In Israel wurden die Mizrahim, Juden aus Nordafrika und dem Nahen Osten, lange benachteiligt

Die anderen Araber

Reportage Von Miriam Dagan

In Israel waren Mizrahim, Juden aus Nordafrika und dem Nahen Osten, lange Zeit gegenüber den aus Europa stammenden Juden ökonomisch und sozial benachteiligt. Mittlerweile sind sie nicht nur in der Politik stärker vertreten, sondern auch kulturell im Mainstream angekommen.

»Als ich in die Knesset kam, war das Erste, was ich gesagt habe: Ich bin eine Frau, ich bin Mizrahi und ich bin stolz«, erzählt Nurit Koren. Sie ist Abgeordnete im israelischen Parlament. 1960 als Tochter jemenitischer Eltern in Jerusalem geboren, gehört sie zu einer neuen Generation der sogenannten Mizrahim – Hebräisch für »Orientalen« oder »die aus dem Osten kommenden« –, Jüdinnen und Juden aus Nordafrika, dem Libanon, dem Irak, Syrien, dem Jemen, der Türkei, und dem Iran. Sie machen heutzutage mehr als die Hälfte der jüdischen Bevölkerung Israels aus und zeigen ein neues Selbstbewusstsein.

Zwischen 1948 und den frühen siebziger Jahren wanderten ungefähr 600 000 Jüdinnen und Juden aus islamischen Ländern nach Israel ein. Viele von ihnen wurden aus ihren Herkunftsländern vertrieben und mussten ihr gesamtes Hab und Gut zurücklassen. Auch Korens Familie wanderte 1948, im Jahr der Staatsgründung Israels, aus dem Jemen ein. Die Politikerin wuchs in einer Arbeiterfamilie mit fünf Kindern auf, ihr Vater war Lastwagen- und Taxifahrer. Sie ging auf eine orthodoxe Schule, machte keinen Abschluss, heiratete mit 17 Jahren und wurde Mutter von vier Kindern. Erst mit 38 Jahren schrieb sie sich an der Universität ein und holte einen Abschluss in Jura nach. 2015 wurde sie als Abgeordnete für die nationalkonservative Partei Likud ins Parlament gewählt. Sie setzt sich unter anderem für die Ernennung von Richtern mizrahischer Herkunft ein.

»In den Geschichtsbüchern steht nicht geschrieben, dass die Mizrahim den Staat mit aufgebaut haben.«
Nurit Koren, Abgeordnete der Partei Likud

Das ist immer noch notwendig, denn jahrzehntelang wurden die Juden aus dem Nahen Osten und Nordafrika in Israel benachteiligt. Die Geschichtsschreibung war eurozentrisch und die kulturelle und politische Führungsschicht in Israel dominierten mehrheitlich Aschkenasim, europäische Juden. In den ersten Jahrzehnten nach der Staatsgründung verhehlten israelische Behörden ihre Abneigung gegen die »orientalischen« Einwanderer kaum. Nationale Einheit war die politische Leitlinie und die Mizrahim sollten sich schnell integrieren, an die Modernisierung gewöhnen und Hebräisch lernen. Oft wurden sie in die Entwicklungsstädte der Peripherie geschickt. »Mein Großvater war im Jemen sehr reich,« erzählt Koren im Interview, »aber in Israel war er auf einmal nichts mehr wert«.

Zu ihrer Kindheit und Jugend hatte der junge Staat die ersten Zerreißproben bereits erfolgreich überstanden. In den sechziger und siebziger Jahren ent­wickelte sich bei den Mizrahim, die in höheren gesellschaftlichen Schichten weiterhin völlig unterrepräsentiert waren, langsam ein Bewusstsein für ihre Lage. Das kulminierte 1977 im Sieg der Likud-Partei, die sich direkt an diese Wählerschaft wandte und die mit den aschkenasischen Führungsschichten assoziierte, linke Arbeitspartei Avoda erstmals in der Geschichte des Landes als Regierungspartei ablöste.

