dem schleichenden Rückzug der USA aus Syrien.

Angesichts der türkischen Offensive hat sich die YPG nun an die Zentralregierung in Damaskus gewandt und um Hilfe gebeten.

Der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu gab zu, die »Operation ­Olienzweig« vorab mit Russland und dem Iran koordiniert zu haben. Dutzende russische Militärbeobachter zogen vor den ersten türkischen Luftangriffen aus Afrin ab – wohl auch, weil sich die Kurden nicht auf den Deal einließen, Afrin an das Assad-Regime abzutreten, um weiterhin von Russland protegiert zu werden.

Die Reaktion der USA auf die türkische Landnahme ist erschreckend blass, wenn man bedenkt, dass es sich bei den SDF um den bislang engsten Verbündeten der Amerikaner in Syrien handelt. Die USA lieferten nicht nur Rüstungsgüter, sondern unterhalten auch mehrere Militärbasen im von den SDF kontrollierten Gebiet mit rund 2 000 Soldaten. Die haben nun großflächige Sternenbanner an ihren Humvees angebracht, um nicht selbst Opfer türkischer Luftangriffe zu werden.

In dieser absurden Konstellation, in der ein Nato-Land den Verbündeten eines anderen, zudem der größten Militärmacht der Welt, angreift, spricht US-Außenminister Rex Tillerson von einer »Stabilisierung der Lage« und dem Versuch, »mit legitimen türkischen Sicherheitsinteressen übereinzukommen«. Die Reaktion der Türkei klang weit weniger weichgespült: »Die USA sollen sich umgehend aus der Region Manbij zurückziehen«, sagte Çavu­şoğlu Ende ­Januar. Das meldete die staatliche Nachrichtenagentur Ana­dolu. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die USA dieses Angebot annehmen und damit endgültig aus dem syrischen Bürgerkrieg aussteigen. Die SDF hätten damit ihre letzte Schutzmacht verloren und müssten sich nach neuen Ver­bündeten im Kampf gegen die Türkei umsehen.

Unterdessen dürften in Damaskus die Sektkorken knallen. Die türkische ­Offensive im Norden bindet nicht nur die verbleibenden Kräfte der FSA. Der Angriff auf die Kurdengebiete torpediert auch die dortigen Bestrebungen nach Autonomie – die syrische Armee hatte sich dessen bislang nicht angenommen. Seit Ende Januar sorgt ein von Russland verhandelter Waffenstillstand mit den Rebellen in Ghouta zudem für eine ­ruhige Front im ­Süden. Da stört es auch nicht, dass die syrische Opposition nicht an den anstehenden Friedensgesprächen im russischen Sotschi teilnehmen will.

Ein weiterer Profiteur ist zweifelsohne Erdoğan. Mit dem militärischen Eingreifen in Syrien untermauert er nicht nur den Anspruch der Türkei auf die Rolle der Ordnungsmacht im Nahen Osten, sondern schafft auch die Vor­aussetzungen für die Rücksiedlung der rund 3,5 Millionen syrischen Flücht­linge in seinem Land.

Die syrischen Kurden hingegen erleiden in ihren Bestrebungen nach ­Eigenstaatlichkeit eine herbe Niederlage. Für sie bleibt die Lehre, dass ohne eine Schutzmacht aus dem Ausland keine Siege errungen werden können.