Die Kooperative Palo Alto in Mexiko-Stadt ist von Verdrängung bedroht

Das letzte Dorf von Santa Fe

Reportage Von Virginia Negro

Mitten im modernen Finanz- und Geschäftsviertel Santa Fe in Mexiko-Stadt befindet sich die einst von Grubenarbeitern errichtete Kooperative Palo Alto. Grundstücke sind dort mittlerweile sehr begehrt, die Kooperative als Ort solidarischen Lebens könnte bald teuren Wohn- und Bürokomplexen weichen.

An Kilometer 14,5 der Straße vom Zentrum Mexiko-Stadts nach Toluca findet sich ein bizarrer Torbogen. »Willkommen in der Kooperative Palo Alto«, steht darauf. Geht man durch diesen Torbogen, eröffnet sich eine kleine Welt aus bunten, ein- bis zweistöckigen Häusern; auf den Straßen spielen Kinder, Frauen verrichten zusammen Handarbeiten. Ein kleines Dorf, das umgeben ist von Wolkenkratzern und ­Luxusanwesen, darunter der Hochhauskomplex Torre Arcos Bosques I und II mit dem riesigen, als »El Pantalón« (die Hose) bekannten Gebäude. Das Dorf befindet sich im Herzen des Finanz- und Geschäftsviertels Santa Fe, in dem zahlreiche global operierende Unternehmen ihren Sitz haben.

In Palo Alto leben auf rund 50 000 Quadratmetern ungefähr 1 500 Personen in etwa 325 Wohnungen. Die ersten Einwohner der Kolonie waren Grubenarbeiter, denn in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts, war Santa Fe noch kein von Hochhäusern und Luxusanwesen geprägtes Finanzzentrum. In der Gegend wurde Sand abgebaut und das Gelände diente als Abraumhalde. Viele Kleinbäuerinnen und -bauern, die Mehrheit davon aus dem Bundesstaat Michoacán, kamen in die Gegend, um in den Sandgruben zu arbeiten. Nach fast vier Jahrzehnten harter Arbeit in den Gruben drohte ihnen plötzlich Arbeitslosigkeit und die Vertreibung aus ihrem Zuhause, da der Besitzer des Geländes, Efrén Ledesma, entschieden hatte, die Sandgruben zu schließen und die wertvollen Grundstücke an Immobilienspekulanten zu verkaufen. »1969 schloss der Besitzer des Geländes die Gruben in der Hoffnung, es an die neuen Nachbarn aus der Oberschicht in Bosques de las ­Lomas zu verkaufen«, erzählt Enrique Ortiz. Der Architekt ist Mitglied der Organisation Habitat International Coalition in Lateinamerika, die den Entwicklungsprozess der Kooperative seit ihren Anfängen begleitet hat.

1973 entschieden die Familien, sich ihrer gewaltsamen Vertreibung zu ­widersetzen, und stellten sich gegen die eingesetzten Polizisten. Sie besetzten das Gelände und nahmen es in ihren Besitz. Um dort dauerhaft bleiben zu können, entschieden sie, sich als Kooperative zu organisieren, das heißt, dass das Gelände in Kollektivbesitz ist. Mittlerweile sind mehr als 40 Jahre vergangen, seit 1973 hält die Gemeinde alle zwei Wochen eine Versammlung ab, um das Leben der Kooperative zu regeln.

 

Bedrohte Utopie

Palo Alto scheint eine Antwort auf die Frage zu bieten, wie man ein »richtiges« Leben führen kann in Umständen, die von Ungleichheit und Prekarität geprägt sind, wie es sonst der Fall im heutigen Mexiko ist. Doch es herrscht nicht nur eitel Sonnenschein. Die Gemeinde ist weiterhin bedroht durch den kapitalistischen Verwertungsdruck und ihre Mitglieder bleiben prekarisiert. Dies wurde auch auf einer der Versammlungen im Februar deutlich. Der Gemeinschaftssaal auf dem zentralen Platz war überfüllt, viele derjenigen, die drinnen keinen Platz mehr gefunden hatten und nun draußen standen, reckten ihre Hälse Richtung Tür, um besser zu verstehen. »Die Situation ist ernst. Über eine Anzeige im Internet haben wir mitbekommen, dass das Gelände der Kooperative zum Verkauf stand«, sagt Luis Márquez, ein Anwalt und Einwohner Palo Altos. »Sofort ­haben wir ein Gebot abgegeben. Am nächsten Tag war die Anzeige nicht mehr gültig. Was wirklich ernst ist, ist die Strategie der Spannung, die sie nutzen. Diese erfundene Immobilienfirma, die das Gelände der Kooperative zum Verkauf anbot, ist allein Taktik, um uns auseinanderzubringen.«

