Sandro Mezzadra, Politologe, im Gespräch über die Liebe der Linken für alte Begriffe und die Notwendigkeit einer neuen Klassenpolitik

»Ein neuer Internationalismus ist die Aufgabe«

Interview Von Federica Matteoni

In ihrem Buch »Jenseits von Interesse und Identität. Klasse, Links­populismus und das Erbe von 1968« (Hamburg 2017) gehen Sandro Mezzadra und Mario Neumann der Frage nach, welche Rolle Begriffe wie Klasse, Identität und Volk in gegenwärtigen linken Debatten spielen. Darüber und über die Bedeutung einer zeitgemäßen Klassenpolitik hat Sandro Mezzadra mit der »Jungle World« gesprochen.

In Ihrem Buch kritisieren Sie unter anderem den »nostalgischen Reflex, der die Geschichte linker Politiken als Zerfallsprozess der Arbeitereinheitsfront beschreibt«. Sind Klasse, soziale Frage und Ausbeutung heute keine linken Begriffe mehr?
Viel wichtiger, als solche Labels zu vergeben, wäre es, die Transformationen der Subjekte zu reflektieren, die hinter den von Ihnen genannte Kategorien stehen. Ich finde es sehr beschränkt, die soziale Frage heute nur als ökonomische Frage von Einkommensunterschieden und wachsender Armut zu behandeln. Ähnlich verhält es sich mit der in linken Diskursen und Theorien weit verbreiteten Gleichsetzung von Klassenbewusstsein mit materiellen Interessen.

Die soziale Frage ist in den vergangenen Jahren in Europa in neuen Formen aufgetaucht, etwa durch die Finanzkrise und deren soziale und politische Folgen, später durch die Migration. Warum ist es der Linken nicht gelungen, sich als eine europäische Kraft zu artikulieren? Versuche gab es ja immerhin – die ­Solidarität mit Griechenland, die »acampadas« in Madrid, die Soli­darität mit den Geflüchteten …
Die sozialen und politischen Experimente, die Sie genannt haben, sind meines Erachtens nicht als Scheitern der Linken zu bezeichnen, sondern als Erfahrungen, die Ideen und eine Sprache hervorgebracht haben, die für unser künftiges Handeln nutzbar gemacht werden können. Nur weil sie nicht zur Gründung einer einheitlichen europäischen linken Bewegung geführt haben, sollte man sie nicht als gescheitert betrachten.

Dass es keine handlungsfähige Linke auf europäischer Ebene gibt, liegt in meinen Augen daran, dass ein Großteil dessen, was unter »Linke« in Europa verstanden wird, sich weiterhin in einem nationalstaatlichen Rahmen bewegt. Auf diesem Feld kann man politische Kämpfe austragen, was, obwohl darüber seit Jahren theoretisiert wird, noch nicht passiert ist.

Es ist darüber hinaus nicht nur die Unfähigkeit der politischen Linken, die die Entstehung einer linken Bewegung oder einen Linksruck in der Gesellschaft verhindert. Die Schwierigkeiten für eine linke Politik sind real, nicht nur in Europa. Die Versuche neuer sozialer Bewegungen, transnationale Räume zu schaffen und darin handlungsfähig zu werden, müssen sich ständig gegen die Gewalt der globalen kapitalistischen governance behaupten. Mein Eindruck ist, dass die Instrumente noch nicht gefunden worden sind, um damit umzugehen. Es müssen sowohl Formen der politischen Aktion als auch institutionelle Wege gefunden werden, mit denen wir einem Kapitalismus begegnen, der sich grundlegend verändert hat im Vergleich zu jenem Kapitalismus, auf den sich die Linke mit ihrer Sprache und mit ihren Begriffen traditionell bezogen hat.

Stattdessen beobachtet man, wie linke Parteien versuchen, mit dem Rechtspopulismus zu konkurrieren. Hier in Deutschland zum Beispiel hat der Erfolg der rechten AfD nicht etwa dazu geführt, dass die Partei »Die Linke« sich schärfer links profilieren würde. Im Gegenteil, ein Teil der Linkspartei schlägt beim Thema Migration durchaus deutschnationale Töne an. Findet eine Renationalisierung der Linken statt?
Ja, das ist eines der Probleme, vor denen wir heute stehen. Sie haben das deutsche Beispiel genannt. Man könnte aber auch Spanien erwähnen. Dort scheint sich die einst positive Ambivalenz von Podemos, insbesondere seit den letzten Wahlen und nach der katalanischen Krise, in Richtung der Renationalisierung aufzulösen. In Italien gibt es ähn­liche Tendenzen.

Was kann man diesen Tendenzen entgegensetzen?
Die Aufgabe ist, wenn Sie mir eine Vereinfachung erlauben, der Aufbau eines neuen Internationalismus. Ein Internationalismus, der nicht die einzelnen Nationalstaaten als Referenzrahmen hat, sondern in einem europäischen Raum entsteht und auch Bezug auf die Verhältnisse außerhalb Europas nimmt und politisch interveniert, etwa dort, wo die Menschen herkommen, die nach Europa fliehen.

