Die Ergebnisse des EU-Gipfels sind keineswegs Ausdruck von europäischer Kooperation in der Flüchtlingspolitik

Die europäische Lösung

Beim EU-Gipfel in Brüssel wollte Bundeskanzlerin Angela Merkel eine »europäische Lösung« für die Fragen der Migrationspolitik erreichen. Das Ergebnis ist ein Erfolg für die autoritäre Rechte.

Einen »Coup für die Kanzlerin« nannte die »Tagesschau« die Ergebnisse des EU-Ratstreffens vom 28. Juni in Brüssel. Bundeskanzlerin Angela Merkel habe es im innenpolitischen Streit mit der CSU und Horst Seehofer geschafft, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, und eine europäische Antwort in der Migrationspolitik geliefert. Wider Erwarten einigten sich die Vertreter der 28 EU-Mitgliedsstaaten tatsächlich auf ein Abschlussdokument. Die Ergebnisse des Gipfels sind aber keineswegs Ausdruck von europäischer Kooperation, sondern ein Zugeständnis an die autoritäre Rechte.

Das größte Aufsehen erregte der fünfte Punkt des Abschlussdokuments. Demzufolge will die EU die Möglichkeit von »regionalen Ausschiffungsplattformen« in außereuropäischen Drittstaaten prüfen. Aus Seenot gerettete Flüchtlinge sollen zukünftig nicht mehr nach Europa gebracht werden, sondern in (nord-)afrikanische Staaten.

Sollten die Ausschiffungsplattformen Wirklicheit werden, dürfte das auf eine Kopie des australischen Modells hinauslaufen. Dort werden Bootsflüchtlinge in die Elendslager auf Nauru und Manus verfrachtet. Erst kürzlich musste der australische Staat 47 Millionen Euro Entschädigung an 1 900 Bootsflüchtlinge zahlen, weil sie in den Lagern seelische und körperliche Schäden erlitten hatten.

Neu ist der Plan nicht. Bereits vor 15 Jahren schrieb die Jungle World über das »Asylmodell Guantánamo«. Damals ging es um den Vorschlag der britischen Regierung unter Tony Blair, die Asylverfahren komplett in außereuropäische Staaten auszulagern. Ein eifriger Befürworter dieser Idee war auch der damalige deutsche Innenminister Otto Schily (SPD). Das Konzept fand damals keine Mehrheit im Europäischen Rat. Derzeit ist vollkommen unklar, ob sich die afrikanischen Staaten überhaupt auf dieses Modell einlassen würden. Die Afrikanische Union hatte in einer Erklärung vom Oktober 2017 solche Zentren klar verurteilt, weil sie de facto ­Internierungslager seien und zu schweren Verletzungen der Menschenrechte von Migranten, unabhängig von ihrem Status, führen würden.

Sollten die Ausschiffungsplattformen Wirklicheit werden, dürfte das auf eine Kopie des australischen Modells hinauslaufen. Dort werden Bootsflüchtlinge in die Elendslager auf Nauru und Manus verfrachtet. Erst kürzlich musste der australische Staat 47 Millionen Euro Entschädigung an 1 900 Bootsflüchtlinge zahlen, weil sie in den Lagern seelische und körperliche Schäden erlitten hatten. In den Ausschiffungsplattformen sollen das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) und die Internationale Organisation für Migration (IOM) dafür sorgen, dass internationales Recht eingehalten wird. Kurz vor dem Gipfel hatten UNHCR und IOM ihre grundsätzliche Bereitschaft erklärt, an derartigen Zentren mitzuwirken, sofern das individuelle Recht auf Asyl gewahrt bleibe.
Die österreichische Regierung erklärte unmittelbar nach dem Gipfel, dass Flüchtlinge auf den Ausschiffungsplattformen keinen Asylantrag stellen sollten, um mögliche »Pull-­Faktoren« zu vermeiden.

Die Uneindeutigkeit der Ergebnisse des Gipfels lädt die autoritären Regierungen dazu ein, die vereinbarten Konzepte nach eigenem Gusto zu interpretieren. UNHCR und IOM müssten allein schon unter Berücksichtigung der Europäischen Menschenrechtskonvention gegen die Ausschiffungsplattformen sein, weil diese eine Rückschiebung von Bootsflüchtlingen nach Nordafrika verbietet.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte in einem Grundsatzurteil vom Februar 2012 festgestellt, dass Flüchtlinge in Libyen menschenunwürdigen Zuständen ausgesetzt seien und ein Recht auf Zugang zu einem Asylverfahren auf europäischem Territorium hätten. Seither haben sich die Zustände in Libyen sogar noch verschlechtert. Auch Algerien, ein weiterer potentieller Standort für die Ausschiffungsplattformen, ist für Flüchtlinge kein sicherer Ort. Erst kürzlich wurde bekannt, dass die algerischen Behörden in den vergangenen Monaten mehr als 13 000 Flüchtlinge ohne Nahrungsmittel und Wasser in der Wüste aus­gesetzt haben. Augenzeugenberichten zufolge kamen viele der Menschen auf dem Weg durch die Wüste ums Leben.

