Judith Braband, Bürgerrechtlerin, und Renate Hürtgen, Historikerin, im Gespräch über die Rolle von Frauen in der DDR-Opposition

»Ich will nach wie vor eine Revolution«

Interview Von Anna Stiede

Renate Hürtgen war 1989 Mitbegründerin der Initiative für Unabhängige Gewerkschaften (IUG). Heiner Müller verlas den von ihr verfassten Aufruf während der vom DDR-Fernsehen über­tragenen Demonstration auf dem Berliner Alexanderplatz am 4. November 1989. Die Bürgerrechtlerin Judith Braband war seit 1989 Mitglied des Unabhängigen Frauenverbandes (UFV) und erste Geschäftsführerin der Vereinigten Linken (VL). Mit der »Jungle World« sprachen beide über feministische ­Perspektiven auf die Wendezeit, Westfrauen und die ­Bedeutung von Lohnarbeit für Emanzipation.

Was bedeutet der Herbst 1989 für dich?
Renate Hürtgen (RH): Politisch unkorrekt gesagt: großartige Stimmung, Aufbruch und das Gefühl, da passiert etwas. Ein Gefühl, das alle Leute sich auf einmal anschauen in der U-Bahn, vor allem wenn sie gemeinsam zur Demo fahren, und Aufregung, was man alles machen könnte. Und persönlich: Ich bin Wissenschaftlerin, aber ich hatte zu diesem Zeitpunkt nie etwas ver­öffentlicht, ich hatte nie vor irgendwelchen Menschen gesprochen, und dann so ein Erlebnis, auf einmal plötzlich auf eine Bühne gehen zu können und zu sagen: »Liebe Berlinerinnen und Berliner, hier ist was ganz Wichtiges passiert und ich lade euch ein … « Das war ein durch und durch positives Gefühl, und zwar nicht nur am Anfang. Dieses Gefühl, dass man etwas machen muss, das hat sich sehr lange gehalten, eigentlich bis in den Westen hinein.

Und für dich?
Judith Braband (JB): Ich habe auch nie ­Reden gehalten, doch plötzlich war es nötig und ich konnte es auch. Ich war voller Zuversicht. Später kam dann die Wut hinzu und dann war ich immer besser beim Reden. Aber am Anfang dachte ich: Wow, jetzt passiert endlich das, wofür wir eigentlich schon zehn Jahre oder länger kämpfen und worüber wir immer nachgedacht haben. Das hat eine unglaubliche Euphorie hervorgerufen. Auch, dass wir im Grunde nicht wussten, was wir zuerst machen sollten. So als gäbe es plötzlich 100 000 Möglichkeiten und du müsstest alles irgendwie mit anschieben. Politisch wollte ich aus diesem Staat das machen, was wir uns immer gewünscht hatten: Basisdemokratie einführen, Gleichstellung verwirklichen und so was alles.

»Frauen in der DDR hatten vor 1989 nichts mit Gleichstellung oder gar Feminismus zu tun. Es ging ihnen um Friedensfragen oder ökologische Fragen. Das Thema Gleichberechtigung hatte nicht wirklich einen großen Stellenwert, auch nicht in der Opposition.«
Renate Hürtgen

Machte es für euch einen Unterschied, als Frauen in der Oppositionsbewegung aktiv zu sein?
RH: Du meinst, ob ich die besondere Rolle der Frau darin reflektiert habe? Ich überhaupt nicht. Mir ist allerdings aufgefallen, dass die Frauen in der Opposition keine besonders wichtige Rolle spielten. Bei uns im Friedrichs­felder Friedenskreis wurde an uns herangetragen, ob wir nicht ein paar Daten zusammentragen können. Wir sollten Hilfsdienste leisten. Aber die großen Reden hielten die Männer, bei denen auch die wichtigen Informationen ankamen. Insofern hätte mir schon auffallen können, dass es keine Gleichberechtigung gab. Ist es aber nicht.
JB: Mir ist es relativ früh aufgefallen. Ich war seit Ende der siebziger Jahre mit dieser Problematik beschäftigt und fand, dass wir daran arbeiten müssen, dass wir gleicher werden. Ein Aha-Erlebnis gab es für mich im November 1989 bei der Gründung der Initiative Vereinigte Linke (VL). Es ging dort um die Frage, ob die Frauen auch befreit seien, wenn die arbeitenden Menschen befreit sind. Eine Behauptung, die die Linke immer so vor sich hergetragen hat, die linken Männer sag ich mal. Das war auf der Gründungsversammlung der VL tatsächlich ein Thema.

