Die Urteile im NSU-Prozess sind gesprochen. Von umfassender Aufklärung kann nicht die Rede sein

Wie ein Schlag ins Gesicht

Die milden Strafen für die Mitangeklagten von Beate Zschäpe sind als Tiefpunkt in der Aufarbeitung des NSU-Komplexes zu betrachten.

Die Erwartungen an das Urteil im NSU-Mammutverfahren waren nicht allzu groß. Die Bundesanwaltschaft sieht im NSU ein »isoliertes Trio«, das selbst von der thüringischen und sächsischen Neonaziszene abgekapselt gewesen sei.
Dass der 6. Strafsenat des Oberlandesgerichts München jedoch diese kontrafaktische Interpretation des NSU-Falles seitens des Generalbundesanwaltes noch um einiges übertreffen würde, kam dann am Mittwoch voriger Woche doch recht unerwartet.

Dabei ging es den meisten wohl weniger um die tatsächliche Höhe der Urteile. Den Betroffenen des NSU-Terrors, ihren Anwältinnen und Anwälten und kritischen Beobachtern ging es in erster Linie stets um die gesellschaftliche und politische Bedeutung dessen, was sich im Betonbunker des Saales A 101 im Strafjustizzentrum in der Münchener Nymphenburger Straße unter der strengen Leitung des patriarchalen Vorsitzenden Richters Manfred Götzl abspielte.

Der langersehnte Tag der Urteilsverkündung war ein sinnfälliger Tiefpunkt in der Aufarbeitung des NSU-Komplexes. Bereits in der Nacht davor hatten sich zahlreiche Sensationshungrige vor dem Gerichtsgebäude angestellt, um nur ja einen Platz im Saal zu ergattern. Unter diesen Frühaufstehern waren auch über ein Dutzend einschlägig bekannte und namhafte Nazis. Die meisten schafften es – alle in Schwarz gekleidet, wie ihre »Märtyrer«, die auf der Anklagebank saßen, Ralf Wohlleben und André Eminger – in den Zuschauerbereich des Gerichtssaals.

Die Überraschung war nicht die ­lebenslange Haftstrafe für die Hauptangeklagte Beate Zschäpe, die wegen »besonderer Schwere der Schuld« zunächst nicht vorzeitig entlassen werden kann. Auch nicht die vergleichsweise geringen Haftstrafen für die zwei »Hinterbänkler« im Verfahren, Holger ­Gerlach und Carsten Schultze – beide wurden zu drei Jahren Haft beziehungsweise Jugendhaft verurteilt. Gerlach, weil er »nur« der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung angeklagt war; Schultze, weil er als einziger Angeklagter geständig war, mit den Behörden kooperierte und tätige Reue zeigte; zudem war er zur Tatzeit noch Jugendlicher.

»Unser Mandant ist National­sozialist, der mit Haut und Haaren zu seinen Überzeugungen steht.«
Herbert Hedrich, Verteidiger von André Eminger

Dass der einstige Kameradschaftsführer und NPD-Funktionär Ralf Wohlleben für die Beihilfe zum Mord in neun Fällen nicht die beantragten zwölf, sondern nur zehn Jahre Haft erhielt, ließ schon aufhorchen. Wohlleben hat die »Signaturwaffe«, die Česká 83, mit der der NSU seine Opfer tötete, über Schultze beschafft und bezahlt.

Vollends fassungslos machte der Teilfreispruch des Angeklagten André Eminger: zweieinhalb Jahre Haft wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung. Schließlich war Eminger nachweislich – gemeinsam mit seiner Frau Susann, gegen die eines der neun weiteren NSU-Ermittlungsverfahren läuft – seit 1998 engster Vertrauter des NSU-Kerntrios und hat Beate Zschäpe noch am Tag des Auffliegens des NSU fürsorglich betreut.

