Auf den Spuren des für Panflöten begehrten harmonischen Bambus im bolivianischen Zongo-Tal

Die musikalische Ader des Zongo-Tals

Im Nebelwald des bolivianischen Zongo-Tals wächst der Bambus, aus dem Panflötenbauer in La Paz hochwertige und professionelle Instrumente bauen. Doch sind nicht nur einige der einheimischen Bambusarten des Tals vom Aussterben bedroht, auch Panflöten werden kaum noch in ihrer traditionellen Form gebaut.

Auf dem Altiplano, der bolivianischen Hochebene, ist Winter. Die Tempera­turen fallen unter null Grad. An der kleinen Haltestelle des Busses in El Alto, der in Richtung des subtropischen Zongo-Tals fährt, ist es an diesem Morgen im Juli sehr kalt. Das Tal mit seinen ­beeindruckenden Nebelwäldern und die gleichnamige Ortschaft befinden sich unweit von La Paz an den Osthängen der bolivianischen Andenkordillere. Dort wächst eine einheimische Bambusart, die auf der bolivianischen Hochebene zum Bau hochwertiger Panflöten verwendet wird.

Sowohl Musiker als auch Instrumentenbauer kennen den Bambus eher ­unter dem lokalen Aymara-Namen siku chhalla, wobei siku die allgemeine Bezeichnung für Panflöte ist und chhalla in etwa getrockneter Halm bedeutet. Flöten aus dem Bambus des Zongo-Tals sind bei Musikern verschiedener ­Stilrichtungen wegen ihrer geringen Wandstärke besonders begehrt. Die Vorzüge sind ein unverwechselbarer Klang und die Leichtigkeit, mit der Töne wegen der schmalen Innenwände erzeugt werden können. So wie der ­Italiener Antonio Stradivari seine ­Geigen nur aus einem bestimmten Fichtenholz, dem der Gemeinen Fichte ­(Picea abies) aus dem »Violinenwald« im Paneveggio im Fleimstal, gebaut hat, werden professionelle Panflöten in Bolivien heutzutage am liebsten aus dem Zongo-Bambus hergestellt. Wegen seiner Nutzung zum Instrumentenbau trägt dieser einheimische Bambus den wissenschaftlichen Namen Rhipidocladum harmonicum.

 

Gut versteckt

Die Reise ins Zongo-Tal führt über einen schmalen Bergpass, vorbei an den ­imposanten Bergen Chacaltaya (5 421 Meter) und Huayna Potosí (6 088 Meter). Letzterer ist noch vergletschert, bei ersterem ist die Eisdecke wegen der Erd­erwärmung bereits vollständig geschmolzen (Jungle World 46/2016). Der Bus schlingert bergab in Richtung ­Zongo, wobei einem beim Anblick der steilen Abhänge schon einmal schwindelig werden kann. Plötzlich hält der Bus an. »Bis hierher und nicht weiter«, sagt der Fahrer.
Eine Flutwelle infolge starken Regens und des Bruchs eines für die Stromerzeugung genutzten Staudamms hat im Februar Bäume, Häuser und Teile der Schotterstraße mit sich gerissen. Fünf Monate danach sind die Schäden immer noch nicht behoben und die ­Straße ist weiterhin nicht befahrbar. Es geht zu Fuß weiter. Nach knapp drei Stunden erreicht man die kleine Gemeinde namens Zongo.

In Zongo wartet Ernesto Condori. Der 65jährige erntet mit seinem Schwager gelegentlich Bambus. »Die Bambusernte ist nicht ungefährlich«, warnt Condori. »Es gibt hier wilde Tiere wie Pumas und Jukumaris (Brillenbären). Wenn du den Weg nicht kennst, verirrst du dich leicht im Dickicht des Nebelwaldes, und Mücken können Krankheiten über­tragen.« Tags darauf geht es im Morgengrauen mit einer scharf ­geschliffenen Machete und einer kleinen Mahlzeit los in den Wald, um den harmonischen Bambus zu suchen. Vögel zwitschern, dicke Nebelschwaden verringern die Sichtweite auf wenige Meter. Die dichte Vegetation sowie der tiefe weiche ­Humusboden verlangsamen die Schrittgeschwindigkeit. Immer wieder muss man sich wegen umgefallener Baumstämme gebückt oder kriechend über den Waldboden fortbewegen.

