In St. Petersburg gibt es eine viersprachige Zeitung zentralasiatischer Arbeitsmigrantinnen

Selbstorganisation in vier Sprachen

Reportage Von Volodya Vagner

In Russland arbeiten Millionen Migrantinnen und Migranten aus den postsowjetischen Republiken Zentralasiens. Viele leiden unter ausbeuterischen Arbeitgebern, rassistischer Gewalt, korrupten Polizisten sowie patriarchalen Strukturen. In Sankt Petersburg riefen junge Frauen das Projekt »Gul« ins Leben – eine Lokalzeitung in vier Sprachen Zentralasiens von Migrantinnen für Migrantinnen.

Es ist ein nasser Frühlingstag in Sankt Petersburg. Auf dem Sennoj-Basar läuft das Regenwasser in kleinen Bächen von den über die Waren gespannten Plastikplanen. Safina, 21 Jahre alt, und ihre 19jährige Schwester Anisa bahnen sich mit flinken Schritten einen Weg durch die Pfützen, systematisch von ­einer Händlerin zur nächsten gehend. Nach einem kurzen Wortwechsel, mal auf Russisch, mal auf Tadschikisch, reichen sie ihnen eine Zeitung und eilen weiter. »Viele sind erstmal etwas skeptisch, aber wenn sie dann verstehen, dass die Zeitung kostenlos ist, nehmen die meisten gerne eine entgegen«, ­erzählt Safina mit einem Lächeln. Die Zeitung, die die beiden verteilen, heißt Gul und richtet sich an die zentralasiatischen Migrantinnen in Sankt Petersburg. Im Gegensatz zu Millionen anderer Tadschikinnen und Tadschiken sind die beiden Schwestern nicht zum Arbeiten, sondern zum Studieren nach Russland gekommen. Ihr Vater hat ­allerdings früher, wie viele seiner Landsleute, in Russland auf dem Bau gearbeitet. Aus Sicherheitsgründen ziehen es Safina und Anisa vor, dass ihr Nachname nicht veröffentlicht wird.

»Leider lassen sich die betroffenen Migranten oft viel gefallen, bevor sie sich wehren, und die russischen Gewerkschaften sind unter Arbeits-migranten nicht besonders aktiv.«
Andrej Jakimow, PSP-Fonds

Die meisten Verkäuferinnnen und Verkäufer auf dem Basar kommen aus den drei ehemaligen Sowjetrepubliken Kirgistan, Tadschikistan und Usbekistan. Als die Sowjetunion Anfang der Neun­ziger zerfiel, bedeutete dies besonders für die Republiken an der Peripherie des Riesenreichs den wirtschaftlichen Zusammenbruch. Bis heute sind diese Länder von Armut geprägt. Um ihre Familien zu versorgen, arbeiten Millionen von kirgisischen, tadschikischen und usbekischen Staatsbürgern in den relativ wohlhabenden russischen Großstädten, besonders in Moskau und Sankt Petersburg. Nur wenige Länder der Welt sind so von Rücküberweisungen der Arbeitsmigranten abhängig wie jene postsowjetischen Staaten. Auch die russische Wirtschaft ist auf billige Arbeitskräfte aus diesen Ländern angewiesen.

»Die Zahl der Arbeitsmigranten aus Zentralasien erreichte 2014 ihren bis­herigen Höchststand«, sagt Sergej Abaschin, der seit Jahren an der Europäischen Universität in Sankt Petersburg zu dem Thema forscht. »Zu dem Zeitpunkt arbeiteten ungefähr eine halbe Million kirgisische, über eine Million tadschikische und etwa zwei Millionen usbekische Staatsbürger in Russland. Als Folge der durch die Sanktionen verursachten Wirtschaftskrise verließen etwa ein Viertel dieser Arbeitsmigranten Russland. Seitdem werden es nun langsam wieder mehr. Alle diese Angaben sind aber mit Vorsicht zu ­genießen«, fügt Abaschin hinzu, »die Statistiken, mit denen wir hier arbeiten, sind alle ziemlich ungenau.«

 

Arbeiten unter schwierigen Bedingungen

Das Leben in Russland ist für die Arbeitsmigrantinnen und -migranten in vielerlei Hinsicht schwierig. Ihre Arbeitstage sind meist lang und nicht selten gefährlich. Die Mehrheit arbeitet in Branchen mit niedrigen Löhnen, in denen oft körperliche Arbeit gefragt ist, als Bauarbeiter, Fahrer oder Straßenfeger, sowie im Dienstleistungssektor, als Putzkräfte, Verkäufer, Köche oder Kellner. Arbeitgeber wissen allzu gut, wie prekär die Existenz vieler Migrantinnen und Migranten ist, die Anstellungsbedingungen sind oft dementsprechend ausbeuterisch.