Die Bundesanwaltschaft hatte für ihn als vermeintlich viertes Mitglied des NSU-Kerns ebenfalls zwölf Jahre Haft gefordert. Eminger soll nach Über­zeugung der BAW nicht nur die Untergetauchten im Sinne des Paragraphen 129a unterstützt, sondern auch Beihilfe zum versuchten Mord im Fall der Bombe in der Kölner Probsteigasse geleistet haben (siehe Interview). Weil ihm nicht nachzuweisen gewesen sei, dass er den Verwendungszweck des Fahrzeugs gekannt habe, sei er, so das Gericht, freizusprechen gewesen. Seine angebliche Ahnungslosigkeit jedoch ist durchaus zu bezweifeln: Nach der Beweisaufnahme kann ausgeschlossen werden, so die Einschätzung einiger Anwälte der Nebenklage, dass der Fanatiker Eminger nicht wusste, wen er da wobei unterstützte. Zudem stützte das Gericht seine entlastende Ein­schätzung ausgerechnet in diesem Punkt auf die »insoweit glaubwürdige« Aussage Beate Zschäpes, wonach Eminger erst später in das Treiben des Trios eingeweiht worden sei. Diese Aussage hatte Götzl erst kurz zuvor als »unglaubhaft« eingestuft. Insofern ist der Skandal des Teilfreispruchs Emingers nicht nur ein politischer, sondern auch ein juristischer.

 

Beachtlich bleibt auch die Rolle, die Eminger im Verfahren spielte. Berühmt geworden sind seine nazistischen Tattoos, von denen Fotos großformatig an die Wände des Gerichtsaals projiziert wurden. Eminger war der einzige Angeklagte, der von seinem Schweigerecht Gebrauch machte. Zudemfiel er mit provozierender Kleidung auf. So trug er einmal das Sweatshirt der finnischen NS-Blackmetal-Band Satanic Warmaster. Eminger, der bis September 2017 auf freiem Fuß geblieben war, wurde 2015 bei ­einer Demonstration des Münchner Pegida-Ablegers Bagida, gesehen, ebenso bei dem großen Nazi-Musikfestival im thüringischen Themar 2017. Stets präsentierte er sich als der gutgelaunte Vollnazi, der zu sein er sich offen bekennt. So ließ er seinen Ver­teidiger Herbert Hedrich zu Beginn des Plädoyers Anfang Mai verkünden: ­»Unser Mandant ist Nationalsozialist, der mit Haut und Haaren zu seinen Überzeugungen steht; keiner hat das so gesagt; das Wort Nationalsozialist hat heute Premiere hier im Saal.« Entsprechend reagierten die anwesenden Gesinnungsgenossinnen und -genossen schon mit begeistertem Applaus auf die Verkündung der geringen Haftstrafe für »ihren André«.

Vollends zum Desaster wurde die Urteilsverkündung durch die von Götzl in knapp vier Stunden teilweise unverständlich heruntergeratterte Urteilsbegründung, die – ganz im Sinne der Anklagebehörde – den NSU auf Beate Zschäpe, die beiden toten Mittäter und allenfalls eine Handvoll Helferinnen und Helfern reduzierte.

Als Götzl zum Schluss noch die sofortige Aufhebung des Haftbefehls gegen Eminger verkündete, brachen die Nazis im Zuschauerbereich in offenen Jubel aus, ohne dass es Konsequenzen für diese Verhöhnung der Opfer gegeben ­hätte.

Die Entscheidung des Senats beruht auf dem Paragraphen 129a, der von ­einer terroristischen Vereinigung erst ab drei Mitgliedern spricht. Ohne ­Beate Zschäpe als »Vollmitglied« hätte es diese  Vereinigung also gar nicht gegeben und die Anklage wäre mit ­lautem Krach zusammengestürzt. Die etwa 370tägige Beweisaufnahme hat tatsächlich viele tragfähige Indizien und Belege dafür erbracht, dass Zschäpe nicht das Heimchen am WG-Herd des Terror-Duos Mundlos und Böhnhardt war, als das sie in ihren eigenen Ein­lassungen und in den Plädoyers ihrer Verteidiger dargestellt wurde. Vor ­Gericht  konnte gezeigt werden, dass Zschäpe voll und ganz hinter dem ­terroristischen Programm stand, auf Augenhöhe mit den beiden Männern handelte und am Schluss sehr viel Energie darauf verwendete, den letzten Unterschlupf in der Zwickauer Frühlingsstraße, ohne Rücksicht auf potentiell gefährdete Personen, zu zerstören und die perfiden Bekenner-DVDs als »Vermächtnis« des NSU bundesweit zu verschicken.