Das Interesse am Gelände der Kooperative ist sehr groß. Jahrelang haben die in der Nachbarschaft ansässigen Firmen versucht, es der Kooperative abzukaufen, aber es ist durch eine Sicherheitsvorkehrung geschützt: den Kollektivbesitz. Gegenüber der »Hose«, am Rand der Kooperative Palo Alto, wird derzeit ein neues Megaprojekt gebaut: Agwa Bosques.

Vorangetrieben wird es von der Projektentwicklungsgesellschaft Desarrolladora del Parque, die Luxusappartments, einen eigenen Sportplatz und Büros für Unternehmen plant. Es sollen zwei Türme mit 45 Stockwerken mit Wohnungen gebaut werden, ein Bürogebäude mit 25 Stockwerken und ein unterirdisches, achtstöckiges Parkhaus – das Ganze noch höher und verdichter als beim Nach­barturm von gegenüber, Torre Arcos Bosques. Insgesamt sind mehr als 668 Wohnungen geplant, die mehr als 6,5 Millionen Pesos (rund 280 000 Euro) pro Einheit kosten sollen – eine Summe, die sich kaum jemand in der Kooperative leisten könnte.

»Ingenieure und Fachleute haben uns von den Risiken unterrichtet, die ein Nachbar solcher Größenordnung uns verursachen wird. Es geht um Einschränkungen der Lebensqualität, Probleme mit der Wasserversorgung, Erdrutsche, bis hin zu Lichtmangel, der vor allem Mitglieder der Kooperative betrifft, die direkt an der Grenze zum neuen Bau leben«, erklärt Victor*, der Teil des Komitees der Kooperative ist, das sich mit diesen Fragen beschäftigt. »Wir haben mehrere Gesuche an die Behörden gestellt. Nie wurden wir empfangen«, fährt er fort. Auch die Leitung des Projekts Agwa Bosques stellt sich taub und stumm. Auf mehrfach wiederholte journalistische Anfragen und Anrufe wurde nicht reagiert.

 

Abschottung aus Angst

Für die Art Urbanisierung, wie sie eine am Neoliberalismus orientierte Stadtentwicklung vorsieht, stehen Wohnprojekte wie Agwa Bosques exemplarisch. Dort wird der Wohnraum zu ­einem von Kameras privater Sicherheitsfirmen überwachten Ort, wo Begegnungen in der Nachbarschaft und im Viertel verschwinden zugunsten ­eines individualistischen Rückzugs in sogenannte gated communities, in ­Mexiko barrios cerrados (geschlossene Viertel) genannt. Die geographische Nähe lässt die Unterschiede der verschiedenen Modelle des Lebens und Wohnens in der Stadt noch deutlicher vervortreten: Hier die Kooperative Palo Alto, die das solidarische Leben zu erhalten sucht, dort die exklusive gated community.

Die Angst vor Gewalt war das Schlüsselelement für die Entstehung solcher abgeschlossener Wohnkomplexe; Abschirmung und Befestigung sind ihre wesentlichen Charakteristika. Solche Wohnmodelle haben sich vor allem in Städten verbreitet, die einen hohen Grad an sozialer Ungleichheit aufweisen – wie auch Mexiko-Stadt. Es sind Städte, in denen illegale Praktiken fast schon die Norm darstellen und das Misstrauen gegen die Gemeindeverwaltung zur Privatisierung bestimmter ­öffentlicher Aufgaben führt. In solchen Wohnkomplexen obliegen bestimmte Dienstleistungen privaten Unternehmen, die diese gewinnorientiert anbieten, während deren Nutzerinnen und Nutzer sich in Kundinnen und Kunden verwandeln. Die wichtigste Dienstleistung ist die »Produktion von Sicherheit«, die nicht nur einen geschützten Raum für den Verkehr von Gütern und Personen schafft, sondern auch stofflich und symbolisch ausschließende Grenzen setzt.