Es geht auch nicht primär darum, eine grundsätzliche Kritik am Nationalstaat zu artikulieren. Entscheidend ist ein revolutionärer politischen Realismus im Sinne Rosa Luxemburgs, insbesondere bei der Frage nach der Fähigkeit der Nationalstaaten in Europa, eine progressive Sozialpolitik zu implementieren. Da wird deutlich: Der Nationalstaat ist entweder Garant für die Stabilisierung des heutigen Kapitalismus – dessen Regierungsform in Europa derzeit die Große Koalition ist –, oder er gestaltet sich als Neuauflage von autoritärer, nationalistischer und ­tendentiell rassistischer Politik.

 

»Durch einen rein materialistischen Klassenbegriff ist die gegenwärtige Welt der Arbeit und des Lebens nicht mehr zu deuten. Er ist nicht mehr zeitgemäß, denn er lässt außer Acht, dass der Kampf um die materiellen Interessen von Leidenschaften, Affekten und Widersprüchen durchkreuzt ist, die immer wieder neue Subjektivitäten hervorbringen.«

 

In Ihrem Buch schlagen Sie vor, »Klassenpolitik heute anders zu denken: als eine bewegte Politik der Solidarität und des Gemeinsamen«. Was bedeutet das?
Was ist Klasse überhaupt? Viele, die sich mit linker Politik und Theorie beschäftigen, glauben, es genau zu wissen, vor allem wenn es darum geht, den Klassenbegriff anderer zu kritisieren. Mir erscheint es absolut notwendig, den Klassenbegriff eines Großteils der Linken zu kritisieren. Dieser bezieht sich entweder auf den Wohlfahrtstaat oder die Vorstellung eines »linken Volkes«.

Von Klasse zu reden, ergibt erst dann Sinn, wenn man auf den Unterschied zwischen Klasse als soziologischem Konzept und Klassenpolitik hinweist. Ich habe vorhin von einer kapitalistischen Transitionsphase gesprochen. In dieser Phase ist es unumgänglich, sich mit der neuen Zusammensetzung von dem, was man Klasse nennt, auseinanderzusetzen, denn die Menschen, die täglich Ausbeutung erfahren, sind nicht mehr die, die der Klassenbegriff der sechziger oder siebziger Jahre bezeichnete.

Die Grenzen der Klasse, wie man sie traditionell marxistisch definiert hat, haben sich ausgedehnt. Wer befindet sich denn innerhalb dieser Grenzen?
Sicher nicht mehr die Figur des Fabrikarbeiters, die lange im Mittelpunkt des linken Klassenbegriffs stand. In Italien haben wir vor drei Jahrzehnten angefangen, das zu reflektieren. Aber wie es scheint, müssen wir immer und immer wieder darauf hinweisen. Ein Blick auf linke Debatten, besonders hier in Deutschland, aber auch anderswo, hinterlässt den Eindruck, dass das Hauptproblem der Linken derzeit sei, zu diesem verlorenen Subjekt zurückzufinden, sich irgendwie mit ihm zu versöhnen – obwohl es als solches nicht mehr existiert. Das bedeutet nicht, dass es keine Fabrikarbeiter mehr gibt, sondern nur, dass diese aufgrund der veränderten kapitalistischen Produktions- und Herrschaftsverhältnisse nicht mehr der Ausgangspunkt einer linken Klassenpolitik sein können.

 

Die Eltern von Didier Eribon

 

Hier kommen wir zu den Eltern von Didier Eribon, über die Sie in einem Text im vergangenen Sommer auf der Website des Kollektivs »Euronomade« schreiben, der auch ins Deutsche übersetzt wurde. Sie konstatieren, dass die Debatte über Eribons Buch »Rückkehr nach Reims« in Deutschland besonders intensiv war. Warum interessiert sich die deutsche Linke so stark für Eribons Eltern?
Vor allem in Deutschland ist in linken Debatten eine, wie soll ich das nennen, Idealisierung des Klassenkampfs zu beobachten, die etwas Zwanghaftes hat. Ich verstehe nicht wirklich, wohin man eigentlich zurück will, ich würde gerne wissen, wo man Klassenkampf heute verortet, wo man ihn praktiziert sieht. Ich vermute, dass damit die Idee verbunden ist, die Linke solle irgendwie ihr Kerngeschäft in den Mittelpunkt stellen, also Sozialpolitik im klassischen Sinne. Merkwürdigerweise ist das ein Punkt, in dem sich viele linke Strömungen einig zu sein scheinen.

