Auf russischen WM-Baustellen herrschen miserable Arbeitsbedingungen

Schuften wie ein Weltmeister

Die Arbeitsbedingungen auf den Baustellen der Fußball-WM in Russland sind miserabel, geltendes Recht wird ständig verletzt. Die Fifa reagiert mit halbherzigen Verbesserungsvorschlägen.

Sicherheitsleute umstellten im September 2015 Arbeiter an der WM-Stadionbaustelle in Kaliningrad, als diese sich bei einem Besuch von Fifa-Offiziellen kritisch über die verspätete Auszahlung ihrer Löhne äußern wollten. Die Arbeiter sollten dem Fifa-Abgesandten nicht zu nahe kommen. Nichtrussische Arbeiter hätten sich während des Besuchs in ihren Schlafräumen aufhalten müssen, berichtete die

Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW). Als an der Stadionbaustelle in Jekaterinburg winterliche Temperaturen zwischen minus 25 und minus 30 Grad Celsius herrschten, schufteten Arbeiter neun Stunden täglich mit nur einer Aufwärmpause. Die internationale Arbeitsorganisation (ILO) empfiehlt bei Bauarbeiten in kalten Temperaturen regelmäßige Pausen, da sonst Sicherheit und Gesundheit gefährdet seien; nach dem russischem Gesetz müssen Arbeitgeber bei Kälte für die Sicherheit der Arbeiter sorgen.

Und als in Kaliningrad vier Arbeiter mit sechsmonatiger Verspätung ihre Verträge erhielten, mussten sie feststellen, dass diese nicht russischem Arbeitsrecht entsprachen. Außerdem stand darin nur die Hälfte des versprochenen Lohns.

Aussagen von Arbeitern auf WM-Baustellen wie die eingangs genannten hat HRW erstmals im Juni 2017 veröffentlicht. Sie zeichnen ein Bild systematischer Ausbeutung. Die Organisation berichtete, dass einige Arbeitgeber Löhne entweder verspätet, nicht vollständig oder gar nicht gezahlt hätten, außerdem stellten sie ungültige oder gar keine Verträge aus. Migrantische Bauarbeiter ohne Arbeitsvertrag seien einem noch größerem Risiko ausgesetzt, weil sie wegen Verstoßes gegen das russische Migrationsgesetz ausgewiesen werden können; sollten sie sich gegen Ausbeutung wehren, kann der Arbeitgeber sie leicht melden.

Das norwegische Magazin »Josimar« berichtete 2017 von 110 nord­koreanischen Arbeitern, die in sklavenartiger Beschäftigung für neun Euro am Tag beim Stadion­­bau in Sankt Petersburg arbeiteten.

Bei Streiks und Protesten gegen die schlechten Arbeitsbedingungen gab es Fälle von Bedrohungen, Festnahmen oder Kündigungen, stellte HRW ferner fest. Für den Bericht hat die Organisation in den Jahren 2016 und 2017 insgesamt sechs WM-Baustellen besucht, die Feststellungen passen zu den Beobachtungen bei vorangegangenen Fußballweltmeisterschaften: Beim Bau von WM-Stadien herrschen ausgesprochen üble Arbeitsbedingungen.

Bei der Kritik an der diesjährigen WM in Russland spielt die Situation der Bauarbeiter eine geringe Rolle. Westeuropäische Medien, die vor der WM kritisch aus und über Russland berichten, haben meist andere Themen: Doping, Homophobie und die autoritäre Politik von Präsident Wladimir Putin. Über Homophobie in Russland berichten deutsche Medien regelmäßig. Die verzögerte Akkreditierung des ARD-Doping-Experten Hajo Seppelt sorgte für eine Diskussion über die Pressefreiheit in Russland. Über soziale Themen wie Armut, fehlenden Zugang zu Bildung oder unzureichende Gesundheitsversorgung erfährt man in deutschen Medien dagegen wenig.

Verglichen mit den Zuständen in Katar, wo die WM 2022 stattfinden wird, erscheint Russland zugegebenermaßen fast harmlos: Mit mutmaßlich mehr als 1 000 Toten auf WM-Baustellen seit 2010 führt Katar die Liste der Arbeitsrechtsverletzungen bei Vorbereitungen zu Fußballweltmeisterschaften an. Dazu kam das als eine Form der modernen Sklaverei bezeichnete sogenannte Kafala-System, bei dem jeder ausländische Arbeitnehmer einen einheimischen Bürgen benötigt, der für dessen Aufenthaltsstatus verantwortlich ist. Dieses System wird in unterschiedlicher Form in vielen arabischen Ländern praktiziert, außer in Katar in den Golfstaaten Saudi-Arabien, Bahrain, Kuwait, Oman und den Vereinigten Arabischen Emiraten, im Irak sowie in Jordanien und im Libanon. Da der in diesem System verantwortliche Bürge in der Regel der Arbeitgeber ist, entsteht ein System extremer Abhängigkeit.