Auch rassistische Übergriffe von ­organisierten Faschisten drohen den Arbeitsmigranten. Der Taxifahrer Rustam*, der ursprünglich aus einem Vorort der tadschikischen Hauptstadt Duschanbe kommt, erzählt, dass er sich bis vor ein paar Jahren nicht getraut habe, Nachtschichten zu übernehmen. Zu groß sei das Risiko ge­wesen, dass eine nächtliche Fahrt in einen entlegenen Randbezirk in einem von Neonazis geplanten tödlichen Hinterhalt endet. Obwohl sich der Nationalismus in Russland seit der Ukraine-Intervention ­inzwischen mehr auf die ­Außenpolitik als auf die ­Migration konzentriert, bleibt rassistische Gewalt eine ständige Bedrohung.
Die russischen Behörden sind oft keine Hilfe. Viele Migrantinnen und Migranten sind der Polizei gegenüber eher misstrauisch, und das aus gutem Grund. Da auch kleinste Regelver­stöße, wie bei Rot über die Straße zu gehen, zu Abschiebung und Einreiseverbot führen können, werden Migrantinnen und Migranten regelmäßig von korrupten Polizistinnen und Polizisten erpresst, die mit Bestechungsgeld ihr Gehalt aufbessern wollen.

Als sie ihre Zeitungen verteilt haben, setzen sich Safina und Anisa in ein ­tadschikisches Restaurant am Rand des Marktgeländes. Bei grünem Tee, nach zentralasiatischer Art in Schalen statt Tassen serviert, erzählen sie, warum das Zeitungsprojekt wichtig ist. »Viele haben Angst, abgeschoben zu werden«, sagt Anisa, »... und trauen sich deshalb nicht, mit ihren Chefs über die Arbeitsbedingungen zu reden«, führt Safina den Gedanken ihrer Schwester zu Ende. Immer wieder passiert es, dass Arbeitsgeber ihren migrantischen Beschäftigten unter Vorwänden die Pässe abnehmen. Da Ausländer in Russland einer ständigen Ausweispflicht unter­liegen, sind sie den Arbeitgebern ausgeliefert. »Es wurde vor kurzem ein solcher Fall bekannt«, sagt Anisa. »Dutzende usbekische Fabrikarbeiter wurden über Monate in einem Petersburger Betrieb festgehalten und zur Arbeit ­gezwungen, ohne den versprochenen Lohn zu bekommen.«

 

Praktische Solidarität


In der Zeitung Gul wird unter anderem über solche Fälle berichtet und darüber, wo man sich bei Bedarf Hilfe holen kann. In einer kürzlich erschienenen Ausgabe ging es zum Beispiel um den Petersburger »Wohltätigkeitsfonds zur Unterstützung und Entwicklung von Bildungs- und Sozialprojekten« (PSP-Fonds), der verschiedenen sozial schwachen Gruppen, darunter Migranten, mit Rat und Tat zur Seite steht. Der Koordinator der Migrantensolidaritätsarbeit beim PSP-Fonds ist Andrej Jakimow. Er engagierte sich zuletzt auch im Fall der usbekischen Fabrikarbeiter, von denen Anisa erzählte. »Leider kommen solche Fälle immer wieder vor«, erzählt er mit ernster Miene in einem Petersburger Café. »Was wir tun können, ist, Dolmetscher zu beschaffen, juristisch beizustehen und dafür zu sorgen, dass die zuständigen Behörden eingeschaltet werden. Leider lassen sich die betroffenen Migranten oft viel gefallen, bevor sie sich wehren, und die russischen Gewerkschaften sind bei Arbeitsmigranten nicht besonders ­aktiv.«

»Das Patriarchat ist in unseren Herkunftsländern fest verankert. Das wirkt sich auch auf das Leben in der Migration aus.« Safina von der Zeitung »Gul«

