Die kurdischen »Volksverteidigungseinheiten« konnten das syrische Afrin nicht verteidigen

Halbmond über Afrin

Die türkische Armee und syrische Hilfstruppen haben Afrin eingenommen, die syrisch-kurdischen »Volksverteidigungseinheiten« haben sich zurückgezogen.

Knapp zwei Monate nach Beginn der »Operation Olivenzweig« wehte am Sonntagmorgen die türkische Flagge im Zentrum von Afrin. Die Operation hat länger gedauert als anfangs angenommen und sie hätte noch länger gedauert, hätten die kurdischen »Volksverteidigungseinheiten« (YPG) die Ankündigung einiger Kommandanten wahrgemacht und Afrin im Häuserkampf verteidigt. Stattdessen haben sich die YPG relativ rasch zurückgezogen, als die Verteidigungslinien an den Grenzen des Kantons Afrin zu bröckeln begannen. Ob die Ankündigungen, Afrin zu verteidigen, anfangs ernst gemeint oder nur ein Manöver zur Deckung des Rückzugs waren, wird man kaum erfahren. Die Ankündigung der YPG, Afrin mit einer Serie von Überraschungsangriffen zurückzuerobern, ist realitätsfern. Die YPG haben nicht einmal eine Basis, von der aus sie Angriffe führen könnten.

Dass die türkische Armee und ihre syrischen Hilfstruppen Afrin letztlich erobern würden, war vom ersten Tag der Offensive an klar. Leicht bewaffnete Infanterie kann eine hochgerüstete Armee wie die türkische im offenen Kampf nicht besiegen. Olivenhaine und kleine, lichte Wälder von Aleppo-Kiefern sind nicht der Dschungel Vietnams. Zudem ist der Kanton Afrin nur etwa halb so groß wie das Land Luxemburg und nahezu komplett von türkisch kontrolliertem Gebiet umschlossen. Anders als im Kampf um Kobanê gegen den »Islamischen Staat« wurden die YPG in Afrin zudem nicht von US-amerikanischen Kampfflugzeugen unterstützt.

Es hätte eine Alternative zum ungleichen Kampf gegen die türkische Armee gegeben. Russland hatte vor dem Beginn der Operation auf eine Übergabe des Kantons an das Regime von Bashar al-Assad gedrängt. Die YPG hätten eine gewisse Präsenz in Afrin behalten können, der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hätte dies hinnehmen müssen. Doch zu einer vollen Übergabe von Afrin an Assad waren die YPG respektive die Partei der demokratischen Union (PYD) nicht bereit. Erst im Laufe des türkischen Angriffs bat man Assad um Hilfe. Dieser schickte einige Milizionäre, die die türkische Armee sofort bombardierte.

Haben die YPG wirklich geglaubt, sie können die Türkei aufhalten oder nach langer Schlacht einen Propagandaerfolg erringen? Es wäre nicht das erste Mal, dass Gruppen aus dem Umfeld der PKK ihre Möglichkeiten überschätzen. Nachdem Erdoğan im Jahr 2015 die Verhandlungen mit Abdullah Öcalan abgebrochen hatte, reagierten türkische Kurden mit der Ausrufung der Autonomie durch zahlreiche Gemeindeverwaltungen, bewaffnete Jugendliche besetzten mehrere Stadtzentren im türkischen Kurdengebiet.

In monatelangen Kämpfen eroberte das Militär die Städte zurück und hinterließ Trümmerfelder. Die prokurdische Partei HDP büßte Stimmen ein, während Erdoğans AKP von der Konfrontation profitierte.

Doch es war wohl nicht nur Selbstüberschätzung, die die YPG zum Kampf bewog. Eine Übergabe an das Assad-Regime wäre politisch ebenfalls fatal gewesen. Nur ein paar Monate nach der Übergabe Kirkuks an die irakische Zentralregierung durch die nordirakischen Kurdenparteien hätten YPG und PYD in Syrien das Gleiche getan. Und das ausgerechnet in Afrin, dem Kanton, in dem die YPG wohl den stärksten Rückhalt hatten. Nach einer Übergabe hätte Assad zudem wohl die jungen Männer von Afrin in seine Bürgerkriegsarmee eingezogen. Selbst in seiner noch immer schwierigen Situation ist Assad nicht bereit, den syrischen Kurden Autonomie zuzugestehen. Damit wäre Afrin das erste der von den YPG kontrollierten Gebiete gewesen, das seine Autonomie wieder an Assad verliert.

