Die Linkspartei buhlt um verlorene Wählerstimmen

Eine Frage der Zielgruppe

Eine neue linke Sammlungsbewegung um Sahra Wagenknecht soll an die AfD verlorene Wähler ansprechen. Offene Grenzen für Menschen und Kapital gelten als Inbegriff von Neoliberalismus.

Die mehrteilige Dokumentation »Ungleichland«, die im Mai in der ARD ausgestrahlt wurde, behandelt soziale Ungleichheit in Deutschland aus verschiedenen Perspektiven. Wirtschafts­nobelpreisträger, Soziologen und Vermögensforscher kommen darin zu Wort. Der Befund der Dokumentation ist simpel: »In einem der reichsten Länder der Erde geht es ungleich zu. Die Reichen setzen sich ab, die Armen sind abgehängt. Die Mittelschicht kämpft darum, den Status zu erhalten, statt wie früher durch Arbeit und Leistung den Aufstieg zu schaffen.« Letztlich gefährde die Ungleichheit nicht nur den so­zialen Frieden, sondern auch die Demokratie.

Auch Sahra Wagenknecht, die Bundestagsfraktionsvorsitzende der Linkspartei, kommt in »Ungleichland« zu Wort: Es sei ein Problem für die Demokratie, dass die Unternehmen die Macht haben. Kein Thema ist für die Linkspartei so wichtig wie die soziale Frage. Als Bundeskanzlerin Angela Merkel sich vergangene Woche eine Stunde lang den Fragen der Abgeordneten im Plenum des Deutschen Bundestags stellte, konzentrierten sich die Fragesteller der Linkspartei auf die Ungleichheit. Jan Korte, der erste parlamentarische Geschäftsführer der Fraktion, verwies darauf, dass 2,5 Millionen Kinder in Armut leben, es etwa 1,2 Millionen Hartz-IV-Aufstocker und knapp eine Million Leiharbeiter gebe. »Glauben Sie, dass das irgendetwas mit Ihrer Politik zu tun haben könnte?« fragte er die Kanzlerin.

Man könnte meinen, dass die Bedingungen für die Linkspartei günstig seien. Soziale Ungleichheit, Armut sowie prekäre und befristete Arbeit nehmen immer weiter zu. Zugleich liegt die SPD, als alte Konkurrentin der Linkspartei, in Umfragen inzwischen regelmäßig unter ihrem Ergebnis bei den Bundestagswahlen im September, bei denen sie nur knapp üb er 20 Prozent der Wählerstimmen gewann. Bei einer im April veröffentlichten Umfrage von Emnid kam die SPD nur noch auf 16 Prozent Zustimmung.

In der Linkspartei selbst hält sich die Begeisterung für eine Sammlungsbewegung in Grenzen.

Dennoch schafft es die Linkspartei nicht, die Massen zu erreichen. Vielmehr scheint es, als wäre es für ihre Wahlergebnisse unerheblich, was in der Gesellschaft, im Parlament, in Europa oder der Welt passiert und was Funktionäre dazu sagen, ja sogar, wie ihre Funktionäre heißen. Seit der Bundestagswahl 2017 liegt die Linkspartei unverändert in jeder bundesweiten Umfrage zwischen neun und elf Prozent der Wählerstimmen, und auch in den Jahren zuvor gab es kaum relevante Abweichungen.

Bereits seit dem Zusammenschluss von PDS und WASG im Jahr 2007 lag die Linkspartei stets zwischen acht und zwölf Prozent. In den vergangenen zehn Jahren wurden die Grünen als Volkspartei gehandelt – und stürzten ab. Die FDP erreichte bei der Bundestagswahl 2009 fast 15 Prozent und flog schon eine Wahl später aus dem Bundestag, um noch eine Wahl später mit 10,7 Prozent wieder einzuziehen. Mittlerweile gibt es eine weitere Partei im Parlament. Die Wahlergebnisse der Linkspartei bewegten sich während dieser Zeit nicht.

Warum kommt die Linke nicht in Schwung? Diese Frage treibt viele in der Partei um. Beim Parteitag am Wochenende schwebte sie über allem. Auch Sahra Wagenknecht stellt sie sich, bereits seit Monaten. Ihr Lösungsansatz ist eine »Sammlungsbewegung«. Damit will sie auch jenseits der Linkspartei Mitstreiter für einen sozialen Aufbruch sammeln. In den Debatten über diesen Vorschlag werden immer wieder Bernie Sanders in den USA, Jeremy Corbyn in Großbritannien und vor allem Jean-Luc Mélenchon in Frankreich als mögliche Vorbilder genannt.

In der Linkspartei selbst hält sich die Begeisterung für eine Sammlungsbewegung in Grenzen. Die Parteivorsitzende Katja Kipping wies den Vorschlag bereits im Januar zurück. Man müsse die Partei stattdessen mit einem »Projekt 15 Prozent« stärken. Auch Gregor Gysi äußerte sich vor dem Parteitag skeptisch: »Man kann so was nicht von oben beschließen. Und der Druck von unten ist nicht da.« Unbeeindruckt von diesen Einwänden will Wagenknecht gemeinsam mit ihrem Ehemann Oskar Lafontaine mit ihrer Bewegung im September beginnen. Die Kritik an ihrem Projekt beschrieb sie in einem gemeinsam mit dem Dramaturgen Bernd Stegemann am 7. Juni veröffentlichten Beitrag in der Zeit als »Beweis für das Zusammenspiel zwischen linker Moral und neoliberalen Interessen«.