 

»Eine gän­gige Ansicht ist: Die Linke ist am Ende, weil sie sich immer weniger um die für die Arbeiterklasse wichtigen Themen gekümmert hat, ergo wählt die Arbeiterklasse rechts. Das ist nicht nur viel zu einfach, sondern nähert sich teilweise rechten Diskursen an.«

 

Sie kritisieren einen statischen linken Klassenbegriff und setzen dem einen dynamischen entgegen; Sie sprechen von »Klasse werden«. Wer wird »Klasse« und wie geht das?
Ich glaube nicht, dass der Begriff der Klasse an sich eine Antwort auf die gegenwärtige Krise der Linken sein kann. Vielmehr betrachte ich ihn als eine ­offene Frage, die nicht endgültig beantwortet werden kann. »Klasse werden« ist nicht so abstrakt, wie es klingen mag. Er bezieht sich auf konkrete Bewegungen und Kämpfe, die die Zusammensetzung dessen, was Linke immer »Klasse« genannt haben, grundlegend verändert haben. Die Frauenbewegung zum Beispiel hat die Figur des industriellen Arbeiters, beziehungsweise dessen Relevanz für den Klassenbegriff, schon seit Ende der siebziger Jahren kritisiert. Die Frauenbewegung gehörte zu den ersten, die eine Ausdehnung des Arbeitsbegriffs propagiert haben. Sie wies auf das Verhältnis zwischen Produktion und Reproduktion hin, das heute ein entscheidender Aspekt linker Klassenpolitik ist. Dasselbe gilt für den Antirassismus und den Kampf der Geflüchteten für Teilhabe und soziale Rechte. Gerade Migration ist ein Feld, in dem eine stetige Neudefinition des Klassenbegriffs stattfindet.

Wie ich bereits sagte: Durch einen rein materialistischen Klassenbegriff ist die gegenwärtige Welt der Arbeit und des Lebens nicht mehr zu deuten. Er ist nicht mehr zeitgemäß, denn er lässt außer Acht, dass der Kampf um die materiellen Interessen von Leidenschaften, Affekten und Widersprüchen durchkreuzt ist, die immer wieder neue Subjektivitäten hervorbringen. Diese Subjektivierungsprozesse sind heute ein grundlegendes Kampffeld.

Sie reden viel von Subjekten. Damit tun sich viele Linke schwer – zumindest hier in Deutschland. Befürchtet wird eine zu große Nähe zur Identitätspolitik, die wiederum für den Niedergang des Klassenkampfs verantwortlich gemacht wird. Schon der Titel Ihres Buches weist auf diese Gegenüberstellung hin. Wie sieht denn ein linke Politik »jenseits von Klasse und Identität« aus?
In Deutschland hat man sich ziemlich früh mit der grundsätzlich richtigen Kritik an der Identitätspolitik befasst. Man muss aber aufpassen, keine falschen Widersprüche zu produzieren; Klassenpolitik versus Identitätspolitik ist ein beliebtes Konstrukt. Eine gän­gige Ansicht ist: Die Linke ist am Ende, weil sie sich immer weniger um die für die Arbeiterklasse wichtigen Themen gekümmert hat, ergo wählt die Arbeiterklasse rechts. Das ist nicht nur viel zu einfach, sondern nähert sich teilweise rechten Diskursen an. Die von Ihnen genannte Frontstellung – Klasse versus Identität – katapultiert uns zurück in die Zeiten von Haupt- und Nebenwiderspruch. Die neue Zusammensetzung der lebendigen Arbeit und der globalen Ökonomie mit alten Weltbildern zu erklären, wird nicht funktionieren.

Dass Identitätspolitik teilweise sehr problematisch sein kann, ist mir durchaus bewusst, und da ich derzeit in New York an der Universität lehre, weiß ich, wovon ich rede. Doch man kann nicht die Fragen ignorieren, die hinter dem stehen, was wir Identitätspolitik nennen. Dahinter steht nicht nur »Betroffenheit«, wie die Klassenkampf-Essentialisten oft vermuten, sondern die Kritik an konkreten Machtverhältnissen. Diese sind nicht abstrakt, sondern sehr spezifisch: Es geht um alltägliche Erfahrungen von Gewalt, Diskriminierung, Ausbeutung und Exklusion auf vielen Ebenen. Man kann nicht einfach sagen: Vergiss die subjektive Erfahrung und reih’ dich ein in die Arbeitereinheitsfront. Die Poli­tisierung solcher Subjektivitäten sollte zum Ausgangspunkt einer neuen, ­solidarischen Klassenpolitik werden – nicht trotz, sondern wegen ihrer Plu­ralität.

Und darin spielen Eribons Eltern keine Rolle mehr?
Das zentrale, einheitliche revolutionäre Subjekt, das für eine linke Klassen­politik oft gesucht wird, ist nicht mehr vorhanden. Eribons Eltern verkörpern die linke Nostalgie für dieses Subjekt. Eine neue linke Klassenpolitik kann nicht von ihnen ausgehen.