Die nach wie vor brennenden offenen Fragen zur Verstrickung von Verfassungsschutzsbehörden in den NSU-Komplex – immerhin hatten verschiedene Inlandsgeheimdienste mindestens 40 namentlich bekannte Informantinnen und Informanten im mehr oder weniger nahen Umfeld des NSU platziert –, die Fragen nach dem institutionellen Rassismus der Ermittlungsbehörden und nach dem Unterstützungsnetzwerk kamen in der Urteilsverkündung nicht vor. Das Wort »Verfassungsschutz« fiel in dem ganzen Sermon nicht ein einziges Mal. Eine mög­liche Mitverantwortung von Behörden für den NSU-Terror und deren gezielte Vertuschung etwa durch umfangreiche illegale Aktenvernichtung kam ebenso wenig zur Sprache.
Zweifellos muss davon ausgegangen werden, dass das Kerntrio zahlreiche Mitwisser, Unterstützer und sehr wahrscheinlich sogar Mittäter hatte.

Insbesondere die Anwältinnen der Nebenklage Antonia von der Behrens, Edith Lunnebach und Seda Başay-Yıldız sowie der Anwalt Mehmet Daimagüler haben in ihren Plädoyers nach dem Schlussvortrag der BAW die klaren Hinweise auf Helferinnen und Helfer vor Ort herausgearbeitet – und die offensichtliche Weigerung der Ermittlungsbehörden, hier zu ermitteln. Nichts davon kam in der Urteilsbegründung vor.

Wie ein Weckruf wirkte bei der Verkündung der Urteile der plötzliche Aufschrei des Nebenklägers İsmail Yozgats nach der Nennung des Namens seines am 6. April 2006 vom NSU in Kassel ­ermordeten 21jährigen Sohns Halit. Spätestens in diesem Moment wurde klar, wie wenig das Gericht sich um die Ansprüche und Bedürfnisse der Betroffenen des NSU-Terrors scherte. Kein Wort an die Hinterbliebenen der Morde, die Verletzten der Bombenanschläge und Traumatisierten der Banküberfälle. Nur die Zwischenrufe des alten gramgebeugten Vaters eines Ermordeten verdarben Götzl den Versuch, das NSU-Problem einfach mal so eben wegzu­nuscheln.

Als Götzl zum Schluss noch die sofortige Aufhebung des Haftbefehls gegen Eminger verkündete, brachen die Nazis im Zuschauerbereich in offenen Jubel aus, ohne dass es Konsequenzen für diese Verhöhnung der Opfer gegeben ­hätte. Für die Betroffenen muss dies wie ein Schlag ins Gesicht gewesen sein, das Ende der Hoffnung auf etwas wie Gerechtigkeit oder Genugtuung.

Bundesrepublikanisch aber ist alles wiedergutgemacht: Die Täter sind (überwiegend) in Haft, der Rechtsextremismus bekämpft, die NSU-Verbrechen »aufgearbeitet«, die wehrhafte Demokratie und ihr Rechtsstaat haben sich glänzend bewährt, Richter Götzl wird kurz vor der Pensionierung zur Belohnung für die Wahrung der Staatsräson zum Vizepräsidenten des im September wieder eingeführten Bayerischen Obersten Landesgerichts ­be­fördert. Prozessbeobachter Tom Sundermann auf zeit.de wendet es national: »An diesem Prozess ist Deutschland gewachsen.« Na dann.