 

Die EU-Regierungschefs wollen auch die Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache verstärken, die für schwere Menschenrechtsverletzungen verantwortlich ist. Bereits im Mai erhoben 17 Überlebende eines Schiffsunglücks, unterstützt von der Organisation Sea Watch, italienischen NGOs und Universitäten aus Italien, Großbritannien und den USA, Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Sie werfen der italienischen Regierung vor, durch ihre Kooperation mit der libyschen Küstenwache am 6. November 2017 den Tod von Flüchtlingen verursacht zu haben. Zwar ist in Straßburg nur Italien angeklagt, eine Verurteilung könnte aber einen wichtigen Präzedenzfall schaffen. Über finanzielle Zuwendungen darf sich auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan freuen. Die EU will weitere drei Milliarden Euro an den türkischen Staat für die Versorgung von Flücht­lingen überweisen. Die fortgesetzte Kooperation in der Flüchtlingspolitik dürfte Erdoğan aber vor allem als außenpolitischen Freifahrtschein nutzen, um den autoritären Umbau der Türkei ungestört voranzutreiben.

Das Konzept der Freiwilligkeit beim Bau der Zentren und der Aufnahme von Flüchtlingen ist ein Erfolg für die osteuropäischen Visegrád-Staaten – ­Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn. Die Gruppe verweigert sich grundsätzlich einer verpflichtenden Umverteilung von Flüchtlingen.

Ähnlich wie beim Konzept der Ausschiffungsplattformen bleibt die Abschlusserklärung auch an anderen Punkten vage. Solange die Plattformen in Nordafrika nicht etabliert sind, sollen Bootsflüchtlinge in europäische »kontrollierte Zentren« verbracht werden, um dort ihren Schutzstatus zu überprüfen. Der Aufbau der Zentren und die Umverteilung von Flüchtlingen auf andere EU-Staaten soll auf rein freiwilliger Basis erfolgen, bisher hat sich kein EU-Staat dazu bereit erklärt. Die Zentren dürften dem Vorbild der bereits bestehenden »Hotspots« in Griechenland und Italien folgen. Im griechischen Lager Moria, faktisch ein Freiluftgefängnis, warten Tausende Menschen seit Jahren darauf, dass ihre Asylanträge geprüft werden.

Das Konzept der Freiwilligkeit beim Bau der Zentren und der Aufnahme von Flüchtlingen ist ein Erfolg für die osteuropäischen Visegrád-Staaten – ­Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn. Die Gruppe verweigert sich grundsätzlich einer verpflichtenden Umverteilung von Flüchtlingen. Sie hat erreicht, dass von einer verbindlichen Quote, wie sie der Rat noch im Sommer 2015 beschlossen hat, heutzutage keine Rede mehr ist.

Die Regierung von Viktor Orbán verabschiedete erst Mitte Juni eine Verfassungsänderung, derzufolge »fremde Volksgruppen« nicht in Ungarn angesiedelt werden dürfen. Anfang Juli will sich Angela Merkel mit dem ­ungarischen Ministerpräsidenten treffen, womöglich um über bilaterale Abkommen zu verhandeln. Durch solche Abkommen können im Rahmen der Dubliner Verordnungen Asylverfahren beschleunigt und Überstellungen an die zuständigen Staaten vereinfacht werden. Solche Abkommen sind Merkels europäische Alternative zur »nationalen Lösung« der CSU, die Asylsuchende ohne multilaterale Absprachen direkt an der deutschen Grenze zurückweisen will. Polen, Tschechien und Ungarn dementierten nach dem Gipfel, dass sie über solche Abkommen verhandeln wollen. Ohnehin führen die Hauptfluchtrouten durch Europa dank Grenzzaun, Transitzonen und der Einstufung Serbiens als sicherer Drittstaat nicht mehr durch Ungarn, sondern haben sich via Albanien (Interview S. 5) nach Kroatien und Slowenien verlagert.

Während sich die europäische Rechte bei der geplanten Abschottung an den EU-Außengrenzen durchgesetzt hat, zeigt sich zugleich die Uneinigkeit der Regierungen bei der Reform des europäischen Asylsystems. Bereits seit dem Frühjahr 2016 liegt ein Vorschlag der EU-Kommission vor, auch das Europäische Parlament hat mittlerweile eigene Konzepte erarbeitet. Im Rat gibt es hingegen bislang keine Einigung über die neue Asylverfahrensverordnung und die Dublin-IV-Verordnung. Dabei geht es gerade bei diesen Rechtsverordnungen um die konkrete Zukunft des europäischen Asylrechts. Die Dublin-IV-Verordnung sieht unter anderem einen verbindlichen Umverteilungsmodus für Flüchtlinge vor, wenn ein Aufnahmestaat überlastet ist. ­Daneben sollen aber auch verbindliche Fristen für Dublin-Überstellungen und das humanitäre Selbsteintrittsrecht abgeschafft werden – damit ist gemeint, dass ein Staat Asylverfahren prüfen kann, auch wenn er eigentlich gar nicht zuständig ist; die deutsche Bundesregierung machte im Herbst 2015 davon Gebrauch.

Im Abschlussdokument wird mit keinem Wort erwähnt, wie die bisherigen Konflikte bei der Asylreform überwunden werden sollen. Nun übernimmt Österreich die EU-Ratspräsidentschaft und ist dafür verantwortlich, ein Ergebnis zu liefern. Wie die österreichischen Pläne zur Migrationspolitik aussehen könnten, ließ sich in der ­vergangenen Woche beobachten. Innenminister Herbert Kickl von der extrem rechten FPÖ ließ im österreichischen Ort Spielfeld an der Grenze zu Slowenien die neue Spezialeinheit für Grenzschutz namens »Puma« unter dem Slogan »Pro Borders« aufmarschieren – der Slogan wurde zuletzt von der rechtsextremen Identitären Bewegung genutzt. Der EU-Gipfel mag Bundeskanzlerin Merkel kurzfristig ihre Kanzlerschaft gesichert haben. Das Euro­päische Ratstreffen könnte aber auch der Anfang vom Ende der europäischen Freizügigkeit sein.