Marlis Tepe von der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), im Gespräch über Arbeitsbedingungen an Schulen

»Regierungen sollen stärker eingreifen«

Interview Von Johannes Simon

Zu Beginn des neuen Schuhljahres bemängelt die Ge­werkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in allen Bundesländern einen großen Lehrermangel. Die »Jungle World« sprach mit der Bundesvorsitzenden der GEW, Marlis Tepe, über Quereinsteiger, Inklusion und das Problem mit dem Streikrecht.

Wo ist der Lehrkräftemangel in diesem Jahr besonders deutlich spürbar?
In Sachsen, Berlin, Sachsen-Anhalt und Nordrhein-Westfalen. Besonders betroffen sind alle Grundschulen und schon seit Jahren auch die beruflichen Schulen.

Lange Zeit ist man von einer »Demo­graphie-Dividende« ausgegangen. Stattdessen aber steigen die Schülerzahlen seit einigen Jahren. Hätte man das nicht vorhersehen können?
Man hätte zwei Dinge vorhersehen kön­nen. Erstens weiß man, wie viele Kol­leginnen und Kollegen wann in den Ru­hestand gehen. Zweitens gibt es seit ­einigen Jahren steigende Geburtenzahlen, die man bei einer Lehrkräftebedarfsprognose hätte einberechnen müssen. Was man vielleicht nicht genug bedacht hat, ist, dass der Zuzug in Großstädte wie Berlin so groß ist. Dort müssen bis 2025 60 neue Schulen gebaut werden, 75 000 zusätzliche Schü­lerinnen und Schüler sind zu unterrichten. Das ist natürlich eine echte Herausforderung für Berlin. Der Sog der Großstädte ist erheblich. Das ist ein Teil des Problems. Aber auch insgesamt steigen die Schülerzahlen deutlich.

»Wir fordern, dass auch die Lehrkräfte an Grundschulen nach den Tarifen A13 als Beamte und E13 als Angestellte bezahlt ­werden. Es gibt kein Argument dafür, Grundschullehrkräfte schlechter zu ­bezahlen – schließlich ist ihre Ausbildung genau so lang wie die der Lehrkräfte an anderen Schularten.«

Grundschülerinnen und -schüler sind in ihrem Leistungsniveau deutlich abgesackt, wie die Studie »Bildungstrend 2016« des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) an der Humboldt-Universität zu Berlin gezeigt hat. Hat das auch mit dem Lehrermangel zu tun?
Seit etwa sechs Jahren wurden weniger Grundschullehrkräfte ausgebildet als eingestellt. Daraus lässt sich schließen, dass Lücken mit Menschen gestopft werden mussten, die keine Ausbildung als Lehrkraft haben. Außerdem nimmt die Kinderarmut erheblich zu. Mädchen und Jungen aus armen, bildungsfernen Elternhäusern werden schlechtere Lernergebnisse erzielen, wenn die ­Landesregierungen sich nicht entscheiden, diesen Kindern und den Schulen in sozialen Brennpunkten eine bessere Versorgung zu geben.

Wie aus der IQB-Studie hervorgeht, hat sich zwischen 2011 und 2016 in Grundschulen der Anteil der Kinder mit Zuwanderungsgeschichte ­bundesweit erhöht. Wie sollte die Bildungspolitik darauf reagieren?
Wenn Kinder die deutsche Sprache nicht beherrschen, haben sie Schwierigkeiten, dem Unterricht zu folgen. Deshalb müssen diese Kinder besonders ge­fördert und unterstützt werden. Die schwächeren Ergebnisse der Grundschüler in der IQB-Studie liegen aber nicht an der wachsenden Zahl geflüchteter Kinder, die waren nämlich zum Zeitpunkt der Datenerhebung noch gar nicht in den Schulen angekommen, sondern an der schlechten Ausstattung der Schulen und der hohen Belastung der Lehrkräfte – auch eine Folge des dramatischen Lehrkräftemangels.