 

Mizrahim in der Schule

Doch die gesellschaftliche Kluft war noch lange nicht überwunden. Die Kinder der Mizrahim, wie Koren, mussten erst erwachsen werden, bevor sich ein Wandel bemerkbar machte. »Im Geschichtsunterricht habe ich über die Pioniere gelernt, die Israel aufgebaut haben. Dann sah ich eines Tages einen Fernsehfilm über die Diskriminierung jemenitischer Einwanderer«, erinnert sie sich, »und ich fragte mich, warum wir nicht auch darüber in der Schule etwas lernten. In den Geschichtsbüchern steht nicht geschrieben, dass die Mizrahim den Staat mit aufgebaut ­haben – die Straßen, Bahngleise und Städte etwa. Das muss endlich anerkannt werden.«

Mit der neuen Generation wächst in Israel die Wertschätzung des vielfältigen Erbes der Mizrahim, die aus teils jahrhundertealten jüdischen Gemeinden in den Herkunftsländern kommen. Im Januar 2017 fasste das Erziehungsministerium einen bedeutenden Entschluss: Geschichte, Kultur, und Literatur der Mizrahim sollten Teil des schulischen Pflichtcurriculums werden. Langsam wird die umfassende Reform verwirklicht. Inzwischen lernen Schülerinnen und Schüler in Israel über die Geschichte nordafrikanischer Juden nach ihrer Vertreibung aus Spanien im 15. Jahrhundert; über die zionistische Bewegung in arabischen Ländern; über den Aufstand von Mizrahim in Haifa im Jahr 1959, der sich gegen Diskriminierung richtete und zum Symbol der Kluft zwischen Aschkenasim und Mizrahim wurde; und sie lesen klassische und zeitgenössische Werke von Mizrahim.

»Das Schulsystem lehrt über das Wien von Theodor Herzl und das Polen von David Ben Gurion. Aber den Mizrahim wurde immer gesagt: Bei euch, da gibt es nichts an Kultur!«
Mati Shemoelof, Dichter

2015 hat zum ersten Mal ein Mizrahi den Israel-Preis für Literatur, die höchste Auszeichnung des Staates, bekommen: der in Algerien geborene Dichter Erez Biton. Es werden Filme und Serien von und über Mizrahim produziert, im Fernsehen gezeigt, und diskutiert. Die 2014 und 2015 produzierte Comedy-Serie »Zaguri Imperia« über eine marokkanisch-jüdische Familie wurde zu einer der erfolgreichsten israelischen Fernsehserien aller Zeiten.

Auch die Herausbildung einer neuen Mizrahi-Mittelschicht hat zu diesen Entwicklungen beigetragen. Der Finanzminister Moshe Kahlon spricht mit seiner auf Senkung der Lebenshaltungskosten ausgerichteten, 2014 gegrün­deten Partei Kulanu die Mizrahim gezielt an. Kahlons Eltern sind aus Libyen eingewandert, seine Muttersprachen sind Hebräisch und Arabisch. Mit der Wahl des marokkanischstämmigen Avraham Gabbay zu ihrem Vorsitzenden hat auch die Arbeitspartei Avoda versucht, die Stimmen der Mizrahim für sich zu gewinnen. Dass sie die Bedürfnisse dieser Bevölkerungsgruppe jahrzehntelang ignoriert hat, gilt als eines ihrer größten Versäumnisse.

Von Kube bis Handkuss

Auch eine Dichtergruppe namens »Ars Poetica« hat den Mizrahim in den ­vergangenen Jahren eine Stimme gegeben. Sie hat es zu landesweiter Bekanntheit gebracht, in israelischen Medien ist sogar von einer »Revolution der Mizrahim« die Rede. Der nach Berlin ausgewanderte Dichter Mati Shemoelof ist einer der Gründer. Als Teil des neuen Bildungsprogramms lesen israelische Schülerinnen und Schüler auch sein Gedicht mit dem Titel »Wieso ich keine israelischen Liebesgedichte schreibe«. Shemoelofs Mutter ist im Irak geboren, seine Großeltern väterlicherseits kamen in den zwanziger Jahren aus Syrien und dem Iran in das damalige britische Mandatsgebiet.

»Meine Großmutter war Bagdaderin. Meine Mutter und Großmutter sprachen beide irakisches Arabisch. Mir haben sie es leider nicht beigebracht, aber ich habe das gelebt. Jeden Freitag gab es Kube bei der Oma. Mein Vater sprach Persisch mit seinem Vater, hat ihm sogar die Hand geküsst – das war ein gängiger Brauch. Ich hatte den ganzen Nahen Osten in meinem Leben: Philosophie, Kultur, Alltagsrituale«, erzählt er.

Shemoelof kämpft als Publizist dafür, dass den Mizrahim mehr Anerkennung zuteil wird. Unter anderem hat er ein Buch über die dritte Generation herausgegeben, »über diejenigen, die keine eigene Erinnerung an arabische Länder haben und in Schulen gegangen sind, in der die Kultur unserer Familien nicht Teil des Lehrplans war. Das Schulsystem lehrt über das Wien von Theodor Herzl und das Polen von David Ben Gurion.

Aber den Mizrahim wurde immer gesagt: Bei euch, da gibt es nichts an Kultur!« Er sehne sich danach, einmal in den Irak, Syrien und den Iran zu reisen, sagt Shemoelof.

So etwas verspürt die pragmatische Realpolitikerin Koren nicht. Sie sei ­natürlich daran interessiert, auf den Spuren ihrer Vorfahren einmal in den Jemen zu reisen. Aber es gebe ja keinen Frieden. Einerseits ist sie stolz auf ihre jüdisch-arabische Herkunft. Andererseits vertritt ihre Partei eine harte Linie gegen Israels Feinde, womit oftmals kulturelle Ablehnung einhergeht.

Insbesondere die bei vielen Künstlerinnen und Künstlern für ihre nationalistische Kulturpolitik berüchtigte Kulturministerin Miri Regev (Likud) personifiziert dieses Phänomen. Die Tochter eines marokkanischen Vaters hat sich die Förderung der Mizrahim zur Aufgabe gemacht – gepaart mit einer Kampfansage an alle Kulturschaffenden, die dem Staat gegenüber nicht loyal genug sind. Shemoelof und viele andere Israelis betrachten das als gefährlich, aber der Publizist glaubt, dass »die Revolution der Mizrahim kommen wird – mit oder ohne Miri Regev«.

 

Traditionell, aber nicht orthodox

Die Mizrahim repräsentierten lange die israelische Unterschicht. Die 1971 gegründeten israelischen Black Panthers warfen zum ersten Mal die »orientalische Frage« in Israel auf. Zur Diskussion um die soziale und kulturelle Anerkennung der arabischen und iranischen Herkunft der Mizrahim und der daraus folgenden Wahrnehmung Israels als »östlich« statt als »westlich« gehörte immer auch die Frage nach der Möglichkeit, kulturelle Verbindungen zu den arabischen Gesellschaften aufzubauen. Aber Kritikerinnen wie die berühmte Soziologin Eva ­Illouz bemängeln, dass eine echte »Revolution« der Mizrahim noch nicht stattgefunden habe, nicht nur, weil sie weiterhin geringere Aufstiegschancen hätten, sondern auch, weil das Potential des kulturellen Selbstverständnisses ­Israels als nahöstliches Land noch lange nicht ausgeschöpft sei.

Solche Versuche gibt es aber. Eine jüngere, 2016 gegründete Bewegung der Mizrahim nennt sich Tor Hazahav, ­Hebräisch für »Das goldene Zeitalter«. Eine ihrer For­derungen ist, die arabische Sprache in israelischen Schulen von der ersten Klasse an als Pflichtfach einzuführen, um auf lange Sicht die Beziehungen zu palästinensischen beziehungsweise arabischen Staatsbürgern in Israel sowie zu den anderen Ländern des Nahen Ostens zu verbessern. »Als ich Tor Hazahav gründete, bekam ich sofort Einladungen von der Palästinensischen Autonomiebehörde und von der Vereinigten Arabischen Liste. Das zeigt, dass auch sie an diesen Verbindungen interessiert sind«, erzählt der Mitgründer Ophir Toubul, dessen Eltern aus Marokko nach Israel kamen. Die Partei Vereinigte Arabische Liste (Ra’am) ist ein Zusammenschluss mehrerer arabischer Parteien und als Teil der Vereinten Liste die drittstärkste Fraktion in der Knesset.

Tor Hazahav habe er mitgegründet, sagt Toubul, weil es im Zionismus eine große Lücke gebe, was die Mizrahim betrifft: die Religion. In der israelischen Gesellschaft herrsche eine oft feind­selige Polarität zwischen Säkularen und Orthodoxen. Aber die Mehrheit der ­Bevölkerung, so Toubul, sei weder das eine noch das andere. Viele Mizrahim sähen sich selber als »traditionell«. Sie hielten sich an jüdische Traditionen, begingen den Sabbat, hätten eine positive Einstellung zur Religion und schätzten die Familie wert. »Sie sind nicht säkular«, sagt Toubul, »aber eben auch nicht streng religiös«.

Europäische Juden waren bei ihrer Ankunft in Israel größtenteils säkularisiert, und sie verlangten von den Miz­rahim, auch so zu werden. Mit der Ausübung von Religion wurde und wird teilweise bis heute ein minderwertiger kultureller Status assoziiert. Die rund 100 Mitglieder von Tor Hazahav möchten genau diejenigen mobilisieren, denen sowohl Tradition als auch Liberalismus und Demokratie wichtig sind.

Auch Toubul repräsentiert die neue Mizrahi-Mittelschicht: »Meine Eltern haben hart gearbeitet, mein Vater war Gabelstaplerfahrer. Sie haben Geld gespart, ein Haus gekauft, meine Ausbildung bezahlt.« Er selbst habe einen Master-Abschluss in Jura. Zum Sabbatmahl singe er mit seiner Familie marokkanische Gebete. »Jahrelang haben sich in Israel viele Menschen für ihre Kultur geschämt. Aber an ihren Traditionen haben sie trotzdem festgehalten«, sagt er. Der Wandel habe plötzlich eingesetzt und sei innerhalb der vergangenen zehn Jahre immer deutlicher geworden.

 

Musik als Brücke

Nirgends ist das deutlicher als in der Musik. Orientalische Sounds, die in ­Israel früher von der kulturellen Führungsschicht ignoriert wurden, die nicht im Radio gespielt wurden und deren Musiktexte als kitschig galten, sind mittlerweile zum Mainstream geworden. Die populärsten Musikerinnen und Musiker in Israel sind Mizrahim oder bedienen zumindest das Genre, das den gleichen Namen trägt – von der Königin der Mizrahi-Musik, Sarit Hadad, bis hin zu jüngeren Popstars wie Eden Ben-Zaken und Rockgrößen wie Dudu Tassa.

Dessen Großvater und Großonkel gehörten einst zu den berühmtesten irakischen Musikern. Auf den Bühnen haben arabische Instrumente wie die Oud neben E-Gitarren einen Platz gefunden, und immer öfter wird auch auf Arabisch gesungen.

Wie zum Beispiel bei der Frauenband A-WA, die aus den drei Schwestern Tair, Liron und Tagel Haim besteht. Mit ihrer Hit-Single »Habib Galbi« (»Liebe meines Herzens«) landete 2015 zum allerersten Mal in der Geschichte Israels ein vollständig arabischsprachiges Lied auf dem ersten Platz der Charts. Die Großeltern der Musikerinnen waren mit einem unter dem Decknamen »Operation Fliegender Teppich« bekannten Flugtransport aus dem Jemen nach Israel gekommen. Per Flugzeug wurden zwischen 1949 und 1950 rund 49 000 bedrohte jemenitische Jüdinnen und Juden nach Israel gebracht. Die Eltern zogen in ein Dorf mitten in der Wüste Negev, und dort wuchsen die Geschwister Haim auf. Sie hätten sich zwar nicht für ihre Herkunft geschämt, aber so richtig ausgelebt hätten ihre ­Eltern sie auch nicht, erzählen die Schwestern.

Oft hätten sie die Großeltern in Gedera besucht, einer Stadt mit einer ­großen jemenitischen Gemeinde. »Dort hörten wir die arabische Sprache, im ­Dialekt der jemenitischen Juden, und die Musik, sahen auf Hochzeiten die ­jemenitischen Tänze. Und das hat uns wahnsinnig neugierig gemacht«, so Tair Haim. Ihre Muttersprache ist zwar Hebräisch, dennoch sei Arabisch für sie die erste Wahl bei ihren Songs gewesen: »Wir wollten eine Musik kreieren, die unser Innerstes zum Ausdruck bringt, etwas, das sich wie ein Zuhause anfühlt. Wenn wir unseren Mund aufmachen und auf Arabisch singen, sind wir gefühlt bei unserer Familie, unserem Vater und den Großeltern.«

A-WA bekommen Fanpost aus Marokko, Ägypten und dem Jemen. Bei Aufführungen in Europa und den USA haben sie muslimische Jemenitinnen und Jemeniten kennengelernt, die wegen des Kriegs aus ihrem Herkunftsland geflüchtet sind. Diese persönlichen Verbindungen in den Jemen sind den Geschwistern sehr wichtig. »Wir träumen immer davon, dort zu sein. Die Jemeniten, die wir treffen, können wegen des Kriegs nicht zurück. Sie sagen, dass unsere Musik ihnen Hoffnung gebe.« Noch in der Generation ihrer Eltern hätten viele Mizrahim sich gezwungen gefühlt, ihre »arabische« Herkunft abzulegen. Das habe sich endlich geändert.

Am 23. Januar ist die neue Single von A-WA erschienen – selbstverständlich auf Arabisch.