In der DDR gabe es an vielen Stellen mehr formale Gleichberechtigung als in der BRD. Warum kam es ­dennoch seit Beginn der achtziger ­Jahren zur Gründung von Frauengruppen?
JB:
Weil Gleichberechtigung noch lange nicht heißt, wirklich gleichgestellt zu sein. Natürlich waren in den DDR-Chefetagen ein paar mehr Frauen als heute oder damals im Westen. Aber insgesamt war die Gesellschaft nach wie vor patriarchalisch und kleinbürgerlich. Diese Gleichberechtigungsparagraphen waren eine gute Grundlage und das wussten wir auch – aber du musst sie auch mit Leben füllen. Die Frauen hatten in der Regel eher klassische Frauenberufe, die auch immer schlechter bezahlt wurden.

Auch zu DDR-Zeiten wurden die Frauen schlechter bezahlt?
RH:
Frauen haben in den schlechteren Lohngruppen gearbeitet. Es gab in der DDR 25 Prozent Pay Gap zwischen Männern und Frauen, genau wie heute. Was aber in der Regel nicht daran lag, dass Männer- und Frauenarbeitsplätze, die gleich waren, ungleich bezahlt wurden. Das gab es sicher auch, aber das war die Ausnahme. Es lag daran, dass es sogenannte Mädchenberufe gab und dass viel mehr Leitungspersonal von Männern gestellt wurde.

Gaben diese Themen auch den Ausschlag für die Gründung des unabhängigen Frauenverbandes Anfang Dezember 1989 in der Berliner Volksbühne?
JB:
Es gab überall in der DDR Frauengruppen. Die wollten ein Netzwerk bilden oder einen gemeinsamen Dachverband gründen, um schlagkräftiger zu sein. Wir wollten einfach vertreten sein. Eine kleines Frauenzentrum hat nicht so eine bedeutende Stimme wie ein Verband mit 1 000 Mitgliedern. Und der Frauenverband, den es gab, der Demokratische Frauenbund Deutschlands, war diskreditiert – der war das Sprachrohr der Partei.
RH: Ich glaube, dass die Frauen in der DDR vor 1989 nichts mit Gleichstellung oder gar Feminismus zu tun hatten. Es ging ihnen um Friedensfragen oder ökologische Fragen. Das Thema Gleichberechtigung hatte nicht wirklich einen großen Stellenwert, auch nicht in der Opposition. Es gab eine Gruppe, die sich mit Gewalt in der Ehe befasste. Aber das war marginal. In meinen Oppositionskreisen war Gleichberechtigung nie ein Thema.
JB: In meinen Kreisen war es das schon. Ich glaube nicht, dass es richtig ist, zu sagen, es ging nicht um Frauenthemen. Die Teilnehmerinnen von »Frauen für den Frieden« hatten so viele Möglichkeiten, in anderen Gruppen mitzuarbeiten. Warum sollten sie eine Frauengruppe für den Frieden gründen? Weil Frauen einen besonderen Grund hatten, einen besonderen Zugang zu bestimmten Fragen, und das hat etwas mit Gleichstellung – nicht Gleichberechtigung – zu tun.
RH: Die Haltung, die ich heute dazu habe, ist in gemeinsamen Gesprächen entstanden. Ich habe festgestellt, dass zum Beispiel nicht darüber gesprochen wurde, dass wir als Frauen alle Gewalt­erfahrungen hatten. Der Rückblick auf die Opposition zeigt schon, dass diese erstaunlich patriarchal war. Trotz Achtundsechzigerer –Impetus. Ich will da gar nicht moralisieren. Dieses Konspirative verleitet dazu, dass die Männer ihre Strukturen bilden und die Frauen dürfen dann Zuarbeit leisten. Was war das eigentlich für eine Opposition, die so links war, aber gleichzeitig patriarchalisch, und wo die Frauen das auch nicht thematisiert haben? Stattdessen haben sie über Bildung und Kinder­erziehung diskutiert.
JB: Ich habe mich seit 1979 mit feministischen Fragen beschäftigt. Auch historisch. Die Politik der russischen Revolutionärin Alexandra Kollontai war zum Beispiel ein wichtiges Thema, aber das ist bei uns beiden unterschiedlich.
RH: Ich habe mich auch damit beschäftigt. Ich habe alternativ gelebt, aber um mich herum war es anders. Um mich herum herrschte Puritanismus.