»Wenn ich aus dem Haus gehe, bewege ich mich ausschließlich im Auto und normalerweise fahre ich damit ins Einkaufszentrum. Ich gehe nicht gern in die Stadt, das ist gefährlich«, sagt Cinthia, die im Club de Golf de Bosques de Las Lomas wohnt, einer der ausgedehnteren und exklusiveren geschlossenen Wohnanlagen der Hauptstadt, die im selben Viertel wie die Kooperative Palo Alto liegt. »Ich kann es mir erlauben, für meine Sicherheit zu zahlen. Falls ich es nicht tue, wer macht es dann für mich?« fragt Rita*, eine andere Bewohnerin des Club de Golf de Bosques de Las Lomas. »Hier im Club de Golf haben wir für alle Mitglieder einen Sicherheitsdienst engagiert und einen für die Verwaltung unserer Wohnanlage. Und dann haben wir noch unseren Wachmann, den wir selbst engagiert haben, da wir in einem Haus wohnen, nicht in einer Wohnung.«

 

Von Angesicht zu Angesicht

Die Kooperative Palo Alto ist von solchen exklusiven Wohnanlagen umzingelt. In Palo Alto wird der öffentliche Raum ganz anders genutzt – intensiver. Der Autoverkehr ist sehr reduziert und es gibt eine Solidarität, die auf Begegnungen von Angesicht zu Angesicht basiert, auf dem zentralen Platz, den Märkten oder dem Fußballfeld. Die Nachbarinnen in der Kooperative lassen die Türen ihrer Häuser fast die ganze Zeit offen.

Der Anwalt Luis Márquez und seine Frau Fabiola Cabrera laden zu sich ins Hause ein. Wie ihr Mann ist auch Fabiola Cabrera sehr aktiv in der Kooperative, sie ist eine der Sprecherinnen der Teilhaber, Kinder und Enkel der ehemaligen Sandgrubenarbeiter. Bevor sie sich um ihren Besuch kümmern können, müssen Cabrera und Márquez aber noch einmal kurz weg. Sie kämen gleich nach, zuerst müssen beide ihre Kinder zu einem Baseballspiel bringen.

Samstags und sonntags füllt sich die Kooperative, ihr zentraler Platz und das Fußballfeld sind voller Menschen. Essensstände und spielende Kinder prägen das Geschehen. »Die Feste sind sehr wichtig für die Gemeinde«, erklärt Márquez, »Geburstage und jegliche Veranstaltung feiern wir alle zusammen. Es ist Tradition und zudem eine Form, um den Gemeinschaftssinn zu stärken.«

»Wir kennen uns alle«, sagt Imelda, eines der ältesten Mitglieder der Kooperative. »Wir haben zusammen gelebt und vertrauen einander. Wir haben zusammen gekämpft!« Auf einer der alle zwei Wochen stattfindenden Gemeindeversammlungen waren es Imelda und ihre Freundinnen, die begeistert vorgeschlagen haben, ein »Haus des älteren Erwachsenen« zu gründen, in dem sie sich treffen, einen Garten pflegen, Yoga machen und zusammen Filme schauen können. »Dank der Hilfe der anderen haben wir das geschafft. Wir haben einen Kredit aufgenommen und das gekauft, was uns gefehlt hatte«, sagt Imelda.

»Sie üben ihre Rechte aus und sichern so den Verbleib künftiger Generationen, die sehr wahrscheinlich keine andere Möglichkeit haben werden, an würdigen Wohnraum zu kommen. Sie können auf Räume und praktischen Gemeinsinn zählen. Kollektive Gerechtigkeit wird in Palo Alto in gewisser Weise Wirklichkeit«, sagt Maria Silvia Emanuelli von der HIC. Welche Folgen das Megaprojekt Agwa Bosques für die Zukunft der Kooperative haben wird, ist allerdings noch ungewiss.
*Name von der Redaktion geändert