Dabei hat es schon einzelne Versuche gegeben, Arbeitsmigranten zu organisieren. Ein solcher Versuch war zum Beispiel die Gewerkschaft der »Dworniki« vor einigen Jahren. Dwornik, abgeleitet vom russischen Wort für Innenhof, bedeutet eine Mischung aus Straßenfeger und Hausmeister, und ist ein ­typischer Migrantenjob. In bunten ­Reflexjacken halten die Dworniki die Straßen, Bürgersteige und historischen Innenhöfe der Metropole am Fluss Newa sauber und im Winter eisfrei. »Initiiert wurde die Dwornik-Gewerkschaft von einer Frau aus Zentralasien, die vorher in der Nowoprof, einer der wenigen freien russischen Gewerkschaften, aktiv war«, erinnert sich Jakimow. »Die haben großartige Arbeit geleistet, aber als die Projektfinanzierung endete, verlief das Ganze leider im Sand«, fügt er mit einem Seufzer hinzu.

Dass es ausgerechnet junge Frauen sind, die das Zeitungsprojekt Gul ­betreiben, ist für Jakimow nicht überraschend. »In der Geschlechterperspektive erleben wir hier immer wieder eine interessante Dynamik«, sagt er. Obwohl Frauen unter den Arbeitsmigranten in der Minderheit sind, seien es gerade sie, die sich an den PSP-Fonds wenden, um Unterstützung zu bekommen. »Wenn Männer kommen, dann tun sie das fast ausschließlich in ihrer eigenen Sache und mit arbeitsbezogenen Problemen«, erzählt Jakimow. »Frauen kommen gewöhnlich mehrmals, mit unterschiedlichen Problemen, und oft auch als Vertreterinnen für ­andere: Verwandte, Bekannte, Landsleute. Auf diese Weise werden sie nicht ­selten von Opfern zu Aktivistinnen.«
Mehr als eine Blume

Es ist diese Tendenz zu solidarischem Handeln bei Migrantinnen, die das ­Zeitungsprojekt Gul sowohl verkörpert als auch fördert. Das Wort gul bedeutet in verschiedenen zentralasiatischen Sprachen »Blume« und ist gleichzeitig ein in der Region weit verbreiteter Mädchenname. Der Name des Blatts ist treffend, nicht nur weil es sich vor ­allem an Migrantinnen richtet, sondern auch weil es von Migrantinnen pro­duziert wird. Die Redaktion der monatlich erscheinenden Zeitung besteht aus elf jungen Frauen, die zwischen 16 und 26 Jahren alt sind. Zwei von ihnen sind Russinnen, die anderen kommen wie die meisten zentralasiatischen Arbeitsmigrantinnen in Russland aus Kirgistan, Tadschikistan und Usbekistan. Auch die Zeitung selbst ist viersprachig – alle Texte werden auf Russisch, Kirgisisch, Tadschikisch und Usbekisch gedruckt.

»Das Patriarchat ist in unseren ­Herkunftsländern fest verankert«, sagt Safina im tadschikischen Restaurant am Sennoj-Basar und verweist auf die Wichtigkeit des Projekts Gul. »Als Frau soll man sich unterordnen. Das wirkt sich auch auf das Leben in der Migra­tion aus, und weibliche Arbeitsmigranten haben andere Alltagsprobleme als männliche.« Safina hält inne, wirft ­einen kurzen Blick auf eine Gruppe tadschikischer Männer, die sich am Nachbartisch laut unterhalten, und fährt dann mit gedämpfter Stimme fort: »Wenn eine Frau zum Beispiel Opfer von häuslicher Gewalt wird, wird erwartet, dass sie das schweigend duldet, statt Hilfe zu suchen. In der nächsten Nummer der Gul geht es deshalb konkret um Frauenhäuser und ähnliche ­Beratungsstellen.« Ihre Schwester Anisa nickt und fügt hinzu: »Das Gute ist, dass Frauen in miesen Situation oft besser darin sind, strategisch zu handeln, als Männer. Mit unserer Zeitung wollen wir Migrantinnen helfen, auf eigenen Beinen zu stehen und ihre Rechte zu verteidigen.«

 

* Name geändert von der Redaktion