 

Erdoğan hat mehrfach erklärt, er wolle Afrin seinen »wahren Herren« zurückgeben.

 

Die Einnahme von Afrin ist für Erdoğan innenpolitisch ein Triumph erster Güte. Aber auch in Syrien werden die Karten neu verteilt. Zwischen dem Euphrat und der türkischen Provinz Hatay beherrscht die Türkei nun einen größeren Streifen syrischen Gebiets. Außerdem hat sie im Süden von Afrin die Rolle als Schutzmacht über das Rebellengebiet von Idlib übernommen. Ein großer Teil der Rebellengruppen in Idlib hat sich im Verlaufe der »Operation Olivenzweig« Erdoğans Hilfstruppen angeschlossen und firmiert nun entweder unter der alten Bezeichnung »Freie Syrische Armee« (FSA) oder unter »Nationale Armee«. Diese Armee setzt sich aus vielen kleinen, oft nur lokal verankerten und jihadistisch orientierten Gruppen zusammen. Das mindert ihre Schlagkraft, hat aber für Erdoğan den Vorteil, dass diese Gruppen nicht in der Lage sind, eine von der Türkei unabhängige Politik zu entwickeln.

Außerdem kann die türkische Regierung ihre Hilfstruppe noch immer als gemäßigt verkaufen, denn die Nachfolgeorganisation der von al-Qaida gegründeten al-Nusra-Front namens »Komitee zur Befreiung Syriens« (HTS) ist nicht dabei. Mit einer soliden territorialen Basis, starkem Einfluss auf den größten Teil der nichtkurdischen Oppositionsgruppen und einer Armee aus Syrern hat Erdoğan nun gute Aussichten in Syrien.
Angesichts wachsender Probleme mit Assad könnte auch die US-Regierung versucht sein, in Syrien auf Erdoğan zu setzen. Andererseits würde es weder Erdoğan leichtfallen, sein taktisches Bündnis mit Putin aufzugeben, noch den USA, die syrischen Kurden fallenzulassen. Nur dank der Allianz mit ihnen haben die USA überhaupt eine nennenswerte territoriale Basis in Syrien.

Dass der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu angekündigt hat, im Mai werde eine Operation gegen die PKK im Irak beginnen, kann man auch so verstehen, dass Erdoğan den Konflikt mit den USA um Manbij nicht weiter eskalieren will und daher die Erwartungen seiner Landsleute auf den Irak lenkt. Erdoğan hatte gefordert, die YPG, die in Manbij mit den USA zusammenarbeiten, sollten sich an das Ostufer des Euphrat zurückziehen.

Die USA, die aus der Zeit des Kriegs gegen den »Islamischen Staat« noch etwa 5 000 Soldaten im Irak haben, könnten damit zufrieden sein, dass Manbij vorerst nicht bedroht ist. Als Reaktion auf das Unabhängigkeitsreferendum des nordirakischen Kurdenführers Massoud Barzani (PDK) im vergangenen September sind sich auch Erdoğan und der irakische Ministerpräsident Haydar al-Abadi plötzlich nähergekommen. Die Präsenz der PKK in Sinjar nahe der syrischen Grenze und am Berg Kandil nahe der iranischen Grenze beeinträchtigt auch die irakische Souveränität, daher könnte al-Abadi einem Einsatz zustimmen.