 

Man sagt Frauen aus dem Osten oft nach, unabhängiger zu sein als Frauen aus dem Westen. Kann das sein?
JB:
Ja klar, ich glaube schon. Das ist der Vorteil der Gesetze, der verordneten Gleichberechtigung. Die Quote der arbeitenden Frauen war hoch, deren Selbstbewusstsein ist gewachsen. Wenn du dein eigenes Geld verdienst und nicht davon abhängig bist, dass der Kerl das Geld nach Hause bringt, hast du einen eigenen Wert in der Gesellschaft. Das ist ein Ergebnis der DDR-Politik gewesen. Diese hohe Beschäftigtenquote bei Frauen führt dazu, dass Frauen selbstständiger und selbstbewusster waren.
RH: Ganz bestimmt hat die Erwerbsarbeit einen bestimmten Frauentyp hervorgebracht. Ich hab später auch Arbeiterehepaare aus dem Ruhrgebiet kennengelernt. Da waren die Frauen genauso selbstbewusst. Diese proletarische Lebensweise war in der DDR am meisten verbreitet. Der Hausfrauentypus war einfach nicht das Leitbild. Das kann man aber nicht gleichsetzen mit emanzipatorischem Verhalten. Frauen gehörten in der DDR nicht pauschal zu den besonders kritischen, oppositionellen Menschen. Frauen haben viel weniger im Betrieb mit Streiks und Widerstand gedroht. Schwierigkeiten zu bewältigen, das war ihr Stolz und machte ihr Selbstbewusstsein aus: »Ich hab’s gepackt, obwohl alles scheiße war«. Daraus ist auch etwas entstanden, das man nicht idealisieren sollte. Am Anfang der ­demokratischen Revolution waren die Frauen nicht mehrheitlich an den Protesten beteiligt – auch weil es gefährlich war. Aber als es darum ging, im Betrieb die Gewerkschaftsstrukturen aufzubauen und sich wählen zu lassen, wurden viele aktiv. Als die Frauen eine konkrete Aufgabe hatten, erfüllten sie die auch. Sehr viele von ihnen sind dann nach westlichen Maßstäben zu Betriebsratsvorsitzenden gewählt worden. Anfang der neunziger Jahre gab es aber recht rasch eine Gegen­entwicklung und sie haben sie sich wieder rausdrängen lassen. Bei den nächsten Wahlen sah es dann in den Betrieben wieder fast genauso aus wie in Westdeutschland: die Verteilung, die Hierarchien, wer da im Betriebsrat saß, wer Funktionen hatte. Trotzdem hatte es Einfluss auf die Gewerkschaften, dass da plötzlich so viele Frauen aktiv wurden.

»Der politische Druck, dem wir in der DDR ausgesetzt waren, war natürlich immens. Aber du konntest ihm auch entgehen. Du konntest Kleingärtner werden oder Angler oder Indianer. Du musstest dich nicht politisch betätigen. Wenn du das tatest, musstest du aber mit Konsequenzen rechnen. Im Kapitalismus aber kannst du dem enormen, existentiellen Druck nicht entgehen.«
Judith Braband

Emanzipation sollte also nicht idealisiert werden, weil sie auch das männliche Leistungsprinzip beinhaltet?
RH:
Natürlich, und das betrifft uns beide ja auch. Ich habe das ganz tief ver­innerlicht: Leistung, Leistung, Leistung, und noch besser sein als die Männer.
JB: Das finde ich ein ganz zentrales Thema in der Auseinandersetzung über die Gleichstellung der Geschlechter. Denn es ändert alles, wenn du Leistung neu definierst. Oder wenn der Stellenwert, den eine bestimmte Leistung hat, neu definiert wird. Dann ändert das letztlich die Gesellschaft.