 

Dabei sind Sammlungsbewegung und »Projekt 15 Prozent« Ausdruck desselben Wunschs. Die Linkspartei will endlich Bedeutung gewinnen. Die Auseinandersetzung um den Weg dorthin ist strategischer und inhaltlicher Natur. Doch vor der Strategie müsste eigentlich die Analyse stehen.

Der Ökonom Thomas Piketty, der mit seinem Buch »Das Kapital im 21. Jahrhundert« zu einem Popstar der europäischen Linken wurde, sagte in der ARD-Dokumentation »Ungleichland«: Bei starker Ungleichheit bestehe »die Gefahr, dass diese Entwicklung eine Art Groll der unteren Schichten, auch der Mittelschichten, gegen die Globalisierung nährt«. Damit einher gehe die Ablehnung von EU und Einwanderung. Zu einer Analyse der Wahlergebnisse der Linkspartei gehört die Erkenntnis, dass die Wählerschaft sich verändert hat. Einer im Februar veröffentlichten Studie der Hans-Böckler-Stiftung zufolge ist die Linkspartei mittlerweile mit 31 Prozent am beliebtesten bei Menschen aus der »kritischen Bildungselite«. So nennen die Forscher urbane, global denkende – und zumeist junge – Linke aus der Mittelschicht. Bei der als »abgehängtes Prekariat« bezeichneten Gruppe ist die AfD mit 39 Prozent die beliebteste Partei. Die Linke schafft es in dieser Gruppe gerade mal auf neun Prozent. Beim abgehängten Prekariat handelt sich um die Schwächsten der Gesellschaft. Diese Menschen hätten das starke Bedürfnis nach einem umfassenden Sozialstaat, der absichert und versorgt; zugleich herrschte in dieser Gruppe eine ausgeprägt autoritäre Haltung, Chauvinismus nach außen und eine Ablehnung von Migration vor, so die Studie.

Wagenknecht ist seit Jahren dafür bekannt, einer restriktiveren Migrations- und Flüchtlingspolitik das Wort zu reden. Bei der vorigen Wahl hat das allerdings nicht messbar geholfen, die Prekären wählten lieber die AfD.

Wagenknecht will die ehemaligen Wählerinnen und Wähler der Linkspartei zurückgewinnen. Dabei geht es ihr ums Ganze: »Wenn wir die weniger Wohlhabenden nicht mehr erreichen, ist die Linke gescheitert«, sagte sie dem Berliner Tagesspiegel. Ihr französisches Vorbild Mélenchon setzt auf einen linksnationalistischen Kurs mit populitischen Elementen und ist da relativ erfolgreich. In einem nicht namentlich unterschriebenen Programmapier für die linke Sammlungsbewegung mit dem Titel »#fairland« heißt es über die »Flüchtlingskrise«: »Wir halten die Art und Weise, wie die Regierung Merkel mit den Herausforderungen umgegangen ist, für unehrlich und inakzeptabel.« Probleme der »ohnehin Benachteiligten« hätten sich dadurch verschärft, das gesellschaftliche Klima sei vergiftet worden. Was aus dieser Diagnose für eine Migrations- und Flüchtlingspolitik folgen soll, ist in dem Papier nicht ausgeführt.

An anderer Stelle heißt es lediglich, man wolle ein »Deutschland in einem geeinten Europa souveräner Demokratien, bei Wahrung kultureller Eigenständigkeit und mit Respekt vor Tradition und Identität«. Neben den Fragen der Einwanderung und der nationalen Identität ist in dem Papier auch von »mehr Personal und bessere Ausstattung von Polizei und Justiz« die Rede.

Wagenknecht ist seit Jahren dafür bekannt, einer restriktiveren Migrations- und Flüchtlingspolitik das Wort zu reden. Bei der vorigen Wahl hat das allerdings nicht messbar geholfen, die Prekären wählten lieber die AfD. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass die Linkspartei gegenüber der vorigen Wahl 22 Prozentpunkte aus der Gruppe der Abgehängten verloren hat. Insgesamt macht diese Gruppe, zu der der Studie zufolge etwa fünf Prozent aller Wahlberechtigten zählen, zwar nur eine Minderheit der AfD-Wählerschaft aus, es ist aber genau jener Teil, den die Linkspartei mutmaßlich an die AfD verloren hat.

In seinem Bestseller »Rückkehr nach Reims« schrieb der französische Soziologe Didier Eribon, die politische Linke habe aufgrund eigener Fehler verloren. Die reale Ausbeutung sei zusammen mit dem Begriff der Klasse aus dem Vokabular der Linken verschwunden. Eribon unterstützt Mélenchon, doch dessen »nationale Sym­bolik« nennt er einen Riesenfehler. Anfang Juni warnte Eribon in einem Interview im österreichischen Standard: »Wenn man das Vokabular des Feindes teilt, dann bekämpft man ihn nicht länger, sondern stärkt ihn sogar noch.«

Kipping steht im Gegensatz zu Wagenknecht für eine eher internationalistische Politik und offene Grenzen. Im Leitantrag des Parteitags findet sich ein Bekenntnis zur »solidarischen Einwanderungsgesellschaft«. Eine Antwort darauf, wie man die Abgehängten wieder einsammeln könne, gibt es in dem Papier allerdings auch nicht. Die Linkspartei scheint keine gemeinsame Antwort darauf zu haben. Solange es die nicht gibt, ist sie zur Stagnation verdammt – im besten Fall. Eine Option für einen Politikwechsel gibt es in dieser Konstellation jedenfalls nicht.