Weshalb haben so viele Bundes­länder Probleme, Lehrerinnen und Lehrer zu finden?
Weil viel zu wenige Kolleginnen und Kollegen ausgebildet worden sind. Der Markt für Grund-, Sonder- und Berufsschullehrkräfte ist praktisch leergefegt. Seit Jahren haben zu viele für das Gymnasiallehramt studiert. Das mag daran liegen, dass sie die Schulform gerade erst selbst besucht haben und sich die Aufgabe besser vorstellen können, aber natürlich auch daran, dass sie dort besser verdienen. Wir fordern, dass auch die Lehrkräfte an Grundschulen nach den Tarifen A13 als Beamte und E13 als Angestellte bezahlt ­werden. Es gibt kein Argument dafür, Grundschullehrkräfte schlechter zu ­bezahlen – schließlich ist ihre Ausbildung genau so lang wie die der Lehrkräfte an anderen Schularten.

Sie schrieben in der GEW-Bundeszeitschrift »Erziehung und Wissenschaft«, die Bildungsgewerkschaft werde nicht akzeptieren, dass es unter den Lehrkräften »durch unterschiedliche Bezahlung und unterschiedliche Pflichtstundenzahlen zu Konkurrenz an den Schulen kommt«. Wird sich diese Ungleichheit verschärfen?
Es ist ja jetzt schon so, dass in den verschiedenen Schularten Tarifbeschäftigte und verbeamtete Lehrerinnen und Lehrer unterschiedlich viel Geld nach Hause bringen. Das ist nicht in Ordnung. Und es ist natürlich auch schwierig, wenn in einem Kollegium Menschen sitzen, die die gleiche Arbeit machen, aber unterschiedlich bezahlt werden.

Wie geht die GEW damit um, dass es nun verschiedene Gruppen von Lehrkräften in den Kollegien gibt, verbeamtete und angestellte, Aus­gebildete und Quereinsteiger?
Unsere Kolleginnen und Kollegen, die voll ausgebildete Lehrkräfte sind, fordern natürlich zu Recht, dass der professionelle Standard gewahrt wird. Gleichwohl müssen die Lücken von Quereinsteigern gefüllt werden – und auch diese heißen wir willkommen. Wir setzen uns dafür ein, dass Quereinsteiger gute Arbeitsbedingungen haben. Wir machen uns dafür stark, dass diese Kolleginnen und Kollegen gut qualifiziert werden: bevor sie eine Klasse unterrichten, vor dem Unterrichtseinsatz in der Schule und berufsbegleitend. Deshalb müssen wir auch dafür sorgen, dass die ausgebildeten Lehrkräfte Zeitressourcen bekommen, damit sie den Quereinsteigern als Mentoren zur Verfügung stehen können.

Werden Quereinsteiger derzeit ausreichend gefördert?
Das ist in jedem Bundesland anders. Wir fordern, dass die erste Qualifikation mindestens drei Monate vor dem Beginn in der Schule anfangen muss und sich eine Qualifikation on the job anschließt. Es gibt große Unterschiede zwischen Bundesländern, was Besoldung und Verbeamtung angeht. Ist es ein Vorteil, wenn die

Länder nun um Lehrkräfte kon­kurrieren müssen?
Die Länder haben schon immer um Lehrkräfte gekämpft und diese einander abgeworben. Das war nie gut. Es kann aber jetzt überhaupt nicht klappen, weil überall Lehrkräfte fehlen. Wir brauchen eine bundesweite Bedarfsplanung und eine bessere Koordination bei der Verteilung der Lehrkräfte. Hier ist insbesondere die Kultusministerkon­ferenz gefordert. Wir engagieren uns, damit die Bezahlung jetzt überall angehoben wird. Aber wir brauchen auch bessere Arbeitsbedingungen, nur so wird der Beruf attraktiver – und damit für junge Menschen bei der Berufswahl interessant.