 

Bei der WM 2014 in Brasilien gab es zwar weit weniger Baustellentote als in Katar (mindestens acht), zugleich sorgten aber Bauarbeiterstreiks international für Sorgen, ob die Spiele pünktlich beginnen könnten, wodurch wenigstens nebenbei die sozialen Folgen der Spiele zum Thema wurden.

Die Lage der russischen Arbeiter ist, an den Todesopfern gemessen, noch deutlich schlechter, als sie in Brasilien war, wenn auch wesentlich besser als in Katar. Bis April 2018 hat die Internationale Gewerkschaft der Bau- und Holzarbeiter (BWI) 21 Tode von Bauarbeitern beim WM-Stadionbau erfasst. Die Sicherheits- und Gesundheitsstandards würden »anhaltend und ernsthaft« unterlaufen, so die Gewerkschaft. Sogar das Thema der modernen Sklaverei auf WM-Baustellen ist Russland nicht fremd. In einer investigativen Recherche vom Frühjahr 2017 berichtete das norwegische Magazin Josimar von 110 nordkoreanischen Arbeitern, die in sklavenartiger Beschäftigung für neun Euro am Tag auf der Stadionbaustelle in Sankt Petersburg gearbeitet hätten. Sie waren laut der Recherche in Wohncontainern hinter Stacheldraht untergebracht, ihre Pässe wurden eingezogen, ein Großteil ihres Lohns soll angeblich an die nordkoreanische Regierung ausbezahlt worden sein.

Die skandinavischen Fußballverbände stellten nach den Enthüllungen eine Anfrage an die Fifa. Präsident Gianni Infantino betonte in einem Antwortschreiben, dass die »Fifa die oft entsetzlichen Arbeitsbedingungen verurteilt«. Der Verband werde sich kümmern. Anschließend wurde es still um das Thema. Die Nordkoreaner sollen, so Josimar, auf eine andere Baustelle gebracht worden sein. Mehrere Anfragen von Menschenrechtsorganisationen hat der Verband bislang nicht beantwortet.

Die Fifa könnte, wenn sie wollte, durchaus etwas bewegen. In Katar zwang die öffentliche Diskussion über den Stadionbau das Land zu einer zumindest geringfügigen Verbesserung des Kafala-Systems. Reformen, die im Dezember 2016 in Katar eingeführt worden waren, wurden allerdings von Amnesty International als unzureichend kritisiert. Nach den olympischen Spielen in Sotschi wurden Arbeitern auf Druck nachträglich Löhne ausgezahlt. Langfristig ist der Einfluss der Sportverbände jedoch begrenzt. Eine durchgehende Kontrolle der Zustände im Gastgeberland können sie nicht leisten; so bleiben nur Mahnungen, Forderungen und politischer Druck.

Im Mai 2017 hatte der Weltfußballverband erstmals eigene Richtlinien für Menschenrechte eingeführt. Die Verantwortung für Menschenrechte steht seither in den Fifa-Statuten und ein unabhängiges Gremium für Menschenrechte soll die Organisation künftig beraten. Diese Entwicklung zeigt, dass mittlerweile auch ein Weltkonzern wie die Fifa gezwungen ist, das Thema zumindest in der Theorie zu berücksichtigen. In der Praxis ändert das bislang allerdings nicht viel. »Die Fifa hat die russische Regierung in öffentlichen Stellungnahmen zur WM-Vorbereitung ständig gelobt, trotz der dauerhaften Bedenken wegen der Menschenrechtslage«, schrieb Human Rights Watch im Mai.

Seit April 2016 hat der Weltfußballverband ein Monitoring-System, das die Situation auf den russischen WM-Baustellen überwachen soll. Nach Fifa-Angaben besuchten Abgesandte vierteljährlich die Stadionbaustellen und interviewten je mindestens 25 zufällig ausgewählte Arbeiter. Die Inspektionen sind angekündigt. Was nicht gesehen werden soll, lässt sich also gut aufräumen. Die Baufirmen erhielten nach den Besuchen Berichte mit Verbesserungsvorschlägen. Sollten sie diese nicht befolgen, werde man das Thema »auf höchster Ebene staatlicher Autoritäten« vorbringen, hieß es seitens der Fifa. Viel Handhabe, die einen russischen Bauunternehmer das Fürchten lehren, bedeuten die Ermahnungen freilich nicht.

Informationen darüber, was genau die Abgesandten beanstandeten oder bewirkten, hat die Fifa bislang nicht veröffentlicht. Vor allem hat der Verband ein Interesse, dass die Stadien pünktlich fertig werden. Die Sklavenarbeit der Nordkoreaner fiel den Abgesandten hingegen offenbar nicht auf. Die dauerte nämlich bis mindestens 2017 an. Aber wie schon Franz Beckenbauer über die Arbeitsbedingungen auf WM-Baustellen in Katar sagte: »Also, ich habe noch keinen einzigen Sklaven gesehen.«