Albanien erlebt die größten Studierendenproteste seit Jahren

Die Versager schlagen zurück

Die höhnische Rhetorik des albanischen Ministerpräsidenten Edi Rama hat ihm große Proteste beschert, an denen sich landesweit Zehntausende Studierende beteiligen.

Als Albaniens Ministerpräsident Edi Rama am 22. Oktober zwei linke Studentinnen verspottete, dürfte er nicht geahnt haben, dass er damit die größten sozialen Proteste auslösen könnte, die das Land seit Jahren erlebt hat. Die beiden Mitglieder der Gruppe der Lëvizja për Universitetin (Bewegung für Universität, LPU) hatten mit einem Transparent mit der Parole »Schluss mit der Ausplünderung der Studenten« eine Diskussionsrunde des Ministerpräsidenten mit Studierenden und Professoren zum Thema Hochschulpolitik ­gestört. Ihr Protest richtete sich gegen eine Erhöhung der Gebühren für Wiederholungsprüfungen, die die Regierung zuvor beschlossen hatte. In Hinblick darauf nannte Rama sie »Versager« und gab sie dem Gelächter des Publikums preis.

Diese Demütigung sollten ihm die Studierenden nicht vergessen. Am Dienstag voriger Woche gingen Studierende der Fakultät für Stadtplanung der Universität Tirana gegen die Gebührenerhöhung auf die Straße. Schnell schlossen sich andere Fakultäten an. Zwei Tage später hatten sich die Proteste auf die Universitäten in Durrës, Korça und Elbasan ausgeweitet, bis zum Ende der Woche kamen auch Studierende in den südalbanischen Städten Vlorë und Gjirokastra dazu. Die Protestierenden nehmen immer wieder auf Ramas Rede von den »Versagern« Bezug. So hängten Studierende der Medizinischen Fakultät in Tirana ihre weißen Kittel an den Zaun des Bildungsministeriums mit einem Schild: »In Deutschland gesuchte Versager«, womit sie  auf die Migration medizinischen Fachpersonals in die BRD anspielen.

Die Größe der Proteste und ihre schnelle Ausdehnung über das ganze Land zeigen, dass die Erhöhung der Prüfungsgebühren und Ramas Beleidigung nur der Auslöser waren. Tatsächlich sind die Lebens- und Studienbedingungen für die Mehrheit der albanischen Studierenden nur schwer erträglich. In öffentlichen Universitäten sitzen sie häufig in Räumen mit kaputten Fenstern und zerschlissenem Mobiliar. Viel besser sieht es in den Wohnheimen auch nicht aus. Dort teilen sich drei Studierende ein feuchtes Zimmer, sind die Sanitäranlagen unzureichend und oft defekt. Bibliotheken sind schlecht ausgestattet, auch sonst mangelt es an sozialen und kulturellen Angeboten. Die Qualität der Lehre ist oft schlecht, viele Dozentinnen und Dozenten sind unterqualifiziert oder haben ihre akademischen Titel durch Betrug erlangt. Die in Albanien allgegenwärtige ­Korruption findet sich in spezifischen Formen auch an den Universitäten. ­Üblicherweise sind Studierende gezwungen, die überteuerten Bücher ihrer Professoren zu kaufen, um Prüfungen zu bestehen.

Verschärft wurde die Situation durch eine Reform des Hochschulgesetzes 2015. Diese hatte zum Ziel, mehr wirtschaftlichen Wettbewerb ins Hochschulwesen zu bringen, und führte zu einer Erhöhung der Studiengebühren an staatlichen Universitäten. Heutzutage kostet ein Bachelorstudium an ­einer staatlichen Universität 25 000 bis 45 000 Lek – umgerechnet 200 bis 370 Euro – pro Jahr, für einen Master sind 630 bis 940 Euro pro Jahr fällig. Nach Berechnungen der LPU kostet die Lebenshaltung Studierender, die nicht bei ihrer Familie leben, im Jahr etwa 3 250 Euro. In einem Land, in dem der Mindestlohn 170 Euro pro Monat ­beträgt, sind das Summen, die insbesondere Familien von Studierenden, die aus der Provinz zum Studieren in die Hauptstadt kommen, erheblich ­belasten.

Die zentralen Forderungen der Protestierenden lauten deshalb: Rücknahme der Hochschulreform von 2015, Halbierung der Studiengebühren, stärkere Beteiligung der Studierenden an hochschulpolitischen Entscheidungsprozessen und Verbesserung der Lebens­bedingungen in den Wohnheimen.

Offensichtlich überrascht von der Stärke der Demonstrationen gab Rama öffentlich bekannt, dass die Regierung zu einer Rücknahme der jüngsten Gebührenerhöhung bereit sei, und forderte die Studierenden wiederholt zu Dialog und Verhandlungen auf. Doch diese weisen bisher die Einladungen zurück und bestehen darauf, dass zuerst ihre Kernforderungen erfüllt werden. Ebenso lehnen sie jede Beteiligung der Oppositionsparteien an ihren ­Demonstrationen ab. Politische Parteien in Albanien sind klientelistisch orientiert und haben in den vergangenen Jahren soziale Proteste häufig für ihre Machtkämpfe instrumentalisiert. Die Ablehnung politischer Parteien richtet sich zum Teil auch gegen die LPU, die häufig als verantwortlich für die derzeitigen Proteste dargestellt wird. Sie kämpft seit 2014 gegen die Hochschul­reform. Da sie maßgeblich von Aktivistinnen der kleinen linken Gruppe ­Organizata Politike (Politische Organisation, OP) getragen wird, wird sie von einigen Demonstrierenden mit den politischen Parteien gleichgesetzt.

In ihrem Aufbegehren gegen Armut, Plünderungsökonomie, korruptes ­Parteiensystem und autoritäre Regierungspolitik artikulieren die Studierenden eine Wut, die von großen Teilen der albanischen Bevölkerung geteilt wird und die in letzter Zeit verschiedene Gruppen zu Demonstrationen und Kundgebungen motiviert hat. Dass es jetzt gerade die Studierenden sind, die Proteste dieser Größe initiieren, an denen sich landesweit Zehntausende beteiligen, erklärt die Politikwissenschaftlerin Alida Karakushi, die sich in Tirana gegen die Privatisierung des städtischen Raums und die immer autoritärere Politik der albanischen Regierung engagiert, der Jungle World so: »In einem Land, in dem es aufgrund der informell geprägten Wirtschaft keine Gewerkschaften gibt, in einer Gesellschaft, die durch die von den politischen Parteien geschaffenen Spaltungs­mechanismen und die aus der Zeit der kommunistischen Diktatur ererbte Skepsis atomisiert ist, sind die Studierenden die einzigen, die zu solchen Massenaktionen in der Lage sind.« Und die Massenbasis der Proteste scheint immer noch zu wachsen. Am Montag meldeten albanische Medien, dass die Studierenden der Akademia e Sigurisë, der albanischen Polizeihochschule, sich an den Protesten beteiligen wollen.