»Die Bambus-Ernte ist nicht ungefährlich. Es gibt hier wilde Tiere wie Pumas und Juku­maris (Brillenbären). Wenn du den
Weg nicht kennst, verirrst du dich leicht im Dickicht des Nebelwaldes.« Ernesto Condori aus Zongo

Nach knapp vier Stunden Wanderung und 600 überwundenen Höhenmetern bleibt Condori plötzlich stehen und muss sich orientieren. Wenig später kommen junge Bambuspflanzen in Sicht, die bereits eine Höhe von über drei Metern erreicht haben. Ein Blick genügt Condori, um festzustellen, dass der Bambus noch nicht reif für die Ernte ist. »Wenn du ihn zu früh erntest, ist er sehr fragil, wenn du ihn zu spät erntest, ist er schon ab­gestorben und verrottet im Waldboden.«
Im Surren der Mücken wird neben den Bambuspflanzen der Proviant ­verzehrt. Auf dem Rückweg erklärt Con­dori, dass man den Bambus für den Transport in kürzere Stücke schneiden und einen Weg in die dichte Vegeta­tion schlagen muss, um beim Abtransport nicht hängen zu bleiben. Allein dies dauere einige Tage.

 

Vom Tal in die Ateliers

Bevor er weiterverarbeitet werden kann, muss der Bambus drei bis vier Wochen lang getrocknet werden. Dies geschieht entweder vor dem Transport in Zongo oder direkt in El Alto oder La Paz. Während der Trockenphase verliert der grüne, noch feuchte Bambus an Wasser und erhält die gewünschte goldgelbe Farbe und Form. Der Bau von Flöten aus Bambus ist in den bolivianischen Anden eine Kunst, die von Generation zu Generation weitergegeben wird. Vor ­allem in der kleinen Gemeinde Walata Grande, etwa 100 Kilometer nördlich von La Paz, wird sie bewahrt und praktiziert. Im Laufe des vergangenen Jahrhunderts hat sich die dortige Bevölkerung, die Walateños, auf den Bau von Flöten spezialisiert. Viele Familien sind bereits in die Großstädte El Alto und La Paz migriert. Zu den Flöten, die die Walateños herstellen, zählen interna­tional eher unbekanntere Instrumente wie die Querflöte Phalawita und die Kernspaltflöte Mohoseño, aber auch bekanntere wie die Panflöte Siku, eine ­gebündelte Längsflöte, und die Quena, eine randgeblasene Kerbflöte. Beim Bau der andinen Flöten werden unterschiedliche Bambustypen zum Bau der verschiedenen Instrumente verwendet.

Gregorio Reinaga, ein auf Panflöten spezialisierter Instrumentenbauer aus Walata Grande, arbeitet in seinem kleinen Atelier nahe der bei Touristen beliebten Straße Linares im Zentrum von La Paz. Mit viel handwerklichem Geschick schneidet er getrockneten ­Zongo-Bambus auf die gewünschte Länge zu. Die Ernte und der Transport des Bambus sind aufwendig, das spiegelt sich auch im Preis wider. Eine pro­fessionelle, chromatische Panflöte in G-Dur-Stimmung aus Zongo-Bambus kostet mittlerweile umgerechnet rund 50 Euro.

Reinaga, der gerade an einer chromatischen Panflöte arbeitet, erzählt, dass sich in den vergangenen 20 Jahren einiges verändert habe: »Früher, als mein Vater noch arbeitete, waren die Panflöten anders. Es gab eine größere Vielfalt an Panflöten. Heute benutze ich professionelle Stimmgeräte und baue professionelle Panflöten.« In seinem Atelier hängen Fotos von berühmten bolivianischen Bands, die alle seine Kunden sind. Darunter befindet sich auch ein Poster der bolivianischen Band Ruphay, die nach ihrer Gründung 1968 in La Paz die traditionelle und zeitgenössische Musik aus Bolivien in ­Europa und vor allem in Deutschland verbreitete – damit machte sie auch die Panflöte und die Quena international bekannt.