 

Hat sich auch das Arbeitsumfeld der Lehrkräfte geändert?
Die Anforderungen an die Kolleginnen und Kollegen steigen, auch die Klassen sind in vielen Bundesländern größer geworden. Die Kinderarmut steigt, ­dadurch ist die pädagogische Arbeit schwieriger. Auch für Kinder mit ­Migrationshintergrund und die Geflüchteten brauchen wir Lehrkräfte mit besonderen Kompetenzen. In manchen Bundesländern, in denen diese direkt in die Klassen integriert werden, ist das sehr herausfordernd für die ­Kolleginnen und Kollegen. Die Bedingungen sind nicht gut genug, damit das, was von den Lehrkräften erwartet wird – individualisiertes Lernen etwa –, gut geleistet werden kann.

Ist die Inklusion, das gemeinsame Unterrichten von Kindern mit und ohne Behinderung, dort, wo sie eingeführt wurde, personell angemessen abgefedert worden?
In den meisten Bundesländern ist zu wenig für die Ausbildung der Lehrkräfte getan worden, um diese für inklu­sive Bedingungen gut zu rüsten. Unser Wunsch ist, dass die Klassen möglichst oft mit zwei Kollegen besetzt werden, auch mit Sozialpädagogen. Die Schulen sind dafür personell jedoch viel zu schlecht ausgestattet. Da hat die Politik weitgehend versagt. Jetzt muss dringend umgesteuert werden, damit die Inklusion gelingen kann.

Welche Forderungen stellen Sie an die Bundesregierung und die Länder?
Wir wollen mit den jeweiligen Landesregierungen aushandeln, wie die Arbeitsbedingungen in dieser Mangelsituation zu gestalten sind. Wir halten es für nötig, dass die Regierungen stärker steuernd eingreifen, was die Plätze an den Hochschulen angeht, damit genügend Lehrkräfte ausgebildet werden. Dann könnten sukzessive die Arbeitszeiten etwas reduziert werden, damit unsere Kolleginnen und Kollegen ihre Arbeit gut machen können, ohne da­bei ihre Gesundheit aufs Spiel zu setzen. Die Bundesregierung will bis 2025 für alle Kinder das Recht auf Ganztagsbeschulung gewährleisten. Auch dafür brauchen wir mehr Erzieher und Lehrkräfte. In Brandenburg ist es gelungen, eine entsprechende Tarifvereinbarung abzuschließen, in anderen Bundesländern streben wir das an. Wir hielten es für klug, wenn die Regierungen mit den Gewerkschaften besser zusammenarbeiteten.

Finden solche Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und Regierungen statt?
Mit Blick auf die Beamten haben wir das Recht, mit den Regierungen zu sprechen, sie müssen uns anhören, aber das ist nicht gleichzusetzen mit Tarifverhandlungen. Für angestellte Lehrkräfte gibt es – in der Regel alle zwei Jahre – auf Länderebene Tarifverhandlungen.

Kürzlich hat das Bundesverfassungsgericht noch einmal bekräftigt, dass verbeamtete Lehrkräfte nicht streiken dürfen. Was halten Sie von dem Urteil?
Zurzeit werten wir das Urteil im Detail aus und werden dann entscheiden, ob wir zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gehen. Wir sind der Ansicht, dass das Streikrecht für Beamtinnen und Beamte ein demokratisches Grundrecht ist. Die Entscheidung werden wir im November treffen, wir haben bis Dezember Zeit, vor den EGMR zu ziehen.
Werden Streiks von nicht verbeamteten Lehrerinnen und Lehrern in Zukunft eine Rolle spielen?
In der Vergangenheit haben wir in besonderen Situationen immer wieder einmal zum Streik aufgerufen, in verschiedenen Bundesländern, zu verschiedenen Themen. Trotz des Urteils werden wir auch zukünftig im Einzelfall überlegen, ob wir Kolleginnen und Kollegen zum Streik aufrufen.

Wie lange würde es dauern, bis man wieder zu einer angemesseneren Personallage kommen könnte?
Es dauert rund sieben Jahre, bis eine Lehrkraft voll ausgebildet ist – mit Studium und Vorbereitungsdienst. Deshalb müssen die Regierungen jetzt nachsteuern, die Zahl der Studien- und Referendariatsplätze erhöhen sowie den Beruf attraktiver gestalten. Zurzeit wird da viel zu zögerlich gehandelt.