Hattet ihr im Herbst 1989 auch schon Kontakt zu Frauen aus dem Westen? Wie waren eure Erfahrungen mit denen?
JB:
Chic, charmant und dauerhaft.

Was heißt das?
JB:
Das ist der Titel einer alternativen Modeschau aus der DDR. Ich hatte schon seit Mitte der siebziger Jahre Freundinnen aus dem Westen. Im Laufe der Jahre fiel mir auf, dass sie immer irgendwie gut drauf waren. Wenn wir uns besser kannten, dann habe ich auch von ihren Sorgen gehört, aber eher nicht von Geldsorgen. Und zur Wendezeit habe ich dann verstanden, was das bedeutet. Ich habe verstanden, dass sie tatsächlich charmant und dauerhaft sein mussten – immer präsent und gut drauf und leistungsfähig.
RH: »Wie geht es dir?« – »Suuuper!«
JB: Ja genau, scheiße. »Leckeres Essen« – ich hasse diese Wörter. Viele Dinge verstehst du ja erst im Nachhinein. Der politische Druck, dem wir in der DDR ausgesetzt waren, war natürlich immens. Aber du konntest ihm auch entgehen. Du konntest Kleingärtner werden oder Angler oder Indianer. Du musstest dich nicht politisch betätigen. Wenn du das tatest, musstest du aber mit Konsequenzen rechnen. Im Kapitalismus aber kannst du dem enormen, existentiellen Druck nicht entgehen. Es sei denn, du hast irgendwelche Millionäre in der Familie.
RH: Eines meiner ersten Erlebnisse mit Westfrauen war in der Hans-BöcklerStiftung. Ich musste ein Projekt über »Wendefrauen« verteidigen. Da bin ich in einer krassen Weise von den Gutachterinnen angefahren worden, weil ich die Texte nicht gegendert hatte. Wenn ich nicht so viel Selbstbewusstsein gehabt hätte, wäre ich sicher kleinlaut davongegangen. Sie sind damals sehr arrogant und auch dumm mit mir umgegangen.
JB: Eigentlich ist mir in der letzten Zeit erst die Idee gekommen, dass die Westfrauen ja aus einer Opferposition heraus gehandelt haben. Sie haben immer gekämpft. Wir waren zwar auch Opfer der DDR-Verhältnisse, aber wir haben für nichts gekämpft, wir haben alles geschenkt bekommen. All die sozialen Maßnahmen, die Kinderbetreuung und -versorgung, legale Schwangerschaftsabbrüche und so weiter.
RH: Der Feminismus war in der DDR deswegen vielleicht auch ein indivi­dueller und kein kollektiver. Man hat sich emanzipatorische Errungenschaften oder das Verhältnis zum Partner individuell erkämpft. Es gab aber keine Bewegung, und das ist ein großer Unterschied zum Westen. Die DDR-Frauen haben sich nicht als Opfer wahrgenommen, das ist richtig. Aber das heißt ja nur, dass sie bestimmte Dinge nicht begriffen hatten.

Könnt ihr von euren Erfahrungen heute noch zehren?
JB:
Ich zehre davon, nicht weil ich eine Vision daran hänge, sondern weil ich praktische Erfahrungen damit verbinde. Auch weil ich heute weiß, was wir falsch gemacht haben. Ich will nach wie vor eine Revolution. Auch wenn ich noch nicht weiß, wie. Die Macht lag damals auf der Straße und wir haben sie nicht aufgehoben. Und auch nicht neu definiert. Das erste, was fünf von sechs Oppositionsgruppen gemacht haben, war, in die Regierung von Hans Modrow einzutreten und Minister zu stellen, anstatt die Regierung abzusetzen.