Der nächste Kunde kommt. Er hat sich für Reinagas Atelier entschieden, weil er weiß, dass dessen Panflöten aus hochwertigem Zongo-Bambus herstellt ­werden. Doch dieses Mal muss Reinaga seinem Kunden sagen, dass er keinen Zongo-Bambus mehr auf Lager hat. Beide fangen an zu diskutieren, was es mit der momentanen Bambus-Knappheit auf sich hat. »Chhalla aus Zongo gibt es momentan nicht, weil er noch nicht reif ist«, sagt Reinaga, und fügt hinzu, dass es auch noch einige Jahre dauern könne, bis es wieder reifen Bambus gibt.

 

Knapper Rohstoff

Der Bambus der Gattung Rhipidocladum hat eine Reifezeit von sieben bis zehn Jahren, und nur der reife Bambus ist für den Bau von Panflöten geeignet. Reinaga hat bereits mehr als drei Generationen des Zongo-Bambus bearbeitet, eine außergewöhnliche Konstanz in Zeiten des kulturellen Wandels in Boli­vien, der sich auch auf die Instrumentenbauer auswirkt. In den Straßen von La Paz und in den Gemeinden auf dem Altiplano hört man immer ­öfter eher ­moderne, kreolische Volks- und Blasmusik statt traditionelle Gruppen, die die diversen Panflöten-Stile interpretieren.

Ist der Zongo-Bambus knapp, kann Reinaga zwar auf Bambus aus anderen Regionen zurückgreifen, diese Sorten sind aber nicht so begehrt. Der Kunde gibt noch nicht auf. »Hast du denn kein ­Material aus anderen Regionen?« fragt er Reinaga. »Natürlich habe ich das, aber auch in anderen Regionen wird der Bambus knapp. Das liegt einfach ­daran, dass der Wald zerstört wird und die Leute alles kahlschlagen, um Reis, Früchte oder Koka anzubauen«, schildert der Instrumentenbauer das Problem.

»Früher, als mein Vater noch arbeitete, waren die Panflöten anders. Es gab eine größere Vielfalt an Panflöten. Heute benutze ich professionelle Stimmgeräte und baue professionelle Panflöten.« Gregorio Reinaga

Auch in den Regionen Alto Beni und Yungas im Bundesstaat von La Paz wächst Bambus. Doch die Wälder, in denen er vorkommt, werden sukzessive abgeholzt, weil sich die Landnutzung stark verändert hat. Alto Beni ist eine landwirtschaftliche Region, dort gibt es viele Fruchtplantagen und es wird Holzwirtschaft betrieben. In den Yungas wird vor allem die Koka-Pflanze an­gebaut. Reinaga muss ausreichend Bambus auf Lager haben, um Liefereng­pässe zu überbrücken. In seinem Bambuslager hat er bis zu vier verschie­dene Typen von heimischem Bambus. ­Manche von ihnen sind wissenschaftlich noch gar nicht erforscht.

Der Bau von Panflöten sieht sich vor immer neue Herausforderungen ­gestellt und passt sich stetig an: Ob nun an musikalische Muster aus dem Westen, die im Zuge der Globalisierung nach Bolivien gelangen, oder an ökologische Veränderungen in den Regionen, in denen Bambus wächst. Einige Panflötenbauer sind bereits auf Plastik als Rohmaterial umgeschwenkt. Ob sich dieser Trend weiter fortsetzen wird, hängt davon ab, wie gut der eine hohe Biodiversität aufweisende Nebelwald vor der Abholzung geschützt wird. Die lokalen Behörden könnten etwa das gesamte Zongo-Tal zur Schutzzone erklären.