 

 

 

Doch am 12. Mai sind im Irak Wahlen. Danach dürfte die Regierungsbildung schwierig werden. Es gilt als unwahrscheinlich, dass einer türkischen Operation zugestimmt wird, während die Regierungsbildung läuft. Die Wahl ist ohnehin heikel. Die größte Wahlvereinigung der Sunniten im Irak, die Koalition Muttahidun (Vereint für Reform), hat bereits die Verschiebung gefordert, vom Krieg versprengte Wähler sollten erst in ihre Wohnorte zurückkehren. Der Muttahidun gehört auch die eng mit der türkischen Regierung verwobene Irakische Turkmenenfront (ITF) an. Falls die Türkei bereits vor dem 12. Mai einmarschieren sollte, könnte dies die Wahl im Norden des Irak gefährden. Hinzu kommt, dass in der Türkei immer wieder Gebietsansprüche im ölreichen Nordirak angemeldet wurden.

Andererseits will Erdoğan, dass türkische Firmen am Wiederaufbau des Irak verdienen, und daher ist es unwahrscheinlich, dass man die irakische Regierung zu sehr gegen sich aufbringen wird. Damit ist eine Verschiebung des Einsatzes im Irak wahrscheinlich, was den Vorteil hat, dass man die türkische Öffentlichkeit länger im Kriegsmodus halten und zugleich die Frage nach dem Umgang mit Manbij und den zwei verbliebenen kurdischen Kantonen in Syrien aufschieben kann.

Unter dem Strich hat Erdoğan viel gewonnen. Ohne Putins Einverständnis hätte er nicht einmarschieren können, doch nun ist eine starke Präsenz der Türkei in Syrien ein Faktum, das sich nicht mehr so leicht rückgängig machen lässt und die Verluste der türkischen Armee sind überschaubar. Den Haushalt wird der teure Feldzug zwar belasten, aber wenn nicht zu viele weitere Abenteuer folgen, kann die Türkei das verkraften.

Kurdische Organisationen stehen einmal mehr als Verlierer da. Dass sich die YPG mit ihrem Öcalan-Kult unübersehbar als PKK-nah geoutet haben, war sicher nicht besonders klug. Aber im Zweifelsfall finden die Staaten der Region noch immer einen Vorwand, um kurdische Autonomiebestrebungen mit Gewalt zu unterdrücken. Der Bürgermeister der ostanatolischen Stadt Bitlis, Ömer Halisdemir, sitzt seit anderthalb Jahren in Untersuchungshaft, weil er einen getöteten PPK-Angehörigen mit dem städtischen Leichenwagen zum Friedhof bringen ließ. Entgegen aller Logik behauptet der türkische Generalstab, in Afrin auch den »Islamischen Staat« zu bekämpfen. Am Ende haben die YPG wenigstens eines richtig gemacht. Sie haben die Bevölkerung fliehen lassen und auch selbst auf einen aussichtslosen Häuserkampf in Afrin verzichtet.

Erdoğan hat mehrfach erklärt, er wolle Afrin seinen »wahren Herren« zurückgeben. Falls seine Hilfstruppen damit gemeint sein sollten, so nahmen die das wörtlich und begannen mit Plünderungen. Erdoğans Sprecher İbrahim Kalın stritt nicht ab, dass es zu Plünderungen kam, sagte aber, bereits annähernd 100 Kämpfer der FSA seien deswegen festgenommen worden. Kurden sehen hinter Erdoğans Worten die Ankündigung ethnischer Säuberungen. Die Türkei hat eine lange Tradition in der Umsiedlung bestimmter Bevölkerungsgruppen. Auch hat Erdoğan während der Offensive mehrfach angekündigt, syrische Flüchtlinge aus der Türkei könnten nach der Aktion zurückkehren. Bisher war Afrin allerdings ein Gebiet, aus dem kaum jemand fliehen musste. Damit wird die Ansiedlung syrischer Flüchtlinge, eventuell unter Verwendung von Geld der EU, faktisch eine Umsiedlungsaktion.

Nach Angaben aus verschiedenen Quellen haben kurz vor der Einnahme Afrins mindestens 150 000 Menschen die Stadt verlassen. Was aus ihnen wird, ist unklar. Nach Angaben des Vorsitzenden des Internationalen Roten Kreuzes (ICRC), Peter Maurer, verwehrt die Türkei der Hilfsorganisation den Zugang zu Afrin. Ein Verhalten, das nicht gerade dazu angetan ist, den Verdacht ethnischer Säuberungen zu entkräften.