Muslime in Nordgriechenland müssen sich einem Urteil des EGMR zufolge zivilgerichtlich nicht mehr der Sharia unterwerfen

Urteil gegen Paralleljustiz

Im nordostgriechischen Westthrakien unterliegt die muslimische Minderheit zivilrechtlich der Sharia. Dagegen klagte eine Muslima. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat nun die zwangsweise Anwendung der Sharia bei innerfamiliären Angelegen­heiten als Verstoß gegen EU-Recht verurteilt.

Es ist ein Schritt nach vorn. Mit ihrem Urteil vom 19. Dezember 2018 hat die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) rechtskräftig entschieden, dass die zwangsweise Anwendung des islamischen Rechts (Sharia) bei innerfami­liären Angelegenheiten der muslimischen Minderheit in Griechenland ­gegen EU-Recht verstößt. Der EGMR verurteilte das Land einstimmig wegen der Verletzung des Diskriminierungsverbots.

Griechenlands Bevölkerung ist offiziell zu 98 Prozent christlich-orthodox. In der nordostgriechischen Region Westthrakien untersteht die muslimische Minderheit jedoch seit 1923 zivilrechtlich der Sharia. Unterschiedlichen statistischen Erhebungen zufolge ­handelt es sich dabei um 100 000 bis 140 000 Bürgerinnen und Bürger, etwa ein Prozent der griechischen Bevölkerung. Vor allem für muslimische Frauen in der ländlich geprägten Region an den Grenzen zu Bulgarien und zur Türkei ist das hart. Obwohl sie Griechinnen und EU-Bürgerinnen sind, bestimmt oft die Sharia über ihr Familien­leben und ihre sozialen Kontakte.

Im Februar 2014 hat Chatitze Molla Sali, eine griechische Staatsbürgerin muslimischen Glaubens, vor dem EGMR in Straßburg Klage eingereicht. Ihr 2008 verstorbener Mann hatte sie in seinem Testament als Alleinerbin ein­gesetzt. Die islamische Gemeinde aber wollte dies, den Traditionen der Sharia gemäß, nicht anerkennen und sprach das Erbe stattdessen der Familie des Ehegatten zu. Während die unteren Instanzen der griechischen Zivilgerichte der Klägerin recht gaben, verneinte der Areopag, der Oberste Gerichtshof, die Gültigkeit des Testaments und verwies die Klägerin als Muslima Westthrakiens an den Mufti ihrer Gemeinde, der als islamischer Rechtsgelehrter auf ­Basis der Sharia entscheiden solle. Deswegen verlor sie am Ende der juristischen Auseinandersetzung 75 Prozent des Erbes.

Salis Klage vor dem EGMR wurde am 6. Dezember 2017 verhandelt. Im nun veröffentlichten Urteil wertet das Gericht die Anwendung islamischen Rechts als »ungerechtfertigte Diskriminierung«. Wäre der Verstorbene nicht Mitglied der muslimischen Gemeinschaft gewesen, hätte seine Frau das gesamte Vermögen geerbt. Der EGMR merkt in der Begründung an, dass verschiedene internationale Organisationen ihre Besorgnis hinsichtlich der Anwendung islamischen anstelle staatlichen Rechts auf die muslimische Minderheit in Griechenland geäußert hätten, da damit »Diskriminierungen von Frauen und Kindern« einhergingen. Der Menschenrechtsbeauftragte des Europarats etwa habe erklärt, dass »die Anwendung islamischen Rechts in familien- und erbrechtlichen Streit­fragen mit den internationalen menschenrechtlichen Verpflichtungen Griechenlands nicht in Einklang zu bringen« sei. Positiv bewerteten die Richter, dass die griechische Regierung Anfang 2018 die Regelungen zur Anwendung islamischen Rechts geändert habe. Die Anrufung eines Mufti bei Eheschließungen, Scheidungen und Erbangelegen­heiten ist seither nur dann möglich, wenn alle Beteiligten dem zustimmen.

In Erwartung der sicheren Verurteilung durch den EGMR hatte Ministerpräsident Alexis Tsipras kurz vor dem 6. Dezember 2017 die »schrittweise Abschaffung« des anachronistischen ­Gesetzes angekündigt. Das kurz darauf vom für Religionsfragen zuständigen Bildungsminister Konstantinos Gavrou­glou (Syriza) vorgestellte und mittlerweile verabschiedete Gesetz bringt folglich keine vollständige Abschaffung der Sharia. »Wir respektieren die Rechte der Minderheit«, betonte Gavrou­glou im staatlichen Fernsehsender ERT und fügte hinzu, es handele sich um »eine zutiefst demokratische Reform«. Unter dem Vorwand, »unterschiedliche religiöse und kulturelle Identitäten« zu wahren, soll muslimischen Frauen weiterhin das für alle Griechinnen geltende Recht vorenthalten werden. Nur Muslimas, die es wagen, sich dem Druck ihrer dörflich-konservativen Gemeinden zu widersetzen, kommen künftig in den Genuss gleicher Rechte, da beide Streitparteien zustimmen müssen, dass ein muslimischer Geistlicher nach islamischem Recht entscheidet, ob beispielsweise eine Scheidung rechtmäßig ist, wer wie viel Unterhalt bekommt, wer das Sorgerecht für die Kinder erhält oder ob und wie das Vermögen eines Verstorbenen vererbt werden soll.

»Es ist Zeit, die bequeme Duldung der Sharia zu beenden«, hatte die genossenschaftlich betriebene Athener Tageszeitung Efimerída ton Syntaktón ihren zweiseitigen Themenschwerpunkt Ende 2017 betitelt. Juristen und Universitätsprofessoren stellten darin detailliert dar, dass muslimische Frauen in Griechenland keineswegs über die gleichen Rechte verfügen.

Ebenfalls zu Wort kam eine 25jährige Muslima, die in Thrakien aufgewachsen ist und heutzutage in Athen studiert. Bezeichnenderweise wollte sie »aus leicht nachvollziehbaren Gründen« ano­nym bleiben. Sie betonte, dass ihre ­Generation vieles verändere, sich den strengen Traditionen mehr und mehr entziehe und dabei juristische Unterstützung gut gebrauchen könne. »Wenn ein Gericht entscheidet, dass du, wenn du nach islamischen Riten geheiratet hast, auch dem islamischen Recht unterliegst, kannst du nicht mehr viel tun. Es ist, als würdet ihr Christen vor Gericht hören: Da ihr kirchlich geheiratet habt, lasst den Erzbischof über eure familiären Probleme entscheiden. Was natürlich problematisch ist, wenn ein fanatisch gläubiger Geistlicher ohne juristisches Wissen, mit patriarchalischen Ansichten, über solche Themen entscheidet.«

Die Frau bestätigte, dass es in der muslimischen Minderheit inzwischen heftige Auseinandersetzungen über das Thema gibt. »Es gibt viele Muslime, die sehr gläubig sind und die Sharia als etwas Schönes, Positives betrachten und den Mufti als hohe Autorität sehen.« Sie legte Wert auf die Feststellung, dass die Sharia ein Instrument sei, die Bevölkerung in der wirtschaftlich und kulturell vernachlässigten Region, die über schlechten Ausbildungsmöglichkeiten und eine marode Gesundheitsversorgung verfügt, unter Kontrolle zu halten. »Die Türkei als angrenzendes islamisches Land hat die Sharia 1923 abgeschafft. Dass dies in Griechenland bis heute nicht geschehen ist, gibt uns zu denken. Es war dem Staat wohl sehr recht, die konservativsten Teile der Minderheit auf seine Seite zu ziehen und so die muslimische Bevölkerung unter einer religiösen Identität ruhigzustellen.«

Kritik an der Regierungskoalition aus Syriza und Anel und an dem neuen Gesetz äußerte nach dem Urteil des EGMR der Universitätsprofessor und Jurist Giannis Ktistakis; er war früher Berater des konservativen Oppositionsführers Kiriakos Mitsotakis, hat die­se Tätigkeit aber wegen der radikalen Rechtswende von dessen Partei Nea ­Dimokratia beendet. Im Radiosender Skai behauptete Ktistakis am 20. Dezember, das neue Gesetz werde bisher gar nicht angewendet. »Wenn der EGMR zu der Ansicht gelangt wäre, das neue Gesetz verbessere die Situation, hätte es Griechenland nicht einstimmig mit 17 zu null Stimmen verurteilt.«

Serif, ein seit drei Jahrzehnten in Thessaloniki lebender Aktivist der anarchistischen Bewegung, hält das Gesetz für eine Mogelpackung. »Solange der griechische Staat Menschen über ihren Pass und ihre Religion definiert, bleibt viel zu tun«, betont er. »Obwohl ich Atheist bin, werde ich der muslimischen Minderheit zugerechnet. Von meinen Genossinnen und Genossen ist niemand religiös, trotzdem gelten alle als christlich-orthodox